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Irkutsk/minimal stories/Universität

Feierabend

Posted by Sascha Preiß on

Ich möchte einmal Windeln und Kamillentee kaufen. Die freundliche Apothekerin holt aus dem Lager ein großes, teures Windelpaket, da fliegt die Tür auf, herein stürmt ein halbwegs junger Mann mit Autoschlüssel und einem 1000-Rubel-Schein in der Hand und verkündet, er bräuchte sofort eine frisch verpackte Spritze. Hinter ihm betritt eine große, runde Beamtin irgendeines Sluzhbas minenlos und in Uniform den Raum. Das Lächeln der Apothekerin wankt kein Bisschen. Mit meinen Windeln an der Kasse hantierend, sagt sie dem jungen Mann, dass das 90 Rubel kostet und sie für den großen Schein wohl nicht genug Wechselgeld hat, er solle den sich besser irgendwo klein machen lassen. Aber das habe er doch schon überall probiert, wedelt er herum, wo soll er denn noch alles nachfragen, außerdem sei es dringend, ja, sein Hund liege krank im Auto. Die Apothekerin weist ohne stimmliche Regung auf mich als gerade zu bedienenden Kunden hin, die große Beamtin betrachtet intensiv die angebotenen Hustensäfte, der junge Mann scharrt mit den Füßen, ich verstaue umständlich Wechselgeld und Ware, aus den Augenwinkeln den Mann anblickend, der nicht wie ein Veterinärmediziner auf Rädern ausschaut. Die Apothekerin blickt in die geöffnete Kasse, seufzt einsichtig, hält dem jungen Mann ihre Hand hin, der legt seine Banknote hinein, sammelt dann das doch ausreichende Wechselgeld und steril verpacktes Spritzwerkzeug ein und flugs ist er verschwunden, dem Hund zu Hilfe eilend, und die Beamtin wendet sich von den Säften ab und nuschelt irgendeine Bestellung. Als ich die Apotheke verlasse, sitzt der Mann im vor der Treppe geparkten Auto, laufender Motor, getönte Scheiben, auf dem leeren Beifahrersitz die Verpackung, er sieht mich und beugt sich über etwas zwischen seinen Beinen. Kein Hund nirgends. Dass Drogen in Irkutsk ausgiebig konsumiert werden, lockt diese Tiere offenbar nicht mehr hinterm Ofen hervor. Die Statistik gibt für 2012 eine doppelt so hohe Abhängigenrate wie für den gesamtrussischen Durchschnitt an. Und weggeworfene Spritzen kann man eigentlich jeden Tag sehen. Mich überrascht dann doch die Selbstverständlichkeit. Niemand kann mir erzählen, dass die eisern lächelnde Apothekerin und die gezielt desinteressierte Beamtin nicht gewusst hätten, wozu der Mann eine frische Spritze braucht. Und dass er sich das Zeug bei laufendem Motor reinzieht, vor der Apotheke, zum Feierabend. Und dass auch ich eigentlich nur mental mit den Schultern zucke: Hm.

Naja.

minimal stories/Sprache/Universität

Rhetorische Gründe

Posted by Sascha Preiß on

Vor dem Stadion der Arbeit fand eine Demonstration statt. Man befürchtete einen umfangreichen Arbeitsplatzverlust aufgrund angekündigter, weitreichender Umstrukturierungen. Der gesamte Sektor am Arbeitsmarkt würde sich grundlegend wandeln, womöglich gar irreparable Schäden davon  tragen. Die Beschäftigten waren zu tiefst verunsichert. Alle waren angehalten zu erscheinen, doch nicht alle folgten. Eine Mitarbeiterin etwa gab später an, sie sei ferngeblieben, da sie von der Protestveranstaltung nur allgemein erfahren hatte, nicht aber von ihrer Vorgesetzten konkret zu Zeit und Ort eingeladen worden war. Man hätte annehmen können, dass der Erhalt des Arbeitsplatzes wichtig genug sei, doch über allem Inhalt wacht die Strenge der zu wahrenden Form: Ihr Fehlen hatte ausschließlich rhetorische Gründe.

Ästhetik/Das Wetter/Universität

Beglückender Frost

Posted by Sascha Preiß on

(Alexander Kluge zum 80.Geburtstag)

Die alte Biologin wusste aus ihrem Leben vorrangig die Winter zu berichten, als im Tropenhaus des Botanischen Gartens ein Großteil der Pflanzen erfroren. Bei anhaltenden Außentemperaturen von unter -40° hielt die Gebäudeisolierung nicht stand und die Heizanlagen konnten die notwendige Luftinnentemperatur von rund 50° nicht mehr gewährleisten.

– Der Frost ist nicht außergewöhnlich, solche Kälteperioden sind normal im Winter. Auch die Materialermüdung etwa alle 10 Jahre ist normal.

– Sie waren darauf vorbereitet, dass ein Teil Ihrer Forschungsgrundlage regelmäßig vernichtet wird?

– Selbstverständlich. Wobei es uns mit jedem Mal besser gelang, das Sterben aufzuhalten, wenn auch nie ganz zu verhindern. Vielleicht wollten wir das auch gar nicht.

– Sie hatten Interesse am Massensterben?

– Ein emotionales. Es ging um Betreuung.

– Und um den Einsatz für die Wiederbelebung?

– Eher um soziales Verhalten. Aufbau und Erhalt eines botanischen Gartens in diesen Breitengraden ist schön für die Forschung. Starb ein Teil oder war ein großer Teil davon bedroht, konnte ich eine ansteckende Begeisterung bei mir und den Kollegen beobachten, das Aufwallen des Schutz- und Fürsorgeinstinktes, gesellschaftliche Wärme. War der Garten gerettet und verteidigt, nahm das innerkollegiale Interesse ab, die gemeinschaftliche Aufgabe war getan. Die intensiven Tage empfand ich, auch angesichts der Außentemperaturen, als beglückend.

– Die Katastrophe als Katalysator – aber Sie haben nie den Prozess beschleunigt?

– Ich hätte die Heizung abstellen können, ja. Doch Glück kann man nicht verschulden, es muss eintreffen.

– Warum braucht man in einer Region mit mindestens sechs Monaten unter 0° einen tropischen Garten?

– Wer braucht schon Glück, meinen Sie? Es ist ja nicht so, dass strenge Frosteinwirkung automatisch zu gesellschaftlicher Wärme führt. Es kommt auf die glücklichen Umstände an. Ein Ausschnitt aus dem tropischen Klima wirkt wie ein unterhaltsamer Science-Fiction-Film. Die Besucherzahlen sind in den letzten Dekaden stark gestiegen.

– Hat sich der Frosteinbruch in die Tropenhäuser auch gewinnbringend auf Ihre Forschungsarbeiten ausgewirkt?

– Aus wissenschaftlicher Sicht spielt die Beglückung des Forschungspersonals eine zu vernachlässigende Rolle. Wäre ich nicht primär an der Fauna interessiert, wüsste ich es aber sicher besser.

 

Wesentliche Eigenschaften, ohne welche die Menschheit nicht überlebt hätte, stammen aus der Eiszeit. So z.B. die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt: Grundlage aller GEFÜHLE. Insofern kann man sagen, dass wir Menschen aus der Kälte stammen. Zugleich wird man aber beobachten können, dass Herzenskälte dauerhaft nicht zu ertragen ist. – A.K.

 

Universität

Ingenieure der Zukunft

Posted by Sascha Preiß on

Die Studenten sind im letzten Ausbildungsjahr, im kommenden Semester sollen sie ihre Diplomarbeit schreiben. Mechatroniker sollen es im Sommer sein, die ersten diplomierten in Irkutsk, Ingenieure mit interdisziplinären Fähigkeiten zu Maschinenbau, Mechanik, Sensortechnik, Elektrotechnik, Informatik und Optik, eine Spezialisierung mit viel Potential für die Zukunft, der Studiengang ist vor vier Jahren erstmals angeboten worden. Gefragt, für welche Themen der Abschlussarbeit sie sich eventuell schon entschieden haben oder was sie interessieren würde, antworten alle, dass sie ihr Thema erst nach den Prüfungen im Januar erfahren werden und es sowieso nur im Bereich Maschinenbau oder Elektrotechnik liegen wird. Wieso sie ihre Themen nicht selbst wählen würden? Das wäre, sagt einer, vielleicht eine schöne Idee, aber diese Frage stelle sich gar nicht, der Professor gibt vor und fertig. Und ein mechatronisches Thema? Die Studenten betrachten sehr konzentriert die Maserung der Tischplatte. Wie ihnen denn ihr Studium gefallen habe? Ein verhaltenes Schulterzucken. Dann meint einer, er würde gern weiter den Deutschkurs besuchen. Auf den Gesichtern der anderen zeichnet sich Entspannung ab, Lächeln, Nicken. Hier hätten sie mehr als irgendwo anders über Mechatronik gelernt. Mehr Lächeln, mehr Nicken. Der studienbegleitende Deutschkurs sollte eigentlich ein Fachsprachenkurs sein, extra für den Studiengang gab es ein Austauschprogramm mit Hannover. Ich hatte stets den Eindruck, eher ein technisches Fachseminar anzubieten (Wie funktioniert eine Magnetschwebebahn? Wie arbeitet eine CPU?) und mich gewundert, dass mein eigenes technisches Wissen mit dem der studierenden Spezialisten mithalten kann. Vor 2,5 Jahren trafen wir uns das erste Mal, damals fragte ich sie nach ihren Erwartungen und Zukunftsideen und danach, was sie in Deutsch und von Mechatronik bereits wissen. Damals wurde ich erstmals mit dem mechatronischen Hund konfrontiert. Dieses Wesen tauchte immer dann auf, wenn der Begriff Mechatronik erklärt werden sollte. Ein Roboter in Hundeform, der laufen und seine Umgebung wahrnehmen kann, so dass er nicht vor eine Wand läuft. Anfänglich nahm ich an, dieses technologische Tier wandert zu Lernzwecken hier irgendwo durch die Seminarräume. Recht schnell war klar, dass es für die Studenten eine echte Chimäre ist, etwas das sie nur aus Büchern kennen, an das sie aber fest glauben, dass es irgendwo existiert. Die Studenten sind inzwischen lebendig geworden und reden offen über ihre Erfahrungen: Der Professor, bei dem sie eigentlich jeden Tag Mechatronik als Spezialisierung hätten, erschien im Monat ein halbes Dutzend Mal oder weniger, ansonsten hatte er irgendwas anderes zu tun, war im Garten oder hatte einfach keine Lust. Ein älterer Herr jenseits der Pensionsgrenze, der sich vom Dekanat zu den Stunden mit der Gruppe habe überreden lassen, und dann eben die Sache ein bisschen schleifen ließ. Und ob sie gegen diese Situation bei der Universität protestiert haben, immerhin zahlen sie für ihre Ausbildung nicht ganz wenig? Schon, aber was zähle denn der Protest von einem Häufchen Studenten im Dekanat gegen einen angesehenen, verdienten Professor, überall hieß es nur, man könne jetzt auch nichts tun und habe sie abgewiesen. Immerhin haben sie seit September einen neuen Professor, einen deutlich jüngeren, der auch relativ regelmäßig kommt. Von Mechatronik hat er aber keine Ahnung, dafür erzählt er liebend gern ausschweifend von seinem Leben als Soldat. Er habe nämlich zuerst an der Militärakademie Irkutsk unterrichtet und als diese vor wenigen Jahren geschlossen wurde, kam er an diese Universität. Er könne ein Haus mit nur einer Hand verschieben, war seine bislang eindrücklichste Erzählung, die geht so: Man nehme ein Holzhaus ohne Fundament und eine großen Sack Handgranaten. Unter jede Ecke des Hauses schiebe man eine Granate, entsichere sie gleichzeitig und wenn die Dinger dann explodieren, hüpft das Haus und in diesem Moment kann man es einfach mit einer Hand verschieben, das habe er im Feld gelernt, praktische Ausbildung. Danach zeige er seine Armmuskeln und am Ende der Stunde lasse er die ganze Gruppe hinter den Stühlen strammstehen, damit sie in 10 Sekunden über das in der Stunde gelernte nachdenken können. Anschließend hat sich die Gruppe für den Unterricht stets laut vernehmlich zu bedanken. So gehe bei ihnen Mechatronik, warum sollte man da seine Diplomarbeit schreiben wollen? Und was haben sie für Pläne nach dem Abschluss? Wie sich herausstellte, konnten fast alle ihre Zukunft sehr konkret benennen, einer ging zum Militär, ein anderer machte was im Bereich Bodybuilding, manche strebten ein Doktoratsstudium an, eine arbeitete bereits jetzt schon als Sekretärin bei einer Irkutsker Duma-Abgeordneten, die anderen, eher schweigsamen Mädchen der Gruppe planten eine Familie. Vor 2,5 Jahren wurden von ihnen noch Firmen mit Schwerpunkt im russisch-deutschen Technologietransfer entworfen und sie sahen eine vielfältige mechatronische Zukunft, echte Kosmonautenphantasien begeisterungsfähiger, 18jähriger Studenten. Nachher sind sie aber noch alle rechtzeitig auf den Hund gekommen und das Studium hat ihnen die Flausen aus dem Kopf getrieben. Eine pragmatisch-realistische Einschätzung ihrer Lebenslage ist es, was die Universität den Studenten beizubringen im Stande ist, die rückstandslose Austreibung der Chimären. Denn Mechatroniker mit solider deutscher Fachsprachenausbildung finden in Irkutsk sowieso keine Anstellung.

minimal stories/Russland/Universität

Der Feiertag

Posted by Sascha Preiß on

Montag am Englisch-Lehrstuhl. Dort verfügt man über ganz ansprechende PC-Kabinette, die wollte ich mir für ein paar Tage unter den Nagel reißen. Vergeblich: Die Kabinette sind seit ein paar Tagen ohne Internet und werden wohl auch für den Rest des Monats abgeschaltet bleiben. Nur weil man an einer Technischen Universität arbeitet, bedeutet das nicht, dass die Technik auch funktioniert. Dafür ist im Büro des Lehrstuhls eine Tafel festlich gedeckt. Wem darf man denn heute zum Feiertag gratulieren, frage ich. Na uns allen, antwortet die Lehrstuhl-Älteste, heute ist doch der große Festtag! Offensichtlich scheine ich ungläubig auszusehen. Mit dem Stolz der Tradition ruft sie: Es ist Tag der Revolution, der 7. November! Und gekränkt sinkt sie in ihren Stuhl: Und nicht dieser falsche Tag da. Die anderen Mitarbeiterinnen im Raum nicken verhalten. Dieser beharrende Trotz, Feste zu feiern, die schon längst staatlich überarbeitet wurden, ist auf seine Weise beeindruckend und erweckt in mir Lust auf einen Essay zur ewigen Allgegenwart Lenins und die Werbeplakate der Russischen Kommunisten mit Stalins Konterfei. Aber für solche Kommentare habe ich keine Zeit, ich brauche dringend ein Computer-Kabinett mit benutzbarem Internet-Zugang. Ich habe nicht einmal Zeit, mich zu fragen, was Lenin zu Facebook sagen würde.

minimal stories/Statistik/Ulica/Universität

Postsowjetische Numismatik

Posted by Sascha Preiß on

Seinerzeit, damals, davnym-davno war Mathematik die Königsdisziplin sowjetischer Hochschulen, Kopfrechnen, Algebra, Analysis, Geometrie – seit Beginn der modernen Wissenschaften in Russland unter Peter I. zählte Mathematik zu den Kerndisziplinen der Naturwissenschaften, nur noch übertroffen von der Kunst des Schachspiels. Das goldene Zeitalter der russischen Bildung ist leider längst vorbei, und manchmal scheint man auch ein bisschen zu verstehen, wie grundlegend sich seither der Wille zur Mathematik, an der jeder Sowjetbürger getreu Lenins Auftrag schon im Alltag teilhatte, gewandelt hat. Gestern stolperte ich tatsächlich über eine aus dem Fugenschmutz der Gehwegplatten schimmernde sowjetische Münze – im Wert von 15 Kopeken. Meine Bewunderung für das sowjetische Bildungssystem war umfassend.

Halbe Münzwerte, in der überwiegenden Mehrzahl als 50/100el einer Dezimalwährungshaupteinheit wiedergegeben (z.B. 50 Pfennig, aber auch 1/2 franc †), sind in Europa und weiten Teilen der Welt ebenso gewöhnlich wie Viertel-, Fünftel- oder Zehntel-Münzen (Quarter Dollar, 20 Cent, 10 Lipa). Dass man jedoch auf die Idee kommen könnte, eine Münze im Wert von Drei-Zwanzigstel der Hauptwährung zu entwerfen (zzgl. eines 3-Kopeken-Stücks, also ein Fünftel des Drei-Zwanzigstel-Stückes, das mir bislang aber noch nicht auf den Irkutsker Straßen begegnet ist), ist in der Tat höhere Alltagsmathematik.

Dass es nach dem Ende der Sowjetunion mit der Volksbildung rapide abwärts gehen muss, lässt sich ohne weiteres an den einfallslosen Währungsunterteilungen des russischen Rubel ablesen: Es gibt lediglich 1er und 5er-Teilungen, beginnend von einer und fünf Kopeken (die aber im realen Zahlungsverkehr keine Rolle spielen, statt dessen bei Hochzeiten als „echtes Konfetti“ Verwendung finden), zehn und fünfzig Kopeken, einem und fünf Rubel etc. Einzige Ausnahme aufgrund des häufigen Gebrauchs: die Zwei-Rubel-Münze. Bei soviel numismatischer Ödnis kann das postsowjetische Hirn wahrlich zu keinerlei intellektueller Leistung herausgefordert werden. Doch die Vereinfachung des Währungssystems hat auch pragmatische Gründe, denn bei aller Liebe zur Mathematik sind Kopfrechnenkenntnisse nicht überzubewerten. Denn schließlich gilt: Es gibt keinen Nobelpreis für Mathematik.

Sprache/Universität

Brief an die deutschen Wirtschaftsprüfer

Posted by Sascha Preiß on

Heute habe ich Post bekommen. Bei meiner Arbeit bekommt man durchaus häufiger mal Post. Manchmal auch handgeschrieben oder sogar persönlich überbracht. Letztes Jahr zu Weihnachten klopfte ein Mädchen an meine Tür und gab mir verstohlen-aufgeregt eine kleine Tüte. Ich hatte das Mädchen noch nie gesehen. Sie sagte in gebrochenem Deutsch, dass sie hoffe, es möge mir gefallen, und ging. In der Tüte waren ein Paar Handschuhe, selbstgestrickt, in den Deutschlandfarben und stark parfümiert. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ihr hätte danken können.

Die heutige Post kam schon vor einigen Tagen elektronisch. Eine betrefflose Mail mit Anhang im docx-Format, das landet notwendig erst einmal in der Postfach-Sülze. Trotzdem hab ichs rausgefischt und geöffnet. Die docx-Datei ist auf russisch „an die deutschen Wirtschaftsprüfer“ genannt:

Guten Morgen, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit freundlichen Grüßen Sie aus ein Student der Fakultät „Accounting und Audit“ der Baikalsee staatliche Universität für Wirtschaft und Recht Alexej Stepanowitsch Chudjakow*. Einer These schreibe über die Prüfung, ich eine der Verzweigungen „Audit History in Deutschland“, übergeben die Prüfung auf Deutsch, und wir wollen nicht mit deutscher Wissenschaftler in der Buchhaltung zu sprechen kommen und Überwachung, sollten von der deutsche Professor eingeladen werden

Ich bin zwar ein wenig in Sorge wegen der „Überwachung“, dennoch fand ich diese Post aus irgendeinem Grund bemerkenswert. Die Ermittlungen, worum es sich handelt, sind angelaufen.

(*Name geändert.)

Russland/Universität

Pädagogische Maßnahme

Posted by Sascha Preiß on

Ein junger Student im vierten Studienjahr, nennen wir ihn Sergej, hatte sich als au pair nach Deutschland beworben. Die endgültige Zusage ließ ein wenig auf sich warten, sicherheitshalber hat er sich aber auch schon um ein Visum bemüht. Nach der endgültigen Zusage wird er das Visum abholen und dann sofort einen Flug nach Deutschland buchen. Zusätzlich wird er von der Universität zwei Urlaubssemester erbitten.

In der Nacht zum Donnerstag vergangener Woche klingelte sein Handy, ein etwas nervöser Mensch gratulierte ihm in deutscher Sprache. Wofür, fragte Sergej, außerdem ist es 5 Uhr morgens. Der nervöse Mensch in Westeuropa entschuldigte sich, das sei ihm unangenehm, er habe die Zeitverschiebung nach Sibirien nicht bedacht, aber Sergej könne ab 01.12.2010 als au pair in einem Kinderheim in Jena anfangen.

Ein euphorischer junger Student stürmte zur Universität, ins Dekanat der Fakultät für deutsche Sprache, an der er studiert, um dort alles für ein Akademisches Jahr bzw 2 Urlaubssemester vorzubereiten. Die Dekanin erklärte, dass dazu ein Antrag notwendig sei inclusive Zeugnisskopien und ausführlicher Begründung. Freitag morgen eilte unser junger Student erneut ins Dekanat, um den fertigen Antrag abzugeben. Dort erfuhr er von der Dekanin, dass für die Beantragung eines Akademischen Jahres inzwischen neue Gesetze vorlägen. Darin sei eine Bestimmung enthalten, welche vorsieht, dass nur diejenigen Studierenden, die in sämtlichen Fächern ein „ausgezeichnet“ vorweisen können, überhaupt antragsberechtigt sind. Das, wie sie aus seinen Unterlagen entnehmen könne, träfe auf ihn jedoch nicht zu.

Wie es dem jungen Mann gelungen ist, wissen wir nicht, doch am darauf folgenden Montag hatte er in seiner eigenen Angelegenheit einen Gesprächstermin mit dem Rektor der Universität vereinbart. Entsprechend nervös verließ er den laufenden Unterricht, die gesamte Studienklasse sah ihm fiebrig die Daumen drückend nach. Einige Minuten später kehrte er jedoch sehr geknickt zurück. Der Rektor habe ihm versichert, berichtete er traurig, dass ein au pair-Aufenthalt in Deutschland kein hinreichender Grund für ein Akademisches Jahr sei, selbst für einen Studenten der deutschen Sprache nicht. Er habe ihm daher den einzig möglichen Weg angeboten: sich vollständig von der Universität exmatrikulieren zu lassen und nach Rückkehr das Studium von vorne zu beginnen.

Vier Jahre Lebenszeit standen nun auf dem Spiel, verloren zu gehen. In ökonomischen Werten für die Universität ausgedrückt: 116.000 Rubel Mehreinnahmen, denn 29.000 Rubel / rund 700 kostet ein Jahr Deutschstudium an dieser Universität. Oder aber die Chance auf ein Jahr in Deutschland verstreichen zu lassen.

Die Dozentin bot dem hoffnungslosen Studenten ihre Hilfe an, so gut sie könne. Nach dem Unterricht klopfte sie am Dekanatsbüro und fragte ihre Vorgesetzte, wie es um die Sache ihres Studenten Sergej denn nun bestellt sei und was man tun könne. Die Dekanin erwiderte ihre Frage mit einem außerordentlich breiten Lächeln, nicht ohne Arroganz. Der Student Sergej habe nun einmal keine besonders guten Noten in der Fremdsprache Englisch. Ob das denn für ein au pair-Jahr in Deutschland denn eine Rolle spiele, wollte die Dozentin wissen. Eine grundsätzliche, antwortete die Dekanin. Aber die Kollegin solle sich wirklich keine Sorgen machen, schließlich wisse sie doch, wie man hier solche Fälle verhandelt. Und die Freundlichkeit der Dekanin wuchs mit jedem Wort. Selbstverständlich wird er sein Akademisches Jahr zugesprochen bekommen. Die Universität wollte sich aus guten Gründen ein Bild von ihm machen und nachforschen, warum er nicht vorbildlich lerne. Das sei als pädagogische Maßnahme zu verstehen. Schon morgen wird Sergej ein zweites Treffen beim Rektor haben.

Die Dozentin unterließ es, den jungen Studenten davon in Kenntnis zu setzen.

selbst/Universität

Sechszeiler des Monats

Posted by Sascha Preiß on
Russland/Universität

Das Schloss

Posted by Sascha Preiß on

Und dann kamen wir eines Maientags zu meinem Unibüro. Meine Mitarbeiterin und ich waren etwas bepackt, hatten für eine größere Veranstaltung eingekauft. Sie steckt ihren Schlüssel ins Schloss, es lässt sich nicht öffnen. Ich stecke meinen Schlüssel ins Schloss, das gleiche Ergebnis. Auf dem Korridorboden vor der Tür Späne und die Pappschachtel eines Türschlosses. Offensichtlich ausgewechselt, ohne uns zu informieren. Ratlosigkeit, Nervosität.

Vor zwei Wochen war eine Dame bei mir im Büro, die mich zu überreden suchte, das Büro zu wechseln. Die Uni bräuchte meinen Platz für Verwaltungsdienste und es wäre zwei Etagen tiefer etwas frei, das könne ich haben. Ob denn meine Arbeit so wichtig wäre, dass ich an diesem Platz mein Büro bräuchte, das Büro da unten sei der zukünftigen Mitarbeiterin, die viel mit dem Rektor zu tun haben würde, nicht zuzumuten. Nach Besichtigung des leeren Büroraumes und Rücksprache mit meinen Kollegen lehnte ich ab. Die Dame zeigte wenig Begeisterung, sie würde darüber mit dem Rektor sprechen.

Und dann war das Schloss ausgewechselt. Die Mitarbeiterinnen des Auslandsamtes, die vor einigen Jahren den Raum eigenhändig renoviert und eingerichtet haben, sind aufgebracht. Es werden Telefonate geführt, nicht laut, aber resolut. Wir gehen von einer Diensstelle zur nächsten. Dass die Unileitung derart aggressiv ihre ausländischen Arbeitskräfte umquartiert, kann sich niemand wirklich vorstellen. Ein Einbruch scheint auch nicht stattgefunden zu haben, nach allem, was man durch den Türspalt sehen kann, ist nichts entwendet worden. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass die universitäre Raumplanerin zu Unrecht verdächtig wurde.

Dem Wachdienst lag ein Auftrag vor, das beschädigte Schloss zum Raum I-315 zu wechseln. Offenbar sind die beschäftigten Handwerker der Uni des Lesens und Schreibens unkundig. Mein Büro trägt die Nummer E-315, was eigentlich an der Tür zu lesen ist. Während ich mein Lachen unterdrücke, eilt die stellvertretende Leiterin des Auslandsamtes durch die Gänge, das sei wirklich nicht komisch, sie müsse jetzt ein ernstes Wörtchen mit den Technikern dieses Hauses sprechen. Als sie zurückkommt, drückt sie mir die neuen Türschlüssel in die Hand und entschuldigt sich, ich könne mir kaum vorstellen, wer so alles in der Uni arbeite. Ihre minutenlange Rede kann ich mir nicht merken, sie spricht von Arbeitsmoral, Unfähigkeit und falscher Personalpolitik. Unsere russischen Männer, sagt sie abschließend und klopft intensiv auf das Holz meiner Bürotür. Was solle man von denen schon verlangen. Damit ist die Sache beendet und wir widmen uns der Arbeit.