Wohnt ihr eigentlich in einem Plattenbau?, fragte mich jemand, den ich nicht kannte und der sehr weit weg wohnte, ungeheuer weit hinter dem Horizont, den ich von hier aus sehen kann, wenn die Fenster nicht vereist sind, aber im Internet spielt das ja nur bedingt eine Rolle.
Vermutlich existierte im Fragenden, da er wusste, dass ich in Russland, und zwar ziemlich tief in der finsteren sibirischen Provinz lebte, ein dunkles Imago vom sowjetischen Sozialismus, wie er einem feurigen, dröhnenden, omnipotenten Dämon gleich mit gewaltiger Energie und energischer Gewalt über das riesige Reich gezogen war, sich von den Kremlmauern erhebend, von der Zentrale sich ausbreitend, begleitet von wütenden Propheten und grimmigen Aposteln in allerlei Uniformen, fliegend bis in die trübsten, schlafendsten, totesten Winkel seines Imperiums, und gen Osten entlang der eisernen Ader TransSib rauschend, kreischend, fauchend, ein giftiger Cherub in eiserner Rüstung, und überall, wo es ihm möglich, notwendig oder zu Versuchszwecken angebracht scheint, errichtet er etwas, monströse Werke seines die Natur unterwerfenden Geistes, Industrie, Staudämme, Kraftwerke, umgeben von ins unwürdige Nichts gerammte Plattenbauten als Wohneinheiten, Batterien zur Versorgung der Anlagen mit menschlicher Arbeitskraft. Diese Funktionsbauten prägen den Anblick der sowjetischen Städte bis heute, eine Epoche des maschinellen Fortschritts, erdacht mit der Euphorie technisch zu errichtenden Heils, eine Chimäre der Jahrhundertwende, ausgeführt nach Stalins lang ersehntem Tod, nachdem dieser als Erzengel des Kommunismus tiefe Spuren ins Land furchte, mit Palästen vom Moskauer Erdreich und bis zum Himmel, mit einem blutigen Netz aus Mülldeponien für die Widerspenstigen im restlichen Land. Chrushchows Paläste jedoch sind glanzlos, zwergenwüchsig, grau, trocken, funktional, rational, hässlich, doch belebten sie das Reich und illustrierten den Ausbruch aus dem Frost ins Tauende, Warme, halbwegs Moderne – eine Vision, die sich in den führenden Köpfen des Riesenreiches fast bis zum Schluss hielt als Wandbild, uralte, verschrumpelnde, schimmelnde, halbblinde, taube Köpfe, deren innere Mechanik sich nur unter Umständen bewegte, vielleicht nur mit der tröstenden Kraft des Wässerchens, doch eigentlich lahmte und oft genug still stand wie der ganze verdammte Fortschritt und die scheiß schlechten Autos auf den miserablen Straßen und die rostigen Turbinen in den schon wieder einstürzenden Hallen und zum Schluss nicht mal mehr die Raketen richtig Bock hatten, irgendwohin aufzubrechen, geschweige denn der wegdämmernde, eisern zugehängte, irgendwann einmal neu gewesene Mensch.
Ob wir in so etwas wohnten, wollte der also hinterm Horizont wissen, aber dennoch war ich der Ansicht, die Frage sei irgendwie freundlich gestellt und ernst gemeint, also sah ich einen Anlass, sie zu beantworten: nein. Nicht mehr. Auch wenn wir die längste Zeit unseres sibirischen Lebens in solchen, heute ganz ohne jede nostalgische Verklärung als Viehsilos, Schlafställen benannten Steinquadern verbrachten. Und davor, so wie es auch vor Geburt der Chrushchowkas gewesen ist, lebten wir in einer sibirischen Hütte, ein Babajaga-Häuschen im Stadtzentrum, hölzern, knorrig, mit krummnasigem Charakter, für uns wie für den gar nicht schrumpeligen Alten, der darin hauste, furchtbar liebenswert, eine zu kurze Zeit brachten wir darin zu, als Gäste, und eines dieser meist ungepflegten Schlösschen verbrennt jeden Tag, denn mit dem Geruch von Märchen und Freiluftkloake ködert man heute niemanden, sie verkörpern das Alte, Überkommene, Matschige, Hygienelose, Vorzivilisatorische, Eingeborene, Höhlenhafte, Eiszeitliche, Verachtenswerte, auch wenn sie, sollten sie gepflegt sein oder gänzlich neu errichtet, Schönheit besitzen. Doch meist stehen sie im Weg.
Und damals, zur Zeit der metallischen Visionen, versprachen die aus platten Einzelteilen und im ganzen Land völlig identisch, humorlos, planmäßig errichteten Bauten gegenüber dem sibirischen Holzgehäuse einen wesentlichen Aufstieg, Ansehen, Komfort, Elektrizität und fließend Wasser. Dabei blieb es. Doch die in ihnen lebenden Familien wuchsen und es wurde nicht mehr gebaut, denn die Räder in den Hirnen der Uralten, die an den Hebeln saßen und kaum mehr sprechen konnten, standen still. Also blieben die Familien zusammengepresst in die immer enger werdenden Platten, die einfach nicht aus ihren Nähten platzen wollten, weil sie zu massiv errichtet waren. Erst ganz spät, nachdem das Riesenreich zusammengebrochen war und es wirklich unübersichtlich wurde ringsum, machte es plopp und wer konnte, rette sich irgendwo hin oder machte sinnlos viel Geld mit irgendwas, wahlweise auch sein Unglück oder was auch immer grad greifbar war, erst dann entstanden neue Häuser, die sprossen so hektisch aus dem Boden wie sonst nur die Blumen und Blätter im sibirischen Frühling, und fraßen dabei die Holzhüttchens weg wie warme Semmeln, als gäbe es in Kürze nichts mehr, und neulich stand ein noch nicht alter Mann in dieser Wohnung in der quasi hundertneunzehnten Etage und schaute ganz nach unten und sagte, in dem Haus, das noch bis vor wenigen Jahren da stand, wo jetzt unser ebenso hochaufragendes Nachbarhaus steht, in dem sei er geboren worden und habe sprechen gelernt, aber er empfinde nichts deswegen, er hat auch kein Foto davon und ist schon ganz gut so, wie es ist.
Und wir haben also in der knappen Zeit unserer Anwesenheit alle Stufen sibirischer Zivilisation des 20. Jahrhunderts durchlaufen und können, wenn es Sommer wird und die Flora der Stadt vor Glück explodiert wie sonst nur Immobilienpreise und Feuerwerk, beruhigt ausziehen und das Weite suchen.
Dies ist eine eher uninteressante Ecke in Irkutsk.
Unlängst entstand die Idee, aus der Stadt Irkutsk einen Comic zu machen, konkrete Stilvorgabe keine. Die folgenden Bilder sind stark bearbeitete Fotografien und als Entwurf für den Hintergrund einer nicht näher beleuchteten Geschichte gedacht.
Nachdem in der vorigen Woche in ganz Russland Masleniza gefeiert wurde, bei dem zum Abschluss eine Strohpuppe unter Bitten um Vergebung der begangenen Sünden verbrannt und zugleich auch der Winter verabschiedet bzw der Frühling willkommen geheißen wird, dekorieren auch die Bekleidungshersteller in der Stadt ihre Werbetafeln nun von Pelzmotive auf Frühlingskollektion um. Das mag angesichts enormer Schneemengen auf den Straßen und morgendlichen -25° noch etwas verfrüht erscheinen, doch zur Vorbeugung gegen Depressionen ist es ein wahrscheinlich geeignetes Mittel. Das Model auf dem folgenden Plakat hat vermutlich eine besonders große Masleniza-Puppe verbrannt und die neue Jahreszeit umso intensiver herbeigesehnt, gegen die schier unerschöpfliche Lebens- und Frühlings-Vorfreude, die im einnehmend variablen Minenspiel hervorbricht, ist schließlich (noch) kaum ein Kraut gewachsen:
Hoffen wir, dass das Jahr nach dem 4. März vielleicht sogar noch ein bisschen bunter und munterer werde, als es uns verheißen ist!
(Alexander Kluge zum 80.Geburtstag)
Die alte Biologin wusste aus ihrem Leben vorrangig die Winter zu berichten, als im Tropenhaus des Botanischen Gartens ein Großteil der Pflanzen erfroren. Bei anhaltenden Außentemperaturen von unter -40° hielt die Gebäudeisolierung nicht stand und die Heizanlagen konnten die notwendige Luftinnentemperatur von rund 50° nicht mehr gewährleisten.
– Der Frost ist nicht außergewöhnlich, solche Kälteperioden sind normal im Winter. Auch die Materialermüdung etwa alle 10 Jahre ist normal.
– Sie waren darauf vorbereitet, dass ein Teil Ihrer Forschungsgrundlage regelmäßig vernichtet wird?
– Selbstverständlich. Wobei es uns mit jedem Mal besser gelang, das Sterben aufzuhalten, wenn auch nie ganz zu verhindern. Vielleicht wollten wir das auch gar nicht.
– Sie hatten Interesse am Massensterben?
– Ein emotionales. Es ging um Betreuung.
– Und um den Einsatz für die Wiederbelebung?
– Eher um soziales Verhalten. Aufbau und Erhalt eines botanischen Gartens in diesen Breitengraden ist schön für die Forschung. Starb ein Teil oder war ein großer Teil davon bedroht, konnte ich eine ansteckende Begeisterung bei mir und den Kollegen beobachten, das Aufwallen des Schutz- und Fürsorgeinstinktes, gesellschaftliche Wärme. War der Garten gerettet und verteidigt, nahm das innerkollegiale Interesse ab, die gemeinschaftliche Aufgabe war getan. Die intensiven Tage empfand ich, auch angesichts der Außentemperaturen, als beglückend.
– Die Katastrophe als Katalysator – aber Sie haben nie den Prozess beschleunigt?
– Ich hätte die Heizung abstellen können, ja. Doch Glück kann man nicht verschulden, es muss eintreffen.
– Warum braucht man in einer Region mit mindestens sechs Monaten unter 0° einen tropischen Garten?
– Wer braucht schon Glück, meinen Sie? Es ist ja nicht so, dass strenge Frosteinwirkung automatisch zu gesellschaftlicher Wärme führt. Es kommt auf die glücklichen Umstände an. Ein Ausschnitt aus dem tropischen Klima wirkt wie ein unterhaltsamer Science-Fiction-Film. Die Besucherzahlen sind in den letzten Dekaden stark gestiegen.
– Hat sich der Frosteinbruch in die Tropenhäuser auch gewinnbringend auf Ihre Forschungsarbeiten ausgewirkt?
– Aus wissenschaftlicher Sicht spielt die Beglückung des Forschungspersonals eine zu vernachlässigende Rolle. Wäre ich nicht primär an der Fauna interessiert, wüsste ich es aber sicher besser.
Wesentliche Eigenschaften, ohne welche die Menschheit nicht überlebt hätte, stammen aus der Eiszeit. So z.B. die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt: Grundlage aller GEFÜHLE. Insofern kann man sagen, dass wir Menschen aus der Kälte stammen. Zugleich wird man aber beobachten können, dass Herzenskälte dauerhaft nicht zu ertragen ist. – A.K.
Sportliche Wettbewerbe zwischen Nationen haben ihren ganz besonderen Reiz. Es ist die Zeit des folkloristischen Patriotismus, nationale Klischees und Stereotypen sollen und dürfen hemmungslos ausgelebt werden. Für Fußballspiele internationaler Wettbewerbe kleiden sich Tausende in Trachten gemäß Angebot der regionalen Sportartikelhersteller und schminken sich ihre Landesflaggen auf alle möglichen Körperteile. Und weil die Fußballspieler auf dem Rasen als Nationalmannschaft auflaufen, ist ihr Spiel selbstverständlich stets Ausdruck eines (sportlichen) Nationalcharakters: die Kultur eines Landes offenbart sich immer und überall.
Das jedenfalls muss sich der russische Kommentator für die Live-Übertragung des Qualifikationsspiels Türkei – Deutschland am 7.Oktober 2011 in Istanbul gedacht haben. Seine Beschreibung und Analyse des von Thomas Müller erzielten 2:0 ist eine wunderschöne Definition dessen, wie Deutschland von Russland aus gesehen wird: Mit Bewunderung, aber ohne Begeisterung, weil Deutschland eine Aura klinischer Strenge umgibt. Während der Angriff, der zum zweiten deutschen Tor führt, vorgetragen wird, philosophiert der Kommentator darüber, was Joachim Löw am heutigen Spiel seiner Mannschaft alles nicht gefallen könnte. Doch als es plötzlich 0:2 steht, folgt die Analyse, gleichsam eine Epiphanie deutschen Nationalcharakters.
Der Wortlaut des Kommentars ab Sekunde 16 im Video: „Ein typisch (reines) deutsches Tor, wieder einmal. Wobei das in erster Linie nicht nur auf die Ausführung des gesamten Angriffs zutrifft, den haben die Deutschen wieder einmal ziemlich frisch vorgetragen, so wie die deutsche Auswahl derzeit spielt. Aber dann der letzte Schuss von Müller – das ist ein typisch deutsches Tor. Ohne irgendwelche Effekte, ohne besondere zusätzliche…. wie kann man das sagen… Schönheiten, oder so. Einfach Müller, ganz exakt, und mit dieser chirurgischen Genauigkeit rollt der Ball ins lange Eck.“
Ich finde das einen nachahmenswerten Ansatz für die Entwicklung der Sportreportage. Keine Analyse nach sportlichen Gesichtspunkten, sondern ein Hohelied auf nationale Charakteristika. Sollte sich die russische „Sbornaja“ für die EM 2012 in Polen und der Ukraine qualifizieren, wonach es derzeit aussieht, werde ich mich also bereits jetzt auf Reportagen freuen wie: „Ein Tor wie im Wodkarausch! Eine klassisch russische Ballstafette, matroschkahaft und balalaikaleicht dargeboten, ein wütend tänzelnder und kaum mehr nachvollziehbarer Weg durch die russischen Instanzen. Und der Abschluss von (Arschawin z.B.) gelang herrlich besoffen und voll des Glanzes orthodoxer Zwiebeltürme…..“
Aus alt wird neu: Die typisch sibirische Holzhaus-Architektur verschwindet aus Alters- und Kostengründen aus den sibirischen Innenstädten. Es entstehen zentrumsnahe Wohnsilos. Eine kleine Fotoreihe aus dem Irkutsker Stadtzentrum vom 26. August 2011.
Schmetterlinge sind eine feine Sache. Wenigstens solange sie das tun, was man von diesen Viechern erwartet: möglichst bunt durch sommerliche Gegenden flattern und sich von Sammlern in Styropor-Glas-Vitrinen aufnadeln lassen. Dann gibt es aber leider auch noch Schmetterlinge, die irgendwie anders drauf sind und Ärger in der urbanen Botanik verbreiten. Seit Jahren schlägt man sich z.B. in Europa mit Miniermotten herum, welche vorrangig die erhabenen Rosskastanien zu unansehnlichen Greisen zerfressen. Zur Behandlung der kranken Bäume gehen Natur und Chemieindustrie eine ganz ansehnliche Symbiose ein (Sexuallockstoffe!), dass man glauben mag, der unansehnliche Falter möge sich eines Tages doch verpisst haben.
Vor einem ähnlichen Problem steht nun auf einmal Irkutsk: zum Auftakt der Tourismus-Saison spinnen irgendwelche dämlichen Schmetterlingsinsekten in der Stadt herum, im wahrsten Wortsinn.
Inwieweit sich die Irkutsker Stadtverwaltung mit subtil-biologischer Schmetterlings-bekämpfung beschäftigen wird, lässt sich zweifelsfrei erahnen: Für die Behandlung von ca 40.000 von Gespinstmotten befallenen Bäumen (Stand: 15.06.) stehen 700.000 Rubel zur Verfügung, ca. 17.500 Euro. Da es der mit der Behandlung beauftragte Dmitri Kakunin als stellvertretender Vorsitzender der Abteilung für Straßenbau und Transportwesen der Stadtverwaltung nicht so genau nimmt mit der biologischen Klassifizierung des Übeltäters – der Artikel spricht von Läusen, wobei das Krankheitsbild der vorrangig befallenen Apfelbäume sehr augenscheinlich nicht auf Läuse hindeutet -, wird sich wohl auch die Wahl der Bekämpfung auf entsprechend gezielte Maßnahmen beschränken: Chemie ist vergleichsweise effektiv, zudem schnell und billig. Und noch billigere Gastarbeiter erledigen eifrig alles, womit sich sonst niemand die Bronchien versauen möchte. Wie genau die Behandlung der massiv befallenen Bäume aussehen wird, ist aber noch längst nicht entschieden, für Sofortmaßnahmen lässt man sich sicherheitshalber 2-3 Wochen Zeit. Täglich sind damit mehr Bäume eingesponnen und die knapp bemessene Summe – bei 40.000 Bäumen kostete die Behandlung eines Baumes 2,30 € bzw 92 Rubel – schrumpft weiter. Bleibt zu hoffen, dass Irkutsk ähnliche Bilder wie aus dem kroatischen Osijek erspart bleiben, als man dort schnell und günstig gegen zu viele Mücken vorgegangen ist:
Fragen nach Ursachen des massiven irkutsker Befalls, insbesondere in den zentrumsfernen „Schlafsilobezirken“ Novo-Lenino und Irkutsk-2, sind im übrigen noch nirgendwo angesprochen worden. Aber muss ja auch nicht. So ein paar olle Schmetterlinge bekommt man schon irgendwie klein, wetten?
So sauber hat man die Stadt lange nicht gesehen. Gefegte Wege und Straßen, leere Mülleimer, keine parkenden Autos in der Innenstadt. Da wird deutlich, wie eng die meisten Gehwege für Fußgänger sind und dass die Bäume noch immer nicht grünen, trotz seit Tagen frühlingshaften Temperaturen. Aber die Sonne scheint. Und überall stehen Polizisten, alle 100m. Unter der uniformierten Beobachtung läuft der Verkehr heute entschleunigter, weniger gehetzt. Und weil die Wege frei sind (mit Ausnahme der unbeobachteten Seitenstraßen) und alles ruhig rollt, wird die Stadt einen ihrer ganz seltenen unfallfreien Tage erleben. Wenigstens solange der russische Präsident noch in Irkutsk weilt.
Für den Staatsoberhauptsbesuch wirft sich die Stadt in ihren seriösen, zivilisierten Anzug. Ein bisschen aufgehübscht hat man sich, ein paar Straßen werden ausgebessert, Geländer gestrichen, Brücken gereinigt. Obwohl Medwedjew nicht eigentlich die Stadt oder gar deren Bewohner besucht, sondern die örtlichen Institutionen. Ein nächtlicher Ausflug ans Angara-Ufer, begleitet vom Gouverneur des Gebietes, ist der einzige realte Ortskontakt. Kein Menschenbad, kein Händeschütteln oder Winken, kein Fabrik- oder Schulbesuch. Statt dessen in der langen schwarzen Limousine durch die Leninstraße zum Administrationsgebäude, von diesem oder jenem Ausflugsziel am Baikal kommend.
Eher zufällig gerate ich in die Zeit, als die Innenstadt vollständig abgesperrt wird für die Durchfahrt der Präsidentenkolonne. Für etwa eine Stunde kommt im Zentrum nahezu alles zum Erliegen. Die meisten können auf die Behinderungen und Wartezeiten in ihrem Tagesrhythmus liebend gern verzichten. Wenn sie könnten, würden sie alle aufs Land fliehen. Der Busfahrer, dessen Fahrzeug wie alle anderen in den völlig verstopften Nebenstraßen stecken bleibt, verabschiedet mich beim Ausstieg: „Richten Sie Ihre Danksagungen an Präsident Medwedjew!“ Popularität sieht anders aus. Die ist wohl kaum das Ziel der Reise. Das Staatsoberhaupt hat den Innenminister, den Justizminister, die Gesundheits- und Sozialministerin, den Minister für Sport, Tourismus und Jugend, den Bildungsminister und den Minister für Kommunikation und Medien nicht für ein Bad in der Menge mitgebracht. Medwedjew will arbeiten. Unter anderem gilt es, mit vereinten Kräften den Kampf gegen die Drogenabhängigkeit der russischen Jugend aufzunehmen. Ein Thema, das nicht zufällig in Irkutsk auf die Agenda Russlands kommt. Das Irkutsker Gebiet gilt als eine der Hochburgen in Russland mit zweimal mehr Abhängigen als im gesamtrussischen Durchschnitt. In Russland werden nach offiziellen Zahlen mindestens 2,5 Millionen Drogenabhängige vermutet, von denen 70% unter 30 Jahre als sind – mit entsprechend hoher Sterberate. Russland bekommt auf diese Weise ein gewaltiges demographisches Problem. Medwedjew sucht nun, die Kräfte gegen die Abhängigkeit zu vereinen, sieht es als gesamtrussische Aufgabe und fordert zunächst einmal Tests von Schülern, das Sperren von Webseiten mit Anleitungen zur eigenen Drogenproduktion, und denkt über die Einführung einer Zwangsbehandlung anstelle von Gefängnisstrafen für Abhängige und Drogenkonsumenten nach.
Eine Studentin sagt, Medwedjew sei ihr zu kompliziert, sie mag Putin mehr, der ist einfach, volksnah, verständlich. Aber sie nehme auch diesen, denn alle russischen Präsidenten, hieße es ja, wären von Gott gesandt. An der Leninstraße sind einige hundert Menschen versammelt, die meisten einfach Passanten mit irgendeinem Ziel, dass sie nun zu Fuß erreichen müssen. Die einzigen sichtbaren Fahnen sind in den Händen von Mitgliedern der kommunistischen Partei, manch einer schwenkt die Fahne der Sowjetunion. Ansonsten spannungslose Ruhe, Verkehrspolizisten und stetig weiterschaltende Ampeln, rot, grün, rot, in den Seitenstraßen unendlich viele Fahrzeuge. Der perfekte Moment für einen Häuserbrand, die Feuerwehr hat keine Chance. Über der Stadt liegen dunkle Nebel, die Sonne ist auch verschwunden, kalter Wind kommt auf.
Und dann fährt ein Polizeiauto mit Blaulicht entlang, ermahnt die Fußgänger, die Straße nicht mehr zu betreten. Es ist das Zeichen, woraufhin alle ihre Mobiltelefone ziehen und die anrollenden Fahrzeuge filmen. Aus der Ferne nähern sie sich, rund 20 Autos fahren rasch vorbei. Und als sie vorüber sind, gehen die Menschen weiter, dann strömen aus allen Nebenarmen die Verkehrsfluten hervor und donnern durch die Straßen, solange bis wieder abgesperrt wird, wenn des Gesandten Arbeit getan ist und er weiterfährt.