Ein bisschen Theater

Vergangene Woche war schön: Kulturtage. Hatte mir dafür einen sehr alten, sehr guten Freund eingeladen, Micha, die Hauptattraktion. Schauspieler am Berliner Ensemble. Machte seine Drohung wahr, eigens für Sibirien Gogols „Notizen eines Irren“ zu inszenieren. Wahnsinn, wirklich. Eine Freundin nannte es mutig, denn Gogol sei als zweitklassischster aller russischen Autoren (hinter dem Premiumklassiker Puschkin, der mitten in der Woche Geburtstag hatte und reich beschenkt wurde) ein seit der Schulzeit endgültig ausgelegter Autor, konkrete Bilder im Kopf, konkrete Erwartungshaltungen, wie ein Petersburger Beamter des Zarenreiches auszusehen und sich zu bewegen habe. Die Interpretation des Deutschen treffe das ziemlich sehr überhaupt gar nicht, doch interessant sei es allemal. Eine andere Freundin machte sich voller Bewunderung ernste Sorgen um des Schauspielers Gesundheitszustand: Jemand, der so sehr am Wahn gearbeitet hat, kann doch nicht so ganz ohne davonkommen!

Und zwei Tage später eine Lesung. Brecht, Müller, Brasch. Lyrik im Minenfeld zwischen sozialistischem Idealismus und sich entfremdenden Individuum. Bislang unübersetzt, beinah unübersetzbar. Interessiert das heute noch irgendwen, dieses verstaubte Stück deutsche (osteuropäische) Geistesgeschichte. Doch hatte ich mich vorher einer unfassbar guten Fee erinnert: Alexandra. Die nahm sich Urlaub vom Leben und zauberte sich als des Schauspielers unfehlbare Begleitung in die Welt. Probte mit Micha. Synchrondolmetschte Gogols Erzählung zwei Abende hintereinander. War einen vollen Tag Reiseleiterin. Übersetzte am nächsten Vormittag 50 deutsche Gedichte. Mindestens: Hut ab, aber Hallo, und allertiefste Verneigung.

Und dann war da noch Nadja, junge Dramaturgin am Irkutsker Schauspielhaus, wo die drei Abende (2x Gogol, 1x Lesung) stattfanden. Noch so eine gute Fee, mitten im regnerischen, frühsommerlichen Irkutsk. Sie half bei der ganzen Organisation am Haus. Alles tolle Leute, von der Kartenverkäuferin übers Wachpersonal bis hin zu Schauspielern und Administration. So sehr willkommen und entspannt habe ich mich auf Anhieb nur ganz selten gefühlt. (Sophia, die in Chabarowsk lebt, bestaunte stets die Freundlichkeit in der Stadt: lächelnde Kellnerinnen!) Und weil Micha gestern schon wieder zurückgeflogen war, gab ich Nadja heute seine Geschenke, garniert mit einem großen Blumenstrauß. Und jetzt bin ich eingeladen, im August in Bolshoe Goloustnoe, meinem Lieblingsort am Baikal, einen mehrtägigen Improtheater-Workshop mit Irkutsker Schauspielschülern zu leiten. Ich kann so schlecht Nein sagen.

Und wie wir so im Büro des Theaters saßen, redeten wir über Theater und Autoren. Der bekannteste Irkutsker Dramatiker ist der früh gestorbene Alexander Vampilov, dessen Werke in der Tradition Tschechows stehen (dem drittklassischsten russischen Autor). Vor dem Schauspielhaus steht ein Denkmal, das Theater des Jungen Zuschauers trägt ehrvoll seinen Namen, stets findet sich mindestens eines seiner Werke auf dem Spielplan. Auch in Deutschland wurde er bereits gespielt, allerdings vor einiger Zeit. Und ich bemängelte, dass derzeit in den Irkutsker Buchläden kein Vampilov erhältlich ist. (Da sieht es in Deutschland besser aus, auch wenn es keinen zu interessieren scheint.) Und sofort ging Nadja im Raum auf die Suche. Und ich wusste, ich komme hier nicht buchlos raus. Und mir war das peinlich. Kurz darauf jetzt hielt ich Wampilows Texte in den Händen, eine längst vergriffene (4000 Exemplare), umfangreiche Ausgabe des Irkutsker Vampilov-Fonds von 2002, und fühlte mich ein bisschen wie ein Dieb. Aber wie ein glücklicher. So ein tolles Geschenk habe ich lange nicht mehr erhalten (und ich habe hier sehr viele sehr tolle Bücher geschenkt bekommen).

Alexander Vampilov - Dramaturgisches Vermächtnis. Irkutsk 2002.

Alexander Vampilov: Dramaturgisches Vermächtnis. Irkutsk 2002.

Und nun, nach dieser tollen letzten Woche, ist Zeit nur mehr Frist, es bleiben weniger als 3 Wochen bis zu unserer Abreise. Auch wenn ich im August noch einmal hier bin: Wir werden viele sehr gute Freunde verlassen.

PS bzw Anregung zur Aufheiterung: Ich würde mich riesig über die DDR-Ausgabe von Wampilows Dramen freuen: A.W.: Stücke. Verlag Volk und Welt, Berlin 1976.

Большое спасибо.


Sascha Preiß

http://www.pselbst.de

siehe http://www.pselbst.de/irkutsk/uber-mich/

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