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Architektur/Ästhetik/Irkutsk

Novostrojki

Posted by Sascha Preiß on

Wohnt ihr eigentlich in einem Plattenbau?, fragte mich jemand, den ich nicht kannte und der sehr weit weg wohnte, ungeheuer weit hinter dem Horizont, den ich von hier aus sehen kann, wenn die Fenster nicht vereist sind, aber im Internet spielt das ja nur bedingt eine Rolle.

Vermutlich existierte im Fragenden, da er wusste, dass ich in Russland, und zwar ziemlich tief in der finsteren sibirischen Provinz lebte, ein dunkles Imago vom sowjetischen Sozialismus, wie er einem feurigen, dröhnenden, omnipotenten Dämon gleich mit gewaltiger Energie und energischer Gewalt über das riesige Reich gezogen war, sich von den Kremlmauern erhebend, von der Zentrale sich ausbreitend, begleitet von wütenden Propheten und grimmigen Aposteln in allerlei Uniformen, fliegend bis in die trübsten, schlafendsten, totesten Winkel seines Imperiums, und gen Osten entlang der eisernen Ader TransSib rauschend, kreischend, fauchend, ein giftiger Cherub in eiserner Rüstung, und überall, wo es ihm möglich, notwendig oder zu Versuchszwecken angebracht scheint, errichtet er etwas, monströse Werke seines die Natur unterwerfenden Geistes, Industrie, Staudämme, Kraftwerke, umgeben von ins unwürdige Nichts gerammte Plattenbauten als Wohneinheiten, Batterien zur Versorgung der Anlagen mit menschlicher Arbeitskraft. Diese Funktionsbauten prägen den Anblick der sowjetischen Städte bis heute, eine Epoche des maschinellen Fortschritts, erdacht mit der Euphorie technisch zu errichtenden Heils, eine Chimäre der Jahrhundertwende, ausgeführt nach Stalins lang ersehntem Tod, nachdem dieser als Erzengel des Kommunismus tiefe Spuren ins Land furchte, mit Palästen vom Moskauer Erdreich und bis zum Himmel, mit einem blutigen Netz aus Mülldeponien für die Widerspenstigen im restlichen Land. Chrushchows Paläste jedoch sind glanzlos, zwergenwüchsig, grau, trocken, funktional, rational, hässlich, doch belebten sie das Reich und illustrierten den Ausbruch aus dem Frost ins Tauende, Warme, halbwegs Moderne – eine Vision, die sich in den führenden Köpfen des Riesenreiches fast bis zum Schluss hielt als Wandbild, uralte, verschrumpelnde, schimmelnde, halbblinde, taube Köpfe, deren innere Mechanik sich nur unter Umständen bewegte, vielleicht nur mit der tröstenden Kraft des Wässerchens, doch eigentlich lahmte und oft genug still stand wie der ganze verdammte Fortschritt und die scheiß schlechten Autos auf den miserablen Straßen und die rostigen Turbinen in den schon wieder einstürzenden Hallen und zum Schluss nicht mal mehr die Raketen richtig Bock hatten, irgendwohin aufzubrechen, geschweige denn der wegdämmernde, eisern zugehängte, irgendwann einmal neu gewesene Mensch.

Ob wir in so etwas wohnten, wollte der also hinterm Horizont wissen, aber dennoch war ich der Ansicht, die Frage sei irgendwie freundlich gestellt und ernst gemeint, also sah ich einen Anlass, sie zu beantworten: nein. Nicht mehr. Auch wenn wir die längste Zeit unseres sibirischen Lebens in solchen, heute ganz ohne jede nostalgische Verklärung als Viehsilos, Schlafställen benannten Steinquadern verbrachten. Und davor, so wie es auch vor Geburt der Chrushchowkas gewesen ist, lebten wir in einer sibirischen Hütte, ein Babajaga-Häuschen im Stadtzentrum, hölzern, knorrig, mit krummnasigem Charakter, für uns wie für den gar nicht schrumpeligen Alten, der darin hauste, furchtbar liebenswert, eine zu kurze Zeit brachten wir darin zu, als Gäste, und eines dieser meist ungepflegten Schlösschen verbrennt jeden Tag, denn mit dem Geruch von Märchen und Freiluftkloake ködert man heute niemanden, sie verkörpern das Alte, Überkommene, Matschige, Hygienelose, Vorzivilisatorische, Eingeborene, Höhlenhafte, Eiszeitliche, Verachtenswerte, auch wenn sie, sollten sie gepflegt sein oder gänzlich neu errichtet, Schönheit besitzen. Doch meist stehen sie im Weg.

Und damals, zur Zeit der metallischen Visionen, versprachen die aus platten Einzelteilen und im ganzen Land völlig identisch, humorlos, planmäßig errichteten Bauten gegenüber dem sibirischen Holzgehäuse einen wesentlichen Aufstieg, Ansehen, Komfort, Elektrizität und fließend Wasser. Dabei blieb es. Doch die in ihnen lebenden Familien wuchsen und es wurde nicht mehr gebaut, denn die Räder in den Hirnen der Uralten, die an den Hebeln saßen und kaum mehr sprechen konnten, standen still. Also blieben die Familien zusammengepresst in die immer enger werdenden Platten, die einfach nicht aus ihren Nähten platzen wollten, weil sie zu massiv errichtet waren. Erst ganz spät, nachdem das Riesenreich zusammengebrochen war und es wirklich unübersichtlich wurde ringsum, machte es plopp und wer konnte, rette sich irgendwo hin oder machte sinnlos viel Geld mit irgendwas, wahlweise auch sein Unglück oder was auch immer grad greifbar war, erst dann entstanden neue Häuser, die sprossen so hektisch aus dem Boden wie sonst nur die Blumen und Blätter im sibirischen Frühling, und fraßen dabei die Holzhüttchens weg wie warme Semmeln, als gäbe es in Kürze nichts mehr, und neulich stand ein noch nicht alter Mann in dieser Wohnung in der quasi hundertneunzehnten Etage und schaute ganz nach unten und sagte, in dem Haus, das noch bis vor wenigen Jahren da stand, wo jetzt unser ebenso hochaufragendes Nachbarhaus steht, in dem sei er geboren worden und habe sprechen gelernt, aber er empfinde nichts deswegen, er hat auch kein Foto davon und ist schon ganz gut so, wie es ist.

Und wir haben also in der knappen Zeit unserer Anwesenheit alle Stufen sibirischer Zivilisation des 20. Jahrhunderts durchlaufen und können, wenn es Sommer wird und die Flora der Stadt vor Glück explodiert wie sonst nur Immobilienpreise und Feuerwerk, beruhigt ausziehen und das Weite suchen.

Architektur/Irkutsk/Russland/Statistik

Produktive Arbeit

Posted by Sascha Preiß on

Die Sache mit den Ausländern ist für Inländer so ziemlich überall ein irgendwie unangenehmes Thema. Denn so ein Migrant, ist er erstmal da, schafft, scheints, hauptsächlich Probleme. Deswegen sind in vielen Ländern, z.B. in Deutschland, viele Inländer, die befürchten allerhand vom Ausländer und sogar, dass sich das Inland schließlich abschafft. So in ähnlich auch in Russland. Nur schreiben die Inländer da keine Bücher, sondern sie marschieren, z.B. durch Moskau. Oder sie machen Gesetze, die unerwünschten Umgang mit dem Ausländer zur verbotenen Tat werden lässt. Ich bin auch Ausländer in Russland und verrate jetzt mal was: Das ist eigentlich alles doch nur gut gemeint. Zum Wohle des Volkes. Schöner unsere Städte und Gemeinden. Wirklich!

Wie zum Beispiel diese schöne Broschüre aus St. Petersburg, die den Ausländern, die hier „Arbeitsmigranten“ heißen und sonst eher mit dem aus Deutschland importierten Begriff „Gastarbeiter“ bezeichnet werden, das Leben so leicht wie möglich machen soll, damit sie gute Arbeit leisten, über die sich die Inländer freuen können. Gastarbeiter eben. Daher sind sie auch konsequent als Werkzeug abgebildet. Ist ja auch so, die meisten Ausländer kommen nach Russland, um hier zu arbeiten, meist im Baugewerbe. Werkzeuge eben. Wo ist das Problem? Ist doch nur gut gemeint.

In Irkutsk aber scheint es mit der Qualität der Gastarbeiterarbeit nicht mehr so zum Besten zu stehen. Jedenfalls möchte der Gouverneur des Irkutsker Gebietes nicht mehr ganz so viele Gastarbeiter, sondern ab 2013 nur noch halb so viele. Und die andere Hälfte soll mit den Inländern gefüllt werden, die zur freien Arbeitsverfügung stehen: Studenten. Damit nämlich kann man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: auf ganz legalem Weg wird man die nicht ganz so populären Leute los, und gleichzeitig erhöhe sich nach Ansicht des Gouverneurs die Qualität der Arbeit. „Daran glaube ich“, sagt der Gouverneur.

Ist es eigentlich von Bedeutung, dass seit Jahren sich die Zahl der Einwohner im Irkutsker Gebiet verringert? Ist es wichtig, dass deutlich mehr Menschen aus Irkutsk weggehen als dass sie aus dem Ausland kommen und bleiben? Für die Forderung von weniger Ausländern ja sowieso noch nie gewesen. Und wenn schon Migranten, dann sollten sie bitte schon was können, wenn sie ihre Arbeitskraft in Russland einzusetzen gedenken. Oder es darf der eigene Nachwuchs endlich ran.

Der Irkutsker Gouverneur hat, scheints, den Glauben an die Schaffenskraft der jungen Leute entdeckt: Mit den Klügsten und Aktivsten der Jugend von heute, die die tollsten Vorschläge zur Entwicklung des Irkutsker Gebietes machen, möchte er sich fortan treffen. Es ist wirklich zu begrüßen, dass die Jugendlichen in diesem Umfang von der Politik ernst genommen und mit einbezogen werden. Das scheint die richtige Balance zwischen theoretischer und produktiver Arbeit, zwischen Geist und Körper, zwischen ideellen und materiellen Werten. Früher mal gab es mal in Deutschland ein wunderschönes Lied, das die Euphorie über die jugendliche Schaffenskraft ganz hervorragend ausdrückte bzw diese Kraft beim Singen überhaupt erst hervorbrachte: Und es wäre doch wirklich zu begrüßen, wenn es in Russland gelänge, das so wichtige, so migrantisierte, so vernachlässigte Baugewerbe mit neuer Schaffenskraft zu neuem Leben zu erwecken. Denn es gilt mehr denn je: Schöner unsere Städte und Gemeinden!

Irkutsk/minimal stories/Ulica

Suburbia

Posted by Sascha Preiß on

Die Hunde blicken drohend, als sie vorüber laufen. Irgendetwas muss sie von ihren üblichen Quartieren vertrieben haben. In einer ungewöhnlich großen Gruppe, beinah zehn Tiere, sind sie auf der Suche nach einer ruhigeren Ecke ihres Reviers und laufen über die frequentierte Straße. Die Autos sind vom Straßenschlamm verdreckt. Ein dunkler, schwerer Off-Roader, aus dem dunkle, schwere Gitarrenriffs dröhnen, biegt in den Innenhof ein und bremst hart vor der Haustür. Niemand steigt aus. Stattdessen ertönt bestimmt die Hupe. Etwas weiter steht eine Limousine mit laufendem Motor herum, ohne Insassen. Die Sandkästen des Spielplatzes sind zugeschneit, vereist, teilweise wieder aufgetaut, Dreck und Matsch. Im Sommer liegen hier die Hunde, die Mütter mit ihren Kleinkindern an verbogener Schaukel, Wippe und Karussel ignorierend. Unter den Bänken, auf denen pelzig die Hofältesten bei besserem Wetter sitzen und die verdorbene Jugend von heute beklagen, liegen ein paar Bierflaschen. Können aber auch vom umgestoßenen Mülleimer sein. Zwei Jungs übernehmen den Platz, um zu bolzen. Der eine drischt den Ball in Richtung Tor, verfehlt es klar und trifft ein parkendes Auto. Von der minutenlangen Alarmanlage lassen sie sich nicht stören. Auch hinter den Gardinen keine Regung. Es ist an diesem arbeitsfreien Montag mal einfach gar nichts los.

Ästhetik/Irkutsk

Momentaufnahme

Posted by Sascha Preiß on
Irkutsk/Technik/Ulica

Nach der Sommerpause

Posted by Sascha Preiß on

Die Sommer in Irkutsk bekomme ich leider überhaupt nicht mit, weil alle Familienangehörigen, Verwandten und Freunde immer darauf bestehen, dass wir den Sommer bei ihnen in Deutschland verbringen, und wir uns natürlich auch auf die Freunde, Verwandten, Familienangehörigen freuen, ebenso wie auf die nicht ganz so trockene, deutlich weniger staubige Luft in Europa. Auch wenn die Reisen hin und wieder zurück sehr strapaziös sind, doch das muss dann eben sein. Und für einige Zeit ist die Stadt am Baikal dann auch für uns sehr weit weg. So weit, dass man sich gar nicht vorstellen kann, was da so in der Zwischenzeit los ist.

Doch tat sich Erstaunliches: Zuerst machte die Red Rocks Tour in Irkutsk halt. Das ist eine kulturelle Werbetournee für die Winterspiele Sotschi 2014, und für diese Tour durch insgesamt 20 russische Städte vom 15. April bis 15. September von Rostov am Don bis Irkutsk und zurück nach Kaliningrad konnten namhafte russische und internationale Künstler gewonnen werden: So spielten am 4.August in Irkutsk (nach der Hymne für die Sotschi-Spiele) tatsächlich die New Yorker Hercules and Love Affair mal so eben kostenlos auf dem zentralen Square Kirowa. Und anderswo traten Panic! At the Disco oder Röyksopp auf. Man kann ja von den Spielen 2014 halten, was man will, das Land wird professionell auf das Ereignis eingestimmt. (Mir z.B. hatte noch vor unserem Sommerurlaub eine Kollegin eine 25-Rubel-Sondermünze „Sotschi 2014“ geschenkt, als Glücksbringer.) Und ich habs verpasst…

Gleichzeitig wurde unter dem Titel „Allee der Innovationen“ der Versuch gestartet, den öffentlichen Personennahverkehr der Stadt ein bisschen zu modernisieren. Zumindest optisch. Noch im Juni fand an meiner Universität eine Konferenz zu Transport und Verkehrsplanung statt, bei der es u.a. um die Frage ging, wie man den enormen Staus in den russischen Städten Herr werden könnte. Der jetzige Modellversuch an insgesamt 10 Haltestellen setzt bereits NACH der Beantwortung dieser Frage ein, sieht todschick aus und ist obendrein tatsächlich innovativ: denn es wird erstmals Solarenergie verwendet. In einer Region, die für sich in Anspruch nimmt, 300 Sonnentage im Jahr zu haben und damit gleich viele wie Sotschi (weswegen die Winterolympiade dann hundertprozentig sehr telegen sein wird), gibt es bislang absolut keinerlei Bemühungen, diese Energiequelle irgendwie nutzbar zu machen. Nun also auf Bus- bzw Straßenbahnwartehäuschen zum Betrieb der Beleuchtung, der WLAN-Spots und für die Anzeige, wann die nächste Bahn zu erwarten sein wird (letzteres kann als vage Vorraussage prognostiziert werden, denn bei so viel Stau und Unfällen ist auf absolut nichts Verlass). Wann die Häuschen mit dem schönen Titel „Intellektueller Haltestellen-Komplex“ tatsächlich den Betrieb aufnehmen, ist bislang unklar. Auf jeden Fall sollen sie erst einmal im Winter auf Tauglichkeit und Beständigkeit getestet werden, und wenn das zufriedenstellend verlief, soll die gesamte Stadt aufgerüstet werden. Was dann eine echte Herkules-Aufgabe sein wird.

Nicht ganz so futuristisch, aber dennoch sehr ungewöhnlich, war der vergangene Sonntag. Denn während in London die Paralympics stattfinden und in Irkutsk die irkutsker Medaillengewinner der „normalen“ Olympiade herzlich empfangen werden, gab es im zentralen Stadion eine paralympische Wettbewerbsveranstaltung zu Ehren des Irkutsker Oblastes: einige Dutzend RollstuhlfahrerInnen lieferten sich mehrere 75m-Sprintrennen, weil in diesem Jahr das Irkutsker Gebiet 75 Jahre alt wird. Das Spektakuläre an der etwas seltsamen Sportveranstaltung war die Tatsache, dass ausschließlich RollstuhlfahrerInnen (Männer, Frauen, Kinder) zugelassen waren, die sonst in der Öffentlichkeit absolut nicht in Erscheinung treten. Weil es schlicht unmöglich ist: Allein das Haus, in dem wir wohnen, ist etwa 5 Jahre alt – und man kann es nur über eine kleine, aber steile Treppe betreten, schon ein Kinderwagen ist nicht vorgesehen, um wieviel weniger ein Rollstuhl? Und schön auch, dass es neue Wartehäuschen gibt, aber Bus oder Bahn sind schon für ältere Menschen eine echte Herausforderung, der Höhenunterschied von Straße zu Innenraum liegt bei über einem Meter, einzig mittels vier Stufen zu überwinden. Fragen, die man sich also stellen könnte, wären z.B.: Wo und wie leben RollstuhlfahrerInnen, wie halten sie sich sportlich fit und wie kommen sie zu einem solchen Sportereignis? Wieviele gibt es überhaupt? Und wo ist die Klinik im Irkutsker Gebiet, die über rollstuhlgerechte Eingänge verfügt? ——-

Jetzt lebe ich schon vier Jahre in dieser Gegend und hab das alles immer noch nicht verstanden.

Irkutsk/Russland/Ulica

Mit dem Bus durch die Stadt

Posted by Sascha Preiß on

Nach dem hochverdienten Sieg der Sbornaja gegen die Auswahl Tschechiens gestern Nacht sah man sehr vereinzelt Autos begeistert hupend und fahnenschwenkend durch die Stadt fahren. Die EM 2012 wird, wie auch alle vorherigen Europameisterschaften und die meisten Weltmeisterschaften, in Irkutsk zwar wahrgenommen – es gibt tatsächlich Cafés und Kneipen, die wenigstens die russischen Spiele live ab 03.45 Uhr zeigen -, aber Fußball ist in Sibirien kein Sport, der die Leute von den Sitzen bzw aus den Betten reißt, selbst wenn es um die Nationalmannschaft geht. Zumal die ja zu einem Drittel aus Spielern von Zenit St. Petersburg besteht (was die tageszeitung in eine sehr hübsche Titelzeile umsetzte).

Statt also patriotische Trikolores an den irkutsker Autos kann man seit inzwischen einem Monat ein ganz anderes Gefährt patriotischer Prägung durch die Stadt fahren sehen: den Stalinobus.

Busaufschrift: "Ich möchte das Glas erheben auf die Gesundheit des sowjetischen Volkes, vor allem auf die des russischen Volkes." Marschall J. Stalin beim Empfang im Kreml am 24. Mai 1945

Der Bus in all seiner Pracht bezieht sich selbstverständlich auf den Großen vaterländischen Krieg und den Tag des Sieges der Sowjetarmee über das nationalsozialistische Deutschland. Die Würdigung für diesen außerordentlich verlustreich erarbeiteten Sieg erfährt ausschließlich der verkitschte Oberbefehlshaber der Roten Armee, während die offiziellen Feierlichkeiten allgemein das russische Volk und die Verdienste der Rote Armee (Veteranen) ehren. Irgendwelche „Verfehlungen“ des Diktators (brutale Kollektivierung der Landwirtschaft, rücksichtslose Industrialisierung, Massenterror und GULag) bleiben ausgeblendet für den Glanz des Sieges. Stalin als „problematische Figur“ der russischen Geschichte spielt im offiziellen Gedenken (und bislang auch im öffentlichen Raum) keine Rolle. Indes: Er wird offenkundig wieder salonfähig.

Der Bus bzw das käufliche Busdesign fährt seit 2010 durch Russland. Initiiert von einigen Enthusiasten aus St. Petersburg – hoffentlich nicht aus dem Umkreis von Zenit -, kann man für jede beliebige Stadt und beinah jeden beliebigen Bustyp die Plakatierung erwerben. Der „Bus des Sieges“ ist recht modern im Internet breit aufgestellt: via Facebook, Twitter, vKontakte und diverse Blogs wird die Existenz des Busses russlandweit dokumentiert. Allerdings ist die Beliebtheit dieses Werbeprojekts in Sachen russischer Geschichtsrevanchismus derzeit nicht überzubewerten: Gerade einmal 65 Twitter-Follower, 104 „Gefällt-mir“-Bekenntnisse bei Facebook und 651 vKontakte-Mitglieder (dem innerrussischen Facebook-Klon) lassen momentan keine Massenbewegung vermuten. Und durchaus gibt es neben erwartbaren Verherrlichungen des „Generalissimus“ (Frau Afanassjewa etwa meint, dass „mit diesem Namen die ruhmreichste Epoche unserer Geschichte“ verbunden sei) auch Kritik an der Aktion (Herr Stomachin nennt die Initiatoren „stalinischen, rotfaschistischen Abschaum“). Dennoch ist gegenwärtig eine zunehmende Positivdeutung Stalins zu beobachten. Auch die Kommunistische Partei wirbt seit den Präsidentschaftswahlen ganz offen mit ihm, auf der Startseite des Webauftritts ist das nach Stalin benannte „Antikorruptionskomittee“ verlinkt. Mit entsprechender Härte sollen dort die Verfehlungen der gegenwärtigen politischen Elite Russlands aufgedeckt und, vielleicht, verfolgt werden: Ziel kann nur ein (stalinistisch) sauberes Russland sein.

Auch hier gibt es von keiner Seite hörbaren Protest. Wie auch: Gefragt, wer Stalin denn so war und was er so gemacht hat, wird man z.B. von Schülern und Studierenden nicht allzu viel in Erfahrung bringen. Weshalb es da auch nicht weiter ins Gewicht fällt, dass etwa zu Beginn einer russlandweiten Schüler-Olympiade für Fremdsprachen die russische Hymne gespielt wird und diese mit einem Film zur russischen Geschichte bebildert ist, in dem von Lenin bis Putin/Medwedjew sämtliche Staatschefs bzw Präsidenten der Sowjetunion und Russlands in einer völlig selbstverständlichen Ahnengalerie zu sehen sind. Kontinuität und Fortschritt, oder auch Stabilität und Entwicklung (Wahlslogan von Einiges Russland) – eine Programmatik, die mit einem positiv-patriotischen, kritiklosen Bezug zur Sowjetunion ihre eigene Bedeutung erhält.

Für den Busfahrer ist es nichts weiter als ein Arbeitsplatz. Wohin die Reise geht und wie lange er noch das jahrelang aus der Öffentlichkeit verschwundene, aber liebevoll geheiligte Potentatenabbild durch die Stadt fahren muss, ist ihm unbekannt. Meine Befürchtung: Weit über die Dauer der EM hinaus, mag die (St. Petersburger) Sbornaja noch so eindrucksvoll auftreten – der (St. Petersburger, aber auch Moskauer) Umgang mit Stalin wird sich wohl als deutlich zählebiger erweisen. Perspektivisch die Einschätzung von Stefan Creuzberger: „Stalin symbolisiert den Aufstieg der UdSSR zur Welt- und Supermacht – ein Status, den […] die gegenwärtige Führung in Moskau wieder zurückerlangen möchte.“ (Sehr anregend der Aufsatz „Stalinismus und Erinnerungskultur“. In: APuZ 49-50/2011, S. 42-47, ebenso die Bücher „Stalin. Machtpolitiker und Ideologe“ (Creuzberger), „Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus“ (Jörg Baberowski) und „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ (Baberowski).)

Irkutsk/Russland/Wildbahn

Neue Mieter

Posted by Sascha Preiß on

Da waren wir also gerade neu eingezogen, vor wenigen Wochen, nach der Geburt von Tolja, und ich beschäftigte mich mit Lilis erstem Ins-Bett-Bringen in der neuen Wohnung, da klingelte es gegen halb 10 Uhr abends an der Tür. Eine junge Frau in häuslich formloser Kleidung, T-Shirt, Sporthose, unbestrumpfte Füße in hellblauen Plastesandalen, und begrüßte mich.

– Also Sie sind unsere neuen Nachbarn, ja? Ich wohne nämlich unter Ihnen und da wollte ich Sie bitten, nach 21 Uhr nicht mehr so laut zu sein. Wenn Sie nämlich so laut trampeln, wackeln unsere Deckenlampen. Aber ich sehe, Sie haben ein Kind, na wir haben auch eins und deshalb wäre es schön, wenn es bei Ihnen etwas ruhiger wäre, nicht wahr?

Und damit ging sie auch wieder davon. Ich fühlte mich ein bisschen überfahren. Hatte die Dame das jetzt ernst gemeint, hatte ich das richtig verstanden? Lili war in meiner Wahrnehmung nicht mehr als sonst durch ihr Zimmer gelaufen und hatte keinerlei Stampforgien veranstaltet. Sollte der von außen doch recht solide wirkende Hochhausneubau derart hellhörig sein und das Gehen eines 13kg schweren Kindes die Deckenbeleuchtung der tiefergelegenen Etage ernsthaft in Schwingung versetzen können? Warum mussten ausgerechnet unsere Nachbarn der Inbegriff von Kleinstbürgertum sein, dass sie eine halbe Stunde nach ihrem persönlichen Ruhebedürfnistermin sofort ringsum ermahnen gingen? Auf jeden Fall begann das neue Wohnen mehr oder weniger großartig.

Die folgenden Abende bemühte ich mich, Lili so ruhig wie möglich ins Bett zu bringen. Offenbar mit Erfolg, denn vier Tage nach dem Auftritt der Frau klingelte es erneut an unserer Tür, diesmal sogar schon zwei Minuten nach 21 Uhr. Draußen stand ein angetrunkener, nach Zigarette duftender junger Mann. (Ich Idiot, schoss es mir durch den Kopf, wie oft hat man dir eingeschärft, Unbekannten keinesfalls die Tür zu öffnen. Aber es war zu spät.)

– Sie sind unsere Nachbarn, ich wohne unter Ihnen. Und ich wollte mich bei Ihnen bedanken: Wegen Ihnen können wir nämlich jetzt endlich wieder schlafen. (Leider war er zu betrunken, um meinen dummen Gesichtsausdruck zu kommentieren. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.)

– Meinen Sie das ernst, ist das irgendwie ironisch gemeint? (Ich hatte die Befürchtung, gleich setzt der Mann zu einer Schimpf- und Rauftirade an.)

Statt dessen guckte er ausnehmend blöd und verstand gar nicht, was ich von ihm wollte, und ich fand es sehr schade, aus Furcht vor seiner Reaktion nicht lachen zu dürfen. Wir einigten uns darauf, dass er sich bedankte und ich nicht wusste wofür und er feststellte, dass wir Ausländer waren und er mir das Du anbot. Das war schön, denn seither grüßen wir uns per Handschlag und man hat so ein bisschen das Gefühl, in diesem Haus nicht ganz allein zu sein.

Also hielten wir das Pärchen, dass uns manchmal mit ihrem kleinen Kindchen im Lift begegnet, für skurrile Vögel mit überzogen spießiger Attitüde. Sie hielt das Kind vor fremden Blicken bedeckt, er wirkte bei jedem Sehen betrunken, aber fuhr ein endgeiles weißes Motorrad. Sie klingelten seither nie wieder und ich nahm an, der Auftritt der Frau war tatsächlich ein Flehen in erster Sekunde und der Mann hatte ganz ernsthaft Dankbarkeit geäußert. Ich machte mir Sorgen, was in diesen unseren Räumen wohl ehedem abgegangen sein mag. Bis es heute Mittag gegen halb 1 wieder klingelte, diesmal an der Haustür unten. Ich erwartete niemanden, unser Kindermädchen ging ans Domofon.

– Wer ist denn da?

– Ich.

– Wer ist bitte ich?

– Na ich eben.

– So.

– Ja.

– Und was wollen Sie?

– Was will ich schon wollen?

– Nun, das möchte ich gerne wissen.

– Was ich halt will.

– Und was ist das?

– Na — ficken.

– Äh.

– Nicht wahr?

– Und da kommen Sie hierher? —

Das Kindermädchen kam irritiert-amüsiert zurück. Die Sache mit der schaukelnden Deckenbeleuchtung nahm Gestalt an – in etwa jene, welche sich gerade enttäuscht mit weiblicher Begleitung vom Hauseingang entfernte: Wir wohnten in einem ehemaligen Stundenhotel. Der Kerl, der soeben abgeblitzt war, hatte die neuesten Entwicklungen nicht mibekommen und musste sich mit seiner Mittagsbüropausengeliebten – in Russland macht jedes Büro zwischen 12 und 13 Uhr Mittagspause – ein anderes Lager fürs Schäferstündchen suchen. Da unsere Nachbarn gleich am ersten Abend um Zurückhaltung bei eventuell geplanter Ruhestörung baten, muss es vorher ein hochfrequentiertes Domizil gewesen sein. Und wenn man sich so umhörte, bei weitem nicht das Einzige. Ein paar Etagen über der Wohnung unseres Kindermädchens ging es ebenfalls heiß her, wie sie verriet. Und in unserem Wohnviertel, wie so ziemlich überall in der Stadt, finden sich an Laternenmasten angeklebte Zettel, die für Stunden- oder Tageshotels werben, pro Nacht 600 Rubel, etwa 15 Euro, dazu Handynummern. Wer unser Appartement professionell betrieben hat, ist nicht so wichtig, es lässt sich eine ganze Menge vorstellen. Angesichts einer Wohnungssituation, die Frischverliebten wenig Spielraum lässt – hohe Preise, geringes Einkommen -, sind vermutlich nicht wenige froh über jedes Angebot, seinen Trieben freien Lauf lassen zu können, und sei es auch des Ehebruchs wegen. Auf Nachbarn kann man da klar wenig Rücksicht nehmen. Zumal jetzt, wo der Frühling auch in Irkutsk endlich Knospen treibt, wird die Jagd- und Spielsaison vermutlich noch das eine oder andere verirrte Pärchen an die guten alten Plätze führen. Leider ist für die zwischen zwei Bürostühlen wild gewordenen Tiere mit dem Einzug der neuen Mieter eine weitere Höhle urbar gemacht, aber selbst wenn ich da jetzt ganz viel Verständnis für aufbringe – es ist mir total egal und wir sind sehr froh, für unsere gewachsene Familie ein schönes Zuhause gefunden zu haben.

Anti-Terror/Irkutsk/Statistik/Ulica

Der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja

Posted by Sascha Preiß on

Inzwischen ist die Situation wieder unter Kontrolle. Es wurden Schuldige gesucht und gefunden und der Bürgermeister hat mit den zuständigen Polizeiorganen Statements über das Ende der Stadtpanik abgegeben. Außerdem wurde sicherheitshalber ein bekiffter Busfahrer dingfest gemacht und der gestohlene Schal von Maria Wolkonskaja ist endlich auch wieder da.

Mit dem Schal der berühmtesten Dekabristin der Stadt verhält es sich so: In den 1970er Jahren wurde dem Museum der Schal von Marina Perfiljewa übergeben. Nach ihrer Aussage sei dies der Schal, den Maria Wolkonskaja von der Irkutsker Waise Varvara Rodionova als Hochzeitsgeschenk erhielt. Nach fünf Jahren verschwand der Schal aus dem Museum und galt als verschollen. Anfang der 2000er Jahre tauchte ein ähnlicher Schal beim Heimatmuseum des Tschitaer Gebietes auf (19 Bahnstunden von Irkutsk entfernt). Bei einem Fotovergleich des verschwundenen Schals von Frau Wolkonskaja mit dem nun aufgetauchten wurde festgestellt, dass die Schals identisch seien. Aufgrund von Überlegungen zur Berufsethik und eingedenk der Tatsache, dass der Schal als Erinnerungsreliquie unauflösbar mit der Geschichte Irkutsks verbunden ist, wurde im Heimatmuseum Tschita beschlossen, den Schal dem Irkutsker Dekabristenmuseum zurückzugeben. Das geschah schließlich, nach etwa zehn Jahren, vor wenigen Tagen. Morgen wird im Dekabristenmuseum der zurückgekehrte Schal präsentiert, dann bis zum 9. März erstmals wieder gezeigt, bevor er für einige Jahre zur Restauration verschwindet und erst danach endgültig öffentlich zugänglich sein wird.

Man kann anhand des Schals auf jeden Fall feststellen, dass Dinge, die verschwinden, auch wieder auftauchen, es braucht nur ein bisschen Zeit. Was sind schon 19 Bahnstunden oder zehn Jahre, wenn der Schal über 25 Jahre verschollen war und selbst über 150 Jahre alt ist. Auf keinen Fall lohnt es sich, wegen abhanden gekommenen Sachen in Panik zu verfallen. Es ist eine glückliche Fügung, dass just im Moment der Rückkehr des verlorenen Schals nun also auch Polizei und Bürgermeister ein Ende der öffentlichen Unruhe anmahnen.

Auch wenn diese Unruhe durch das Verschwinden von Personen ausgelöst wurde. Üblicherweise werden in den ersten anderthalb Monaten des Jahres mehr als 65 Personen des Irkutsker Gebietes als vermisst gemeldet, in diesem Jahr verschwanden allein 25 Leute aus Irkutsk. An den Haltestellen, Laternenmasten und Häuserwänden kleben Zettel mit Fotos und Beschreibungen der Vermissten. In diesem Jahr nun schien es, als wären deutlich mehr Menschen als üblich abhanden gekommen, es verbreitete sich das Gerücht, eine Bande würde gezielt Personen fangen und sie zu Organspendezwecken obskuren Ärzten übergeben. Offensichtlich sahen sich die Behörden einem gewaltigen Ansturm an Vermisstenmeldungen und Anfragen Verunsicherter gegenüber, so dass schließlich ein Mitarbeiter des Chefarztes für Organtransplantation im Gebietskrankenhaus um offizielle Stellungnahme gebeten wurde: Es gebe aufs ganze Jahr verteilt gerade einmal 20 entsprechende Operationen, ein Anstieg sei unbekannt und unwahrscheinlich. Man bitte also gemeinsam mit der Polizei, den Gerüchten kein Gehör zu schenken. Dieser Schritt an die Öffentlichkeit war von so ausbleibender Wirkung, so dass man sich entschied, noch einmal sehr deutlich nachzulegen: Der Gebietsgouverneur Dmitri Mesenzev, ehemaliger Kandidat für die Präsidentschaftswahl im März, dem inkorrekte Unterschriften als Ausschlussgrund zur Last gelegt wurde, verfügte daher, dass die Verbreitung irreführender Gerüchte als Straftatbestand zur Unruhestiftung wider die öffentliche Ordnung zu werten sei und die Polizei nun also die Gerüchteköche zu verfolgen habe. Schließlich seien von den 65 als vermisst Gemeldeten inzwischen 59 wieder aufgetaucht oder gefunden. Man sollte sich nicht wundern, dass diese Ankündigung durchaus Verwunderung auslöste: Sucht eigentlich auch jemand die Vermissten? Man muss sich nun klar werden, dass das Vertrauen in die Organe öffentlicher Ordnungshütung traditionell nicht das höchste in Russland ist. Ein Freund berichtete mir den Fall seiner verschwundenen Nachbarstochter vom vergangenen Jahr. Die Meldung ihres Verschwindens auf der Polizeidienststelle habe zunächst keinerlei Aktivität ausgelöst, denn erst nach einer Inkubationszeit von mindestens 10 Tagen schalte sich die Polizei ein, da in den überwiegenden Fällen, siehe der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja, kehrten die Vermissten irgendwann von selbst zurück. Tatsächlich wurde das Mädchen gefunden, kurz nach Ablauf der polizeilichen Schonfrist, vergewaltigt, bereits über eine Woche tot, ermordet, um Spuren zu verwischen, mit ihrem Schal. Die Polizei reagierte und konnte den Täter innerhalb eines Tages aufgrund von SMS, die beim Telefonanbieter abrufbar waren, ausfindig machen und festnehmen. Einer der wenigen Fälle, bei dem die Vermisste nicht mehr zurückkehrte. Angesichts der gewöhnlichen Erfolgsquote ist das zweifellos tragisch zu nennen.

Nun also wurden die Gerüchteverbreiter gesucht und in kurzer Zeit, deren Betriebsamkeit man nicht hektisch nennen sollte, auch gefunden. Nun fehlen nur noch 6 aus 65. Es besteht kein ernsthafter Anlass zur Sorge. Eine schriftliche Anfrage nach Tschita wurde bereits versendet, um auch Möglichkeiten außerhalb des Irkutsker Gebietes in Betracht zu ziehen. Es ist also bitte wieder ruhig.

Das Wetter/Irkutsk

„Unser Schnee lässt sich schlecht zu Bällen verarbeiten“

Posted by Sascha Preiß on

In Deutschland wird seit einigen Tagen über die angekündigte sibirische Kältewelle gesprochen. Mit Peter Wagner, Redakteur bei jetzt.de, dem Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, war ich gestern Abend zu einem Skype-Chat verabredet. Nachfolgend das dort erstveröffentlichte vollständige Interview über gefriergetrocknete Kleidung, eingecremte Gelenke und verrückte deutsche Radfahrer.

Seit dreieinhalb Jahren lebt Sascha Preiß, 35, in Sibirien. Er arbeitet dort als Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Technischen Universität von Irkutsk. Aufmerksame jetzt.de-Leser kennen ihn unter dem Usernamen ruebezahl und verfolgen vielleicht auch seinen Irkutskblog, in dem er sein Leben in Russland beschreibt und fotografiert. (Die Bilder im Text unten entstammen dem Blog.) Im Skype-Chat mit jetzt.de erzählt Sascha vom Leben in der Kälte – als Einstimmung auf Hoch „Cooper“, das Deutschland bis Ende der Woche tiefgefroren haben soll.   

jetzt.de: Sascha, bei mir in München ist es jetzt 10 Uhr, bei dir 18 Uhr. Wie kalt ist es?
Sascha:
Minus 27 Grad. Es ist also etwas wärmer geworden.

Wie kalt war es gestern?
Minus 41 Grad.

War es dein Wunsch, in diese Ecke der Welt zu ziehen, um dort zu arbeiten?
Ja, ich wollte schon immer mal in Russland leben und arbeiten. Ich habe zuvor ein Jahr in Kasachstan gearbeitet, später zwei Jahre in Kroatien. Und als sich die Möglichkeit bot, in Baikal-Nähe zu leben, habe ich mich beworben und die Stelle bekommen.

Zu welcher Jahreszeit bist du damals angekommen?
Damals war es früher Herbst und als wir mit dem Flugzeug, einer alten TU-134, von Nowosibirsk aus ankamen, hat es ziemlich geregnet. Wenig erfreulich im ersten Moment, weil dadurch von der Stadt absolut nichts zu sehen war. Aber das hat sich schnell gebessert. Die Stadt empfand ich damals im Herbst als wirklich sehr schön. Und auch im Winter!

Irkutsk/Liljana

Junge oder Mädchen

Posted by Sascha Preiß on

Neulich auf dem Spielplatz. Eine junge Mutter mit ihrem jungen Kind gesellt sich zu uns an den Sandkasten, setzt ihr Kind neben unseres und schüttet Förmchen hinzu. Lili interessiert sich sogleich für die neuen Spielgeräte, ergreift eines, eben jenes möchte das andere Kind auch. Die junge Mutter schlichtet, gib es doch dem Jungen, du kannst später noch damit spielen. Wir schauen uns kurz an und überlegen, ob wir intervenieren sollen, es grammatikalisch im Gespräch mit Lili verdeutlichen (Im Russischen kennzeichnen die finite Verbform 3.Pers. Singular und die Formen des Präteritums das grammatikalische, bei Lebewesen auch das biologische Geschlecht.) oder einfach gar nichts sagen. Oft genug stellen die anderen Mütter irgendwann sowieso fest, dass da gar kein Junge mit ihrem Kind im Sand spielt. Und dann wird die Frage an uns gerichtet, von den Müttern oder älteren Kindern, warum das Mädchen wie ein Junge aussieht. Es kann auch vorkommen, dass Kinder um die geschlechtliche Identität unserer Tochter streiten.

Lili ist für das russische Verständnis außerordentlich maskulin (das russische Adjektiv für burschikos – мальчишеский – wird vermutlich nicht besonders häufig verwendet): Sie hat kurzes Haar, trägt oft blaue und erdfarbene Kleidung, darf sich auf Spielplätzen schmutzig machen und in flache Pfützen springen. Russische Mädchen werden stattdessen grundsätzlich in rosa und helle, glitzernde Sachen gekleidet und ihnen wird frühzeitig eine gesittete Spielweise beigebracht, Hosenböden hingefallener Mädchen werden an Ort und Stelle saubergeklopft. So entstehen Mädchen, die für uns Träger von lutherisch-reformierten Geschmacksmustern mit deutlich zu viel Glitzer durchs Leben gehen. Immer wieder sind Mütter zu beobachten, die mit Töchtern in blütenheller Kleidung einen Spielplatz betreten. Für die Töchter beginnt damit ein Parcour von Verboten, denn es gilt das Reinheitsgebot der Wäsche, demgegenüber das Spielverlangen des Kindes minderrangig ist. Jungs hingegen genießen volles Schmutz- und Schreirecht. Die Farbwahl der Kleidung (rosa oder blau) ist für die Mitmenschen Signal, welche Verhaltensweisen für das jeweilige Kind angebracht sind. Kindererziehung ist eine öffentliche Angelegenheit. Mit besonderem Eifer geben vor allem ältere Frauen ihre pädagogischen Ratschläge, die nicht zur Diskussion stehen, jederzeit gern weiter, dass ein Kind aufrecht zu tragen schlecht für dessen Wirbelsäule sei, dass eine Brille in so jungem Alter schädlich sei und dass Mädchen in Mädchenkleidung gehören. Dass das bekannte Farbschema blauer Junge – rosa Mädchen noch vor 100 Jahren genau umgedreht war, hilft als Argument natürlich wenig. Mit Begriffen wie Gender oder soziale Geschlechterrollen braucht man auch nicht zu wedeln – mehrheitlich wird von jungen Eltern in ihrer Erziehung die Einhaltung der Norm befolgt, und die besagt nun einmal, dass es Männer und Frauen gibt und ein Mann soll ein Gewehr bedienen können und eine Frau soll sich schön machen können. Abweichungen von der Norm sind Irrwege bzw die Wege von Irren.

Der junge Hochschullehrer lud uns zu einem kleinen Familientreffen und Schaschlikgrillen in seinen Garten. Lili freute sich über die Katzen auf dem Hof und trug sie herum, sprang auf dem Gartensofa auf und ab, rannte mit Papas und Mamas Schuhen über die Wege und sang aus voller Kehle ihre Lieblingslieder. Die Tochter des Hochschullehrers schaute interessiert, aber verschämt zu. Die Frau des Hochschullehrers sagte in einem ruhigen Moment, dass sie befürchte, ihre Tochter wird ab morgen ähnlichen Unsinn machen, das gehöre sich doch eigentlich nicht. Als die Schaschliki fertig waren, aß Lili von den Spießen der Erwachsenen, sichtlich hungrig, mit geröteten Wangen. Die Tochter des Hauses, in gleichem Alter, saß mit bezopften Haaren und glitzerndem Sonntagskleid indessen vor einem Teller mit extra für sie gekochtem Fleisch, das vom Grill sei für Kinder gefährlich. Das Verhältnis der beiden Familien, eigentlich sehr freundlich und aufgeschlossen, hat sich nach diesem Besuch nicht mehr weiterentwickelt.

Einem Kind sollte bewusst sein, dass die Genderfestlegung höchste Priorität genießt.