Die geleugnete Epidemie
Es ist seit vielen Jahren ein furchtbar trauriges Bild, das Sibirien abgibt in Sachen AIDS. Vor neun Jahren schrieb ich über HIV in der Stadt, verändert hat sich seither genau nichts. Im Gegenteil, die Weltgesundheitsorganisation spricht inzwischen aufgrund der enormen Anzahl Infizierter von einer Epidemie – Änderung nicht in Sicht.
Der Oblast Irkutsk, ein Bezirk im Süden Sibiriens, der größer ist als Großbritannien, in dem aber nur knapp 2,4 Millionen Menschen leben, ist eine der Regionen, die am schlimmsten betroffen sind. Hier ist fast jeder Fünfzigste HIV-positiv. Damit liegt die Zahl deutlich über dem Grenzwert von einem Prozent der Bevölkerung, ab dem UNAIDS von einer Epidemie spricht.
Dass die Infektion oft mit Drogenkonsum einhergeht, erleichtert den Zugang zu rationalen Lösungen nicht gerade. Tatsächlich aber wird das Virus inzwischen hauptsächlich auf „natürlichem“ Weg übertragen, doch Aufklärung ist kaum vorhanden.
Der Mangel an Informationen führt dazu, dass Verschwörungstheorien zu HIV in Russland weit verbreitet sind. Im April letzten Jahres machte eine Nachricht aus Irkutsk international Schlagzeilen. Ein Baby mit HIV starb, weil seine Mutter das Virus für einen Mythos hielt und eine Behandlung verweigerte. Aber auch unter Wissenschaftlern findet man solche Stimmen. Einer der bekanntesten HIV-Leugner, der Pathologe Vladimir Agejew, bezeichnete das Virus als „ungeheuerliche medizinische Mystifizierung“. Er lehrt an der Medizinfakultät in Irkutsk.
Und ob Verschwörungstheorie oder religiöse Erklärungen – AIDS ist ein Stigma und eine Auseinandersetzung mit dem Thema findet nach wie vor nicht statt.