Für Miroslav Krleža
Seit Tagen bewege ich mich nur noch gebückt, beinah kriechend durch diese Welt, die, wie ich mir so sehnlichst wünsche, nach Erblühendem duften sollte, aber meist nur nach Erbrochenem riecht, und nach den ganzen anderen Abfällen und Resten, Hinterlassenschaften und Exkrementen der langsam, sehr langsam sich verziehenden sibirischen Jahreszeit. Denn was da nun alles wieder zum Vorschein kommt, was da in den Schneebergen und Eismassen der letzten fünf Monate so insgesamt hinein sediert ist und nun dem Tageslicht entgegen taut, dabei wie längst vergessene Fossilien zu Tage tritt, das kann gar nicht anders als stinken, gewaltig und erbarmungslos, den ergrauten Himmeln dieser Stadt entgegen. Und so spült sich im ringsum Tauenden, Tropfenden, Nässenden, Wässernden und Erweichenden die gesamte Kloake des vergangenen Halbjahres nach oben, an die trockene, jeden Geruch aufgreifende Luft, um sogleich in Fäulnis und Verderb zu schwelgen, und was dereinst ein Apfel war oder eine Aubergine, wer auch immer diese und warum hingeworfen hat, erscheint nun, als bräunliches, entformtes Sediment, verfault, vergammelt und unzureichend konserviert, garniert und angerichtet mit zerfaserten Zigarettenstummeln, zerbrochenen Flaschen, zu Brei geschmolzenem Herbstlaub, kaum zersetztem Hundekot oder gleich erfrorenen, vereisten und nun zum Vorschein kommenden Hunden und Katzen, schmutzigen, nassfelligen, zerzausten Geschöpfen der Straße, von denen in jedem Frühjahr unzählige nachwachsen, denn die Überlebenden haben sich zusammengerottet auf Spielplätzen und von unten wärmenden Gullideckeln, die Gestorbenen, nun freigelegten Tiere aber sind die Kadaver eines sibirisch herzlosen, entseelenden Frostes, ihres Grabes beraubt, neben den Gehwegen im Schlamm steckend, Gesicht bzw Schnauze dem grauen Schneeberg noch zugewandt, der Körper noch halb eingefroren, ein kaltes, nässendes, schwarzes Auge aber ist schon zum Vorschein gekommen und starrt kalt und wild zugleich in diese Welt voll nassen Drecks, unbetrauert und umgeben von Mülltüten, Bierdosen und zu braunem Schlamm aufgeweichten Papphülsen von Silvesterböllern.
Im Frühjahr kehren sie zurück, die untoten Seelen, Zombieland, ein Horror für das Empfinden zarter Frühlingssuchender, von Valentinstag bis Ostern mit blühender Hoffnung bewaffnet, doch nimmt man eigentlich hiervon gewohnheitsmäßig keine Notiz, trabt stur und regungslos wie eh und je durch die graubraun überquellenden Straßen und Wege, die sich schon bald erneut vereist haben, mit Schnee dünn überfärbt haben werden, unter reißendem Heulen und mit beißenden Wind, denn die Frühlinge hier dauern ewig und lassen sich durch nichts beschleunigen und können so viele neue Eisstürme über den schmutzigen Landstrich hinweg ziehen lassen, wie Bittgesuche und Gebete in den Kirchen für eine baldige Genesung der Angehörigen von der Virusinfektion auf die Gesichter der Ikonen geseufzt oder dürr glimmende, mild wärmende Kerzen zur Abwendung von Unheil in den Andachtsräumen aufgestellt werden, denn zu einfach soll es den Menschen nicht gemacht sein, alles muss errungen und ertrotzt werden, alles muss klaglos und ohne Zorn ertragen sein, bis die letzte Sehnsucht verdunstet ist. Dann vielleicht wird der eine oder andere Ast freigegeben und darf knospen, weit nach dem Frühlingsfest, nicht vor Ende der Fastenzeit, womöglich noch nicht einmal vor Pfingsten.
Diese Tage haben auch mich taub gemacht, stumm und mürrisch, denn wen würde es nicht schockieren, verstören, enttäuschen, müsste er wie ich sich in dieser überflutenden Welt voll Abfall und Morast bewegen, in Erwartung von so etwas wie Krokussen oder Narzissen. Der Schlamm setzt sich überall fest, auf allen Wegen, in allen Kleidern, in den Handschuhen und Schals, auf den Wangen, in den Augen und Haaren, im Gemüt. Von den Sohlen spritzt er die Hacken hinauf, krallt sich wie giftiger Samen an allen erreichbaren Wirten fest, pflanzt sich fort, trägt sich in die Autos, Marschrutkas, Busse und Straßenbahnen, in die Treppenhäuser und Wohnungen, in alle Räume, auf die Sofas und Betten, frisst sich in die Blicke, in die Worte, in die Sätze, verschlammt die Gedanken. Ich, wie alle anderen auch, lebe im Schlamm, im schwarzen Schleim, im Dreck und Morast, ich schlafe in ihm, ich atme ihn ein und esse ihn, ohne dass ich das verhindern könnte. Jede Berühung ist eine potentielle Verseuchung, eine Ansteckung, eine toxische Gefährdung, jeder Versuch einer Waschung, eines Bades oder einer Reinigung ist eine Verblendung, denn selbstverständlich ist auch das Wasser in den Leitungen befallen und verseucht und ungeeignet, den Morast abzuspülen. Und jede Speise und jeder Teller und jede Gabel und jedes Glas ist ebenso befallen. Ich habe keine andere Wahl, also ergebe ich mich dieser Flut, versuche mich nicht gegen sie zu wehren, denn es ist vergebens, es ist Sibirien und es ist ein wenig hold blickender Frühling unter der kalten Sonne, hier belebt sich nichts, hier wird Totes sichtbar, und dieses schwemmt sich durch die Stadt, bis es von der trockenen Luft aufgesogen und an anderer Stelle wieder ausgespien wird, und ich krieche entlang, ausgezehrt, hungrig, gereizt, trocken hustend, den Blick stur auf die schmutzig vereisten, aufgetauten, erneut vereisten Wege gerichtet, um nichts anderes sehen zu müssen, denn ringsum ist alles des selben Anblicks, Geruchs und Geschmacks. Einige weitere Tage und Wochen lang.