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Interkultur/Irkutsk/Sprache

Ein bisschen Theater

Posted by Sascha Preiß on

Vergangene Woche war schön: Kulturtage. Hatte mir dafür einen sehr alten, sehr guten Freund eingeladen, Micha, die Hauptattraktion. Schauspieler am Berliner Ensemble. Machte seine Drohung wahr, eigens für Sibirien Gogols „Notizen eines Irren“ zu inszenieren. Wahnsinn, wirklich. Eine Freundin nannte es mutig, denn Gogol sei als zweitklassischster aller russischen Autoren (hinter dem Premiumklassiker Puschkin, der mitten in der Woche Geburtstag hatte und reich beschenkt wurde) ein seit der Schulzeit endgültig ausgelegter Autor, konkrete Bilder im Kopf, konkrete Erwartungshaltungen, wie ein Petersburger Beamter des Zarenreiches auszusehen und sich zu bewegen habe. Die Interpretation des Deutschen treffe das ziemlich sehr überhaupt gar nicht, doch interessant sei es allemal. Eine andere Freundin machte sich voller Bewunderung ernste Sorgen um des Schauspielers Gesundheitszustand: Jemand, der so sehr am Wahn gearbeitet hat, kann doch nicht so ganz ohne davonkommen!

Und zwei Tage später eine Lesung. Brecht, Müller, Brasch. Lyrik im Minenfeld zwischen sozialistischem Idealismus und sich entfremdenden Individuum. Bislang unübersetzt, beinah unübersetzbar. Interessiert das heute noch irgendwen, dieses verstaubte Stück deutsche (osteuropäische) Geistesgeschichte. Doch hatte ich mich vorher einer unfassbar guten Fee erinnert: Alexandra. Die nahm sich Urlaub vom Leben und zauberte sich als des Schauspielers unfehlbare Begleitung in die Welt. Probte mit Micha. Synchrondolmetschte Gogols Erzählung zwei Abende hintereinander. War einen vollen Tag Reiseleiterin. Übersetzte am nächsten Vormittag 50 deutsche Gedichte. Mindestens: Hut ab, aber Hallo, und allertiefste Verneigung.

Und dann war da noch Nadja, junge Dramaturgin am Irkutsker Schauspielhaus, wo die drei Abende (2x Gogol, 1x Lesung) stattfanden. Noch so eine gute Fee, mitten im regnerischen, frühsommerlichen Irkutsk. Sie half bei der ganzen Organisation am Haus. Alles tolle Leute, von der Kartenverkäuferin übers Wachpersonal bis hin zu Schauspielern und Administration. So sehr willkommen und entspannt habe ich mich auf Anhieb nur ganz selten gefühlt. (Sophia, die in Chabarowsk lebt, bestaunte stets die Freundlichkeit in der Stadt: lächelnde Kellnerinnen!) Und weil Micha gestern schon wieder zurückgeflogen war, gab ich Nadja heute seine Geschenke, garniert mit einem großen Blumenstrauß. Und jetzt bin ich eingeladen, im August in Bolshoe Goloustnoe, meinem Lieblingsort am Baikal, einen mehrtägigen Improtheater-Workshop mit Irkutsker Schauspielschülern zu leiten. Ich kann so schlecht Nein sagen.

Und wie wir so im Büro des Theaters saßen, redeten wir über Theater und Autoren. Der bekannteste Irkutsker Dramatiker ist der früh gestorbene Alexander Vampilov, dessen Werke in der Tradition Tschechows stehen (dem drittklassischsten russischen Autor). Vor dem Schauspielhaus steht ein Denkmal, das Theater des Jungen Zuschauers trägt ehrvoll seinen Namen, stets findet sich mindestens eines seiner Werke auf dem Spielplan. Auch in Deutschland wurde er bereits gespielt, allerdings vor einiger Zeit. Und ich bemängelte, dass derzeit in den Irkutsker Buchläden kein Vampilov erhältlich ist. (Da sieht es in Deutschland besser aus, auch wenn es keinen zu interessieren scheint.) Und sofort ging Nadja im Raum auf die Suche. Und ich wusste, ich komme hier nicht buchlos raus. Und mir war das peinlich. Kurz darauf jetzt hielt ich Wampilows Texte in den Händen, eine längst vergriffene (4000 Exemplare), umfangreiche Ausgabe des Irkutsker Vampilov-Fonds von 2002, und fühlte mich ein bisschen wie ein Dieb. Aber wie ein glücklicher. So ein tolles Geschenk habe ich lange nicht mehr erhalten (und ich habe hier sehr viele sehr tolle Bücher geschenkt bekommen).

Alexander Vampilov - Dramaturgisches Vermächtnis. Irkutsk 2002.

Alexander Vampilov: Dramaturgisches Vermächtnis. Irkutsk 2002.

Und nun, nach dieser tollen letzten Woche, ist Zeit nur mehr Frist, es bleiben weniger als 3 Wochen bis zu unserer Abreise. Auch wenn ich im August noch einmal hier bin: Wir werden viele sehr gute Freunde verlassen.

PS bzw Anregung zur Aufheiterung: Ich würde mich riesig über die DDR-Ausgabe von Wampilows Dramen freuen: A.W.: Stücke. Verlag Volk und Welt, Berlin 1976.

Большое спасибо.

minimal stories/Sprache/Universität

Rhetorische Gründe

Posted by Sascha Preiß on

Vor dem Stadion der Arbeit fand eine Demonstration statt. Man befürchtete einen umfangreichen Arbeitsplatzverlust aufgrund angekündigter, weitreichender Umstrukturierungen. Der gesamte Sektor am Arbeitsmarkt würde sich grundlegend wandeln, womöglich gar irreparable Schäden davon  tragen. Die Beschäftigten waren zu tiefst verunsichert. Alle waren angehalten zu erscheinen, doch nicht alle folgten. Eine Mitarbeiterin etwa gab später an, sie sei ferngeblieben, da sie von der Protestveranstaltung nur allgemein erfahren hatte, nicht aber von ihrer Vorgesetzten konkret zu Zeit und Ort eingeladen worden war. Man hätte annehmen können, dass der Erhalt des Arbeitsplatzes wichtig genug sei, doch über allem Inhalt wacht die Strenge der zu wahrenden Form: Ihr Fehlen hatte ausschließlich rhetorische Gründe.

Russland/Sprache

Ostap und der russische Humor

Posted by Sascha Preiß on

Das russische Verhältnis zum Sport ist, nicht anders als woanders auch, immer auch von einem gewissen Humor geprägt. Umso schöner, wenn der Name eines Sportlers dankbarer Anlass für den einen oder anderen Scherz ist, um der ganzen Sache den heiligen Ernst auszutreiben. Beim gestrigen Sieg der deutschen Mannschaft über die dänische schoss bekanntlich Lars Bender den entscheidenden Treffer. Der von der Zeit als EM-Tweet des Spiels gekürte Twitter-Post ist diesbezüglich ein netter, einfach zu erfassender Kalauer und ansonsten nicht weiter interessant. Russischer Humor hingegen ist meist ein für Außenstehende nicht ohne Weiteres zu durchdringendes Geflecht aus Selbstreferenzen, vorrangig Bezüge zu russischer und sowjetischer Hoch- und Populärkultur herstellend.

Der Sportreporter Igor Timashev des russischen Fernsehens hatte gestern den Auftrag, das Parallelspiel der EM-Gruppe B, Portugal-Niederlande, zu beobachten und zu kommentieren, weshalb er vom deutschen Einzug ins Viertelfinale unmittelbar nicht viel mitbekam. Dennoch hat er einen minimalen Spielbericht verfasst, in dem er gleich zu Beginn mitteilt, das Spiel aus benannten Gründen gar nicht gesehen zu haben. Der Rest des Absatzes ist eine sehr russische Anekdote: Der für das Deutschland-Spiel eingeteilte Reporter weile nämlich derzeit in der Ukraine, genauer: in Odessa. Und als Igor erfuhr, dass den deutschen Siegtreffer ein Lars Bender erzielt habe, fragte er seinen Kollegen sofort, ob er sicher sei, ihn nicht mit Ostap verwechselt zu haben; möglicherweise sei er von den Wellen des Schwarzen Meeres angespült worden.

Wenn man jetzt keine Ahnung hat, wer oder was mit „Ostap“ gemeint sein könnte, dann kennt man sich einfach in der russischen Literatur nicht aus. Ostap Bender ist die Hauptfigur der beiden Romane „12 Stühle“ und „Das goldene Kalb“ von Ilja Ilf und Jewgenij Petrow, die in der Sowjetunion mehrfach verfilmt wurden und kulturelles Allgemeingut geworden sind. Der zweite Roman spielt hauptsächlich in „Tschernomorsk“ (eine ironische Version von Odessa). Ostap Bender ist der Typ des frühsowjetischen Hochstaplers und Kleinkriminellen und versucht in beiden Romanen mit allerlei Gaunereien an viel Geld zu gelangen, was selbstverständlich scheitert. Die Romane sind eine Parodie auf die Zeit der 1920er Jahre, sowohl Bücher als auch Verfilmungen sind außerordentlich populär und ein Fundus für groteske Zitate. In Russland auf Ostap anzuspielen ist in etwa vergleichbar, wie in Deutschland einen Loriot-Sketch zu zitieren. In diesem Kontext bedeutet die Anekdote von Igor Timashev also etwas wie: Mein Kollege hat sich übers Ohr hauen lassen.

Nun, wir wissen es besser. Was das Ausscheiden der Sbornaja bei der EM betrifft, so wird das (noch) nicht zum Anlass für so leichtfüßige Späße genommen. Ein Bekannter gestand mir heute morgen etwas zu laut, dass er sehr froh über das Aus der russischen Mannschaft ist, denn jetzt könne er endlich wieder ruhig schlafen, weil die Kneipe unter ihm nun keine Live-Übertragungen mehr anbiete und also auch keine zu laut jubelden Fans ab nachts halb 4 mehr anlocken könne. Wobei ich den Eindruck hatte, dass er, wenn die Spiele für sibirisch annehmbare Zeiten ausgetragen worden wären, ebenfalls liebend gern in der Kneipe gesessen und gejubelt hätte. Wenn ich etwas wacher gewesen wäre, hätte ich ihm wohl vorschlagen können, dass man sich jederzeit zum Hausmeister umqualifizieren lassen und z.B. in der Kneipe unter ihm auch mal aufräumen könne. Aber so ein Ostap-Bender-Zitat fällt einem der russischen Populärkultur Außenstehenden nicht mal so eben ein – und wer weiß, ob er es dann auch tatsächlich so verstanden hätte, wie ich mir das gewünscht hätte haben können. Also sage ich besser gar nichts. Russischer Humor ist nach wie vor ein nicht ohne Weiteres zu durchdringendes Geflecht …

selbst/Sprache

Lesung: Ganz ist die Ordnung noch nicht abhanden

Posted by Sascha Preiß on

Dies hat nicht unmittelbar mit Irkutsk, dem Thema dieses Blogs, zu tun. Ich möchte an dieser Stelle beginnen, einige Texte als Lesung zu veröffentlichen. Die erste Lesung dieses Textes fand heute in sehr kleinem Kreis in einem Irkutsker Restaurant statt, allerdings ist die Aufnahme nicht besonders gut. Daher habe ich die Lesung in der Küche (mit Weihnachtsplätzchen) wiederholt. Gelesen wird der Anfang eines längeren Textes, der den Titel „Durchnässte Soldaten“ trägt und in Pannonien spielt.

Irkutsk/Russland/Sprache/Statistik

Schöner unsere Städte und Gemeinden

Posted by Sascha Preiß on

Unlängst saß eine Studentin in meinem Büro, sie suchte eine Möglichkeit, sich endlich mal wieder auf deutsch zu unterhalten, also plauderten wir. Unter anderem über unsere Reiseerfahrungen in Russland. Ob ich schon in Moskau gewesen sei und was mein Eindruck der Stadt wäre. Ihr gefalle Moskau nämlich nicht so gut wie früher. Damals (wann genau, sagte sie nicht) wäre Moskau noch schön gewesen, aber heute sei die Stadt voll mit Tadjiken und Tschetschenen, die machten die Stadt ganz schmutzig, würden überall hinspucken, Frauen belästigen und sich überhaupt schrecklich benehmen. Das könne sie auch in ihrer Straße beobachten, wo Tschetschenen auf Baustellen arbeiteten, ganz und gar unangenehm.

Dass sich rassistische Einstellungen in Russland nicht auf Hooligans und Nationalbolschewiken beschränkt, ist keine Neuigkeit. Dass er sich nun so unverblümt  in einer netten Plauderei offenbarte, machte mir einigermaßen zu schaffen. Nicht allein dir Frage, wie darauf angemessen zu reagieren sei – als Ausländer ist man in einer Situation, die wenig Spielraum lässt, man kann wenig mehr als zu konstatieren, dass man selbst grundverschiedene Ansichten hat, womit sich das Thema (und das Gespräch insgesamt) erledigt hat. Aufschlussreicher ist wohl die Frage, wie junge Leute zu derart selbstbewusst vorgetragener, xenophober Weltsicht gelangen und wodurch ein solches Weltbild Bestätigung findet. Einen nicht unerheblichen Anteil hat die russische mediale Berichterstattung, in der „das Wort Tschetschene beinah schon den Status eines Markenzeichens“ hat.

Eine andere Begründung lieferte vorgestern Konstantin Poltoranin, der Pressesekretär des Föderalen Migrationsdienstes Russlands. In einem Interview mit der BBC Russland gab er an, dass „die Zukunft der weißen Rasse gefährdet“ sei bzw.: „Auf dem Spiel steht im Prinzip das Überleben der weißen Rasse, in Russland kann man das spüren.“ Er schlägt deshalb vor, „die Blutvermischung zu regulieren“. Diese „Ideen“ wiederholte er noch einmal auf Nachfragen der Internetzeitung gazeta.ru – selbstredend mit dem Zusatz: „Glauben Sie mir, ich bin weder Nationalist noch Rassist.“ Und das Ganze, weils so schön ist, führt der Pressesekretär noch einmal für den Radiosender „Stimme Russlands“ aus, mit Vorschlägen zu gesteuerter Zuwanderung: Man brauche vor allem hochqualifizierte ausländische Spezialisten…… Ob das für mich auch gilt? Nachdem nun die offiziellen Zahlen zum Zuzug von Ausländern ins Irkutsker Gebiet bekannt gegeben wurden und Poltoranin das Vokabular im Bereich Migration und Zuwanderung ganz offiziell um urrassistische Rhethorik erweitert hat, sollte sich meine Verwunderung über Plaudereien zu Moskau gelegt haben. Ein Kommentator zur Situation in Irkutsk merkt an: „Man kann wegen des ganzen Zustroms hier kaum noch atmen.“Der „Zustrom“ besteht aus 20.500 mehrheitlich befristeten Aufenthaltserlaubnissen im ersten Quartal 2011, bei einer Bevölkerung von 2,5 Millionen im gesamten Gebiet sind das etwa 0,8 Prozent. Aber Rassismus hat ja nichts mit Logik zu tun.

Sprache/Universität

Brief an die deutschen Wirtschaftsprüfer

Posted by Sascha Preiß on

Heute habe ich Post bekommen. Bei meiner Arbeit bekommt man durchaus häufiger mal Post. Manchmal auch handgeschrieben oder sogar persönlich überbracht. Letztes Jahr zu Weihnachten klopfte ein Mädchen an meine Tür und gab mir verstohlen-aufgeregt eine kleine Tüte. Ich hatte das Mädchen noch nie gesehen. Sie sagte in gebrochenem Deutsch, dass sie hoffe, es möge mir gefallen, und ging. In der Tüte waren ein Paar Handschuhe, selbstgestrickt, in den Deutschlandfarben und stark parfümiert. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ihr hätte danken können.

Die heutige Post kam schon vor einigen Tagen elektronisch. Eine betrefflose Mail mit Anhang im docx-Format, das landet notwendig erst einmal in der Postfach-Sülze. Trotzdem hab ichs rausgefischt und geöffnet. Die docx-Datei ist auf russisch „an die deutschen Wirtschaftsprüfer“ genannt:

Guten Morgen, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit freundlichen Grüßen Sie aus ein Student der Fakultät „Accounting und Audit“ der Baikalsee staatliche Universität für Wirtschaft und Recht Alexej Stepanowitsch Chudjakow*. Einer These schreibe über die Prüfung, ich eine der Verzweigungen „Audit History in Deutschland“, übergeben die Prüfung auf Deutsch, und wir wollen nicht mit deutscher Wissenschaftler in der Buchhaltung zu sprechen kommen und Überwachung, sollten von der deutsche Professor eingeladen werden

Ich bin zwar ein wenig in Sorge wegen der „Überwachung“, dennoch fand ich diese Post aus irgendeinem Grund bemerkenswert. Die Ermittlungen, worum es sich handelt, sind angelaufen.

(*Name geändert.)

Russland/Sprache

Auf der Weihnachtsfeier

Posted by Sascha Preiß on

Die Weihnachtsfeier wurde begleitet von einem umfangreichen Kulturprogramm. Schüler, Studenten und Lehrer verschiedener Schulen und Universitäten der Stadt, die sich auf irgendeine Weise mit Deutsch beschäftigten, waren gekommen und präsentierten ihre Fähigkeiten in der Fremdsprache. Die Darbietungen waren bunt gemischt, Gedichtvorträge, Tanzeinlagen, Theateraufführungen, Gesang, und  hatten insgesamt Varieté-Charakter. Der Ablaufplan sah vor, dass der etwa 10jährige Junge, Schüler der vierten Klasse, in der zweiten Hälfte des Abends sein Gedicht vortragen sollte. Nach über einer Stunde Wartens und Zuschauens, gestiegener Nervosität und Erregung vor so viel Publikum, überhörte er den Aufruf seines Namens. Seine etwa 40 Jahre alte Lehrerin schob ihn ermunternd und bestimmt aus der Bankreihe, in den Empfangsapplaus, den sie genoss. Der Junge trat auf die kleine Bühne, blickte in den stiller werdenden Saal, den Zettel mit dem Gedicht schwitzig zerknüllt in seinen Händen. Dann formulierte er stotternd den Titel und ein wenig der ersten Zeile, mechanisch, undeutlich, leise, gesenkten Blickes. Die Lehrerin an ihrem Platz formte mit den Lippen überdeutlich den Gedichttext, machte weite, unterstützende Handbewegungen im Metrum der Verse. Der Junge bemerkte die pädagogischen Gesten nicht. Er stolperte durch die Silben, die sich ihm als Anhäufung bedeutungsloser Geräusche darboten. Vertauschte Vokale, Konsonanten, wiederholte sich korrigierend, verwirrte sich erneut. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was er da aufsagte. Hilfesuchend blickte er den Zettel an, fand sich noch immer am Anfang einer lyrischen Odyssee durch einen immer endloser werdenden Text. Blickte auf, der gesamte Saal bedachte ihn mit Aufmerksamkeit. Die Lehrerin rief ihm etwas zu. Er begann die erste Strophe erneut, brachte unzusammenhängende Laute hervor, in die sich Panik und Verzweiflung mischten. Er hatte zugestimmt, mit seiner Lehrerin, die ihn als besten Schüler seiner Klasse für den Auftritt erwählt hatte, das Gedicht auswendig zu lernen und vorzutragen. Während ihm die Worte zu bloßen Geräuschen zerfielen, ahnte er kaum, wie sehr sie sich öffentliche Anerkennung für ihre Arbeit wünschte. Als er wegrannte, weinte er bereits. Den Rest des Programms erlebte er im Nebenraum in den Armen der Lehrerin, die am schluchzenden Körper sich selbst zu trösten versuchte.

Anti-Terror/Kulinarisches/minimal stories/Sprache/Wildbahn

Ein Öbstchen

Posted by Sascha Preiß on

Im Wald in Nähe der Stadt Angarsk in Nähe der Stadt Irkutsk in Nähe des Baikalsees irgendwo in Russland ist am 8.April 2010 zu nicht genannter Stunde vom Spürsinn des Hundes eines Wachmanns ein „Gegenstand“ entdeckt worden. Eingeleitete Untersuchungsmaßnahmen identifizierten das Fundobjekt als Handgranate vom Typ F-1. Auf welche Weise die leicht angerostete Granate in den Angarsker Wald gelangte, ist unbekannt. Fest steht, dass es aus Gründen der Gefahren- und Terrorabwehr zu umfangreichen Polizeisicherungen und dem Einsatz von OMON-Spezialkräften kam, im Laufe dessen weiträumige Evakuierungen um die Granate vorgenommen wurden. Fest steht weiterhin, dass sich im Russischen Liebkosungen ebenso wie Ironie durch Diminutiva ausdrücken lassen. Noch am ganz und gar selbigen Tage ward das zärtlich bezeichnete „Zitrönchen“ im Wäldchen unschädlich gemachet. Der Fundort des gefährlichen Obstes befand sich sinnvollerweise in Sichtweite des Einkaufzentrums „Apfelsine„.

Interkultur/Sprache/Universität

International Office

Posted by Sascha Preiß on

Die Beziehung Russland zu China ist alles andere als freundschaftlich, eher fußt sie auf reichlich Angst und neidvoller Verachtung gegenüber den wirtschaftlichen Errungenschaften des Reiches der Mitte. Manchmal wächst sich das zu Phobien vor einer chinesischen Invasion aus, die in der Literatur fröhlich karikiert werden, um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen.

Tatsächlich herrscht in Russland, nicht ausgelöst aber verstärkt durch die Wirtschaftskrise, eine recht umfassende Stagnation. Die Geburtenraten geben Anlass zur Sorge, Jahr für Jahr verlassen weniger Schüler die Schulen, schreiben sich weniger Studenten in den Hochschulen ein. Seit diesem Jahr steigen die Geburtenzahlen erstmals wieder, doch davon profitieren die Hochschulen in etwa 20 Jahren. Die Mehrzahl der sibirischen Universitäten ist deshalb dazu übergegangen, zu hunderten Studenten aus China anzuwerben und zu immatrikulieren, um so den stetigen Schwund russischer Studenten aufzufangen und gleichzeitig zahlungskräftige Kundschaft zu erhalten, denn die ungeliebten, aber notwendigen Fremdstudenten sind mehrheitlich für teure Wirtschaftsstudiengänge eingeschrieben, bei denen das Semester schon mal 1000 Euro kosten kann. Für die chinesischen Studenten lohnt sich aber das Geschäft, sie bekommen ein russisches Diplom und erstklassigen Zugang zum begehrten russischen Markt, woraus ein stabiler Handel erwächst, der für beide Seiten ertragreich ist. Chinesen aber bleiben in Russland ungern gesehene Gäste, denen mit Höflichkeit nicht grundsätzlich zu begegnen ist.

Der Honorativ ist eine zentrale Kategorie der russischen Sprache. Unbekannte Personen nicht in der höflichen Sie-Form anzureden bedeutet, ihnen ohne Achtung zu begegnen, sie zu beleidigen. Die Mitarbeiterinnen des Akademischen Auslandsamtes (International Office) der TU Irkutsk sind seit Herbst 2009 mit den mehr als 300 chinesischen Studenten, die mühsam russisch lernen und von der Universität betreut werden, sichtlich überfordert. Insbesondere zu Ferienzeiten sinkt daher die Höflichkeitsschwelle enorm, wird keine Energie in überflüssige Formulierungen verschwendet. Den jungen Chinesen, der wegen seiner polizeilichen Registrierung nachfragt, wirft die Beauftragte für Registrierungsfragen die Worte hin: Setz dich, warte bis du drankommst. Den europäischen Gaststudenten, der eine ähnliche Frage hat, schaut sie an: Und was wollen Sie?

minimal stories/Sprache/Universität

Hölle (minimal story 8)

Posted by Sascha Preiß on

Wortspiele als Auszeichen eines liebevoll-intimen Verhältnisses zur Sprache sind in Russland sehr populär. Ob ein Buchladen „Лас Книгас“ heißt oder ein Saft „Индиана Джус“ – ein kleiner Kalauer darfs immer mal wieder sein. Und aus diesem Grund hatte ein wortspielender Student kurzerhand zwei Buchstaben vom Schild meiner Unibürotür geklaut. Die weißen Lettern sind auf die blaue Plaste nur aufgeklebt und wer möchte, nimmt sich in einem unbeobachteten Moment einen mit. Ursprünglich stand dort etwas vom „Лекторат ДААД“ zu lesen, jetzt ist es das „Lektorat HÖLLE“. Die Suche bzw Wiederbeschaffung der verlorenen Buchstaben wird nun ein längerer Weg durch die Administrationskatakomben der Universität bedeuten. Dennoch: Weil mich dieser Scherz durchaus zum Lachen brachte, weigere ich mich, darin irgendeine Kritik an meiner Arbeit zu erkennen.

Lektorat HÖLLE