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Ästhetik/Irkutsk/Ulica

Streetview Irkutsk

Posted by Sascha Preiß on
Anti-Terror/Ästhetik/Russland

Das Patriarchat schlägt zurück

Posted by Sascha Preiß on

Folgendes wird momentan in Russland ernsthaft diskutiert (etwa in TV-Talkshows):

Sollte in Russland ein Dress-Code für Frauen eingeführt werden?„:

http://www.irk.ru/news/20110202/dresscode/ bzw:

http://www.i38.ru/obschestvo-obichnie/irkutskaya-eparchiya-dress-kod-dlya-zhenschin-neobchodim-vezde-ot-detskogo-sada-do-plyazha

Kurzübersetzung des Artikels von irk.ru: Die Erzpriester der orthodoxen Diözesen, gemeinsam mit einigen Mufti, Psychologen und – selbstredend – der Mode-Industrie schlagen lautstark Alarm: auf „v Kontakte“, dem russischen Facebook, würden u…nansehnliche Fotos von Frauen am Strand gezeigt. Bei manchen Usern habe man bereits erfolgreich auf Löschung der Bilder drängen können. Nach Meinung des Irkutsker Erzpriesters Vjacheslav Pushkarev (im Bild) „versinnbildlichten heutige russische Frauen damit alles, was im Land los ist: Geschmacklosigkeit, Kulturlosigkeit, Egoismus, Arroganz gegenüber anderen“. Deshalb sei für die Frauen ein Dress-Code „vom Kindergarten bis zum Strand“ unabdingbar.

Meine Herren, Russland erwartet Ihre Vorschläge!

Mädchen bitte hübsch und ordentlich kleiden.

Bildquelle: commons.wikimedia.org

Ästhetik/Kulinarisches

33 Stunden später

Posted by Sascha Preiß on

Gegen 03:45 Uhr war ich zur Überzeugung gelangt, dass es definitiv unmöglich sei, auf mechanischem Weg eine künstliche Intelligenz als Kopie aller Funktionsweisen des menschlichen Gehirns zu erschaffen. Dafür war dieser Nervengewebshaufen im Kopf schlicht zu effektreich.

Wohl gegen 03:15 Uhr war ich in der trockenen Raumluft mit Durst aufgewacht, stand auf, etwas zu trinken, legte mich wieder hin zum Weiterschlafen. Und dann fiel mir die Antwort auf eine Frage von vor 33 Stunden ein. Eine Antwort, die im Fernsehen vielleicht 500.000 Euro wert sein könnte, vollständig belanglos und unnütz: Wie heißt das Sushi, das aus einem fingerdicken Reisblock besteht und mit Fisch, Meeresfrüchten oder Omlette belegt wird (zzgl vier Antwortmöglichkeiten)? Selbstverständlich klang die mir damals gestellte Frage etwas profaner: Wie heißen diese Teile da (zzgl dem Zeigefinger auf die Deko an der Wand)? Dass das Hirn sich 33 Stunden mit derartigem Scheiß beschäftigt, um dann schließlich und unerwartet die Antwort auszuspucken, mitten in die Nacht hinein selbstverständlich, während der Schlafphase plötzlich den Hirnträger mit völlig kontextlosen Wörtern und Erkenntnissen befällt, dass der vom Schlaf abgehalten wird, weil er dieses Stück Geistesblitz irgendwo einsortieren muss, verdammte somnambule Kopfpuzzlelei – das muss man als Hirnforscher und Roboterdesigner erstmal hinkriegen.

Vor 33 Stunden saßen wir in einer kleinen Sushi-Bar, die vom Interieur an Berlin Mitte um 2000 erinnerte. Trocken funktional, Grundfarbe grau, indirektes Licht mit Farbeffekten, erlesen-luftige Speisekarte, das Ganze mehr Design als Charakter. Wenn man gezielt am „Fila-Boom“ vorbei auswählte (Sushi incl. Philadelphia-Frischkäse, sehr eklig, in Irkutsk durchaus häufig), konnte man trotzdem gut essen. Und an der Wand, um den großen Fernseher mit Japan-Werbevideo herum, Plaste-Sushi aus dem Schnick-Schnack-Laden, Lachs, Tunfisch und Krebs. Und ich wusste nicht mehr, wie diese Dinger hießen. Aber mir war das wirklich egal. Doch obwohl wir beim Hinausgehen fanden, dass diese Bar nicht unser beliebtester Laden in der Stadt werden würde, schien sie ausreichend Eindruck hinterlassen zu haben, dass die unbeantwortete Frage in meinem Zentralnervensystem weiter umhergeisterte, „bohrend“. Daran konnten keine wunderbare sowjetische Komödie von 1968, gesehen mit Freunden am gleichen Abend, oder die Zubereitung von Gulasch am folgenden Tag oder stundenlanger Besuch etwas ändern. Und ja, auch beeindruckend wiederum so ein Hirn, ausgeklügelte Effekte wie plötzliches Nicht-Mehr-Wissen, Black-Out und Mir-liegts-auf-der-Zunge, dann aber doch Jetzt-hab-ichs, unerwartetes Erinnern und Geistesblitz, weil irgendwo im Verborgenen und Hintergrundrauschen an irgendwelchen Synapsen still und gemütlich die Transmitter von Axon zu Dendrit wanderten – – – Ich möchte den Roboter sehen, der nachts aufwacht und „Nigiri“ sagt.

(Bildquelle: Wikimedia)

Ästhetik/Transsib

Inneneinrichtung (nature morte)

Posted by Sascha Preiß on

Über dem Bett in der Ablage befindet sich eine Komsomolskaja Prawda, ausgelesen, das Kreuzworträtsel gelöst, zusammengefaltet. Der Beginn eines Artikels aus der Rubrik Ich verstehe das nicht ist zu erkennen, zu der Frage, warum Kleinkinder als erstes „там“ = „da“ sagen. Der Rest der Zeitung ist verdeckt von einer Illustrierten unbekannten Namens, ebenfalls zusammengefaltet, eine junge Frau lächelt herab. Dazu sind in der Ablage zwei Plastetüten, gelb und dunkelblau, ebenfalls gefaltet, weiterhin ein zusammengerollter Gürtel, ein benutztes Taschentuch, eine Rolle Klopapier, weiß mit lila Blumen, perforiert, außerdem hängt ein Stift herunter.

Rechts neben der Ablage über dem Bett ist eine Metallstange an das braune Sprelacart mit Holzmuster angebracht, über der ein kleines, rauhes Stofftuch hängt, ein weißes Leinen, blau gestreift, gestärkt. Das Tuch ist Bestandteil des Bettwäschepaketes und dienst als Handtuch. Es ist ordentlich gefaltet und aufgehängt.

Links neben der Ablage, die aus einem gebogenen Metallrohr besteht, das ein ca 15x50cm großes Rechteck ergibt, mit einem dazwischen gespannten Stoffnetz, und an zwei kleinen Halterungen an der Wand befestigt ist, befindet sich ein Haken. Daran hängt eine schwarze Plastetüte mit etwas Essbarem darin, aufgrund der Ausbeulungen vermutlich Waffeln oder Kekse in größerer Stückzahl. Darunter hängt eine farblos durchsichtige Plastetüte, in ihr sind zwei Äpfel, zwei handlange Gurken, ein großer Löffel und ein Portionsbeutel Instantkaffee. Die Henkel der beiden Tüten sind gedehnt, diese Tüten befinden sich seit längerer Zeit an ihrem Ort.

Zwischen die Matratze des darüberliegenden Bettes und dem etwa 15cm langen, 5cm breiten Metallhaken zur Auflage desselben neben dem Fenster an der Stirnseite des Bettes ist eine weitere Plastetüte eingeklemmt, darin befinden sich einige Birnen, ein Sechserpack Eier aus Pappe und weitere Gurken. Die Tüte hängt etwas höher als die benachbarten beiden, aber zentral über dem Kissen bzw über dem Kopf der schlafenden Person. Das Kissen selbst ist, wie auch die ausrollbare Schlafmatratze, mit dem weißen, blaugestreiften Leinen bezogen, aus dem auch das Handtuch gefertigt ist. Unter dem Kissen, nicht auf den ersten Blick erkennbar, ist die schwarze abgegriffene Handtasche, darin alle Wertsachen, die Geldbörse und der Pass der Reisenden verborgen.

Unter dem Bett, an der dem Fenster zugewandten Seite, neben der Box für Reisegepäck, die von der klappbaren Matratze verschlossen wird, stehen als Vorrate ungeöffnete Lebensmittel, eine Reihe Tetrapacks für Milch und Kefir und eine metallene Brotdose.

Am Fußende des Bettes, auf der Matratze, steht die schwarzweiß gemusterte Waschtasche, vor dieser liegt ein in eine Plastehülle gesteckter, mehrseitiger Internetausdruck des Zugfahrplans mit allen Haltepunkten, der jeweiligen Ankunft- und Abfahrtszeit sowie die Aufenthaltsdauer (in Minuten). Zusätzlich liegt ein altes Reisehandbuch bereit, das vermutlich alle Strecken der sowjetischen Bahn verzeichnet, als rote Linie in schematische Karten gezeichnet, an deren Verlauf die Haltepunkte und größere Gewässer zur Orientierung eingetragen sind. Das Buch ist aufgeschlagen auf der Seite, das den Streckenverlauf zwischen Krasnojarsk und Irkutsk wiedergibt. Befindet sich die Reisende im Abteil, liegt darauf eine Zigarettenpackung Chesterfield Gold.

Am Kleiderhaken neben der Abteiltür, auf einem zugeigenen schwarzen Plastebügel, ist ein dunkelgraues T-Shirt aufgehängt, darüber eine leuchtend hellgrüne Allwetterjacke.

Auf dem Tisch ist eine schneeweiße Tischdecke ausgebreitet, darauf liegt eine nicht gefaltete, ebenfalls ausgelesene Komsomolskaja Prawda, als Unterlage zur Schonung des hell leuchtenden Stoffes. An vorderer Tischkante und der dem Bett zugewandten Seite liegt eine ältere Ausgabe von Charlotte Brontes Jane Eyre in unbekannter russischer Übersetzung. Das Buch ist in Kunstleder mit einem ähnlich braunen Farbton wie die Abteilwände und -gardinen gebunden, Titel und Autorin waren einst mit goldenen Lettern in den Einband geprägt. Als Lesezeichen schaut am oberen Seitenrand, etwa in der Mitte des Textes, ein sauber zusammengefaltetes orangefarbenes Bonbonpapier heraus. Auf dem Buch liegt eine Lesebrille auf dem Rücken, die Bügel geöffnet. Hinter dem Buch, näher zum Fenster, steht linkerhand eine farblose Plasteschale, geöffnet, der Deckel liegt darunter. In ihr befindet sich ein Teil einer vor längerer Zeit angeschnittenen, leicht fleckigen gelben Birne, die Schnittflächen sind ebenfalls etwas gebräunt. Das Messer, ein kleineres Küchenmesser mit schwarzem Griff, liegt daneben. Rechterhand steht eine halbhohe, alte Emaille-Tasse, weiß, mit einem frühlingshaften Motiv, ein Reh trifft ein junges fröhliches Mädchen auf einer saftigen Wiese. Am Rand ist an manchen Stellen die Emaille-Beschichtung deutlich sichtbar abgeschlagen. Ein kleiner Löffel steckt darin. Dahinter sind einige auf der Zeitung liegende Teebeutel zu erkennen, sehr wahrscheinlich grüner und schwarzer Tee. Diese Dinge sind mit einem offenbar für diesen Zweck mitgeführten Leinentuch bedeckt, sehr wahrscheinlich ein abgerissenes Stück eines alten Kopfkissens oder Bettwäschebezuges. Am Fenster, noch auf der Zeitung stehend, eine angefangene Bierflasche unbekannter Marke, die zur Hälfte geleert ist und deren vom Öffner halbseitig nach oben verbogener Kronkorken wieder als Verschluss aufgesetzt wurde. Das Bier steht seit geraumer Zeit unberührt, schaumlos und zimmerwarm. Während meiner 18stündigen Anwesenheit im Coupéabteil 5 des Waggon 8 ändert sich die Position der Bierflasche nicht. Neben ihr befindet sich die rote Pappschachtel für die Teebeutel. Der Rest der Tischfläche ist frei.

Unter dem Tisch, an der die Tischplatte tragenden Metallstange ist ebenfalls eine durchsichtige Plastetüte befestigt, in der sich kleine getrocknete oder geräucherte Fische befinden. Diese Tüte schaukelt in den Fahrtbewegungen des Zuges, macht dabei aber keinerlei Geräusch. Ebenfalls unter dem Tisch, jedoch auf der Heizung, in unmittelbarer Nähe zum Kopfkissen, stehen einige Schachteln, u.a. eine gläserne Dose Nescafé, dazu eine Pappschachtel, in welcher die schwarzen Schalen der Sonnenblumensamen (aus welcher Tüte?) während der Lektüre von Jane Eyre aufbewahrt werden.

An der Metallhalterung der Matratze des gegenüberliegenden Doppelstockbettensembles ist eine weitere Plastetüte angebracht, darin steckt ein einzelne größere Forelle, geräuchert. Ein Teil ihres Fettes ist in der Wärme des Raumes zu einer bräunlichen Soße zerlaufen, in welcher kopfüber der Fisch hängt. Der Boden der Tüte ist vom Maul des Fisches an einer Stelle deutlich gedehnt, doch sie reißt nicht. Der Geruch des geräucherten Tieres hat sich in der Raumluft ausgebreitet.

Die Frau, die ihre Reiseutensilien auf solche Weise im Abteil verteilt hat, ist geschätzte Mitte 60 und wohl erfahrene Zugreisende. Ihren Platz, diesen Platz, scheint sie für ihre 7tägigen Fahrten von Moskau nach Blagoweshzhensk (und wieder 7 Tage zurück) stets in diesem Abteil zu reservieren. Von diesem Abteil werden nur zwei der vier Plätze verkauft, die frei bleibenden Betten sind Notunterkünfte für Milizionäre oder besondere Zugbegleitung, falls diese nach Meinung des Zugführers notwendig werden sollte. Da die Frau auf diese Weise meist allein in ihrem Abteil reist, hat sie für Stationen, an denen sie während längerem Aufenthalt aussteigt, um zu rauchen oder etwas Essbares zu kaufen, einen eigenen Vierkantschlüssel mit, der genau zum Schloss der Abteiltür passt, um das Coupé zu verschließen. Wie eine Wohnung.

Ästhetik/Interkultur/Liljana/selbst

Eine Geschmacksfrage

Posted by Sascha Preiß on

Zur Ausgestaltung des Kinderzimmers haben wir ein paar Regale gekauft. Wie fast alle Einrichtungshäuser in Irkutsk bietet auch die „Welt der Möbel“ mehrheitlich einheimisch produzierte Ware zum selbst Zusammenbauen für Kunden mit Geld und Jevro-Geschmack, was bedeutet: Es sollte europäisch wirken, stilvoll sein und dabei teuer aussehen. Wir suchten eher schlichtes Mobiliar und fanden zwischen den bunten Modell-Kinderzimmern zwei Regale mit farbigen Schalen anstelle von Schubfächern. Beim Aufbau zu Hause stellten wir fest, dass wir Ikea-Mobiliar gekauft hatten. In einer Stadt, von der die nächstgelegene Filiale 1600km entfernt liegt, ist das möglicherweise ein Glücksfall. Bislang war uns nur ein Händler bekannt, der einige wenige Möbelstücke von dort importiert und zu überhöhten Preisen anbietet.

Dass sich unser Geschmack, inmitten eines russischen Möbelgeschäftes, inmitten für russische Kunden konzipierten Möbeln, dann doch sehr zielstrebig und ohne echten Widerstand für Ikea-Möbel entschied, erstaunte mich. Ist es nun so, dass unser ästhetisches Empfinden in Deutschland am allgegenwärtigen Ikea-Design geschult wurde, so dass uns selbst in fremder Luft wenig anderes mehr akzeptabel erscheint? Wären wir überhaupt in der Lage gewesen, eine andere Geschmacksentscheidung zu treffen? Ist ein anderes Empfinden jetzt noch lernbar? Möglicherweise irritierte mich auch weniger die Tatsache, dass Emotionen erlernte Handlungen sind, als vielmehr, dass auch wir – sogar unbewusst – in der Fremde die uns bekannte Wohnwelt nachahmen, konservieren. Dass unsere Risikobereitschaft zur Aufnahme nicht-eigener Emotionalität nicht allzu hoch zu sein scheint.

Ist das aber wirklich problematisch?