Boris Strugatzki über das Einfache am Faschismus. Ein warnender Essay aus dem Jahr 1995.
Boris Strugatzki, November 2012 in Petersburg gestorben, gilt als einer der herausragenden Autoren und Intellektuellen der Sowjetunion und danach. Gemeinsam mit seinem Bruder Arkadi entwickelte in der UdSSR eine völlig neue Form der Science-Fiction-Literatur und blieb auch nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Tod des Bruders 1991 kritischer Begleiter des jungen Russland. Von den Patriotisierungs- und Großmachtbestrebungen ab der zweiten Putin-Amtszeit hielt er wenig. Schon 1995 warnte er seine Landsleute vor einem übersteigertem Nationalempfinden. Unter dem Titel „Faschismus – eine simple Sache. Epidemiologisches Merkblatt“ erschien der Essay in der Zeitschrift „Nevskoe Vremya“. Der oppositionelle Bezahlfernsehsender „Doshd'“ veröffentlichte den vollständigen Text am 12. Mai 2015, mehr als ein Jahr nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, wenige Monate nach dem Zerbrechen der russisch-türkischen Beziehungen aufgrund des Abschusses eines russischen Militärflugzeuges an der türkisch-syrischen Grenze und wenige Tage nach der 70-Jahrfeier zum „Tag des Sieges“ und der bis dahin größten Militärparade in der Geschichte Russlands.
Angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine veröffentliche ich den Text, der vorausschauend ein politisch-gesellschaftliches Bild der vergangenen Putin-Dekade bis zum heutigen Tag zeichnet, in eigener Übersetzung.
Originaltext (russ.): tvrain.ru
Die Pest ist in unserem Haus. Heilen können wir uns von ihr nicht. Vor allem deshalb, weil wir stets und ständig die falschen Diagnosen stellen. Denn wer sich angesteckt hat, bemerkt meist nicht, dass er krank und infiziert ist.
Manch einer glaubt, dass er alles über den Faschismus weiß. Denn allen ist bekannt, was Faschismus ist: schwarze SS-Uniformen, gebellte Reden, „römisch“ aufgerichtete Grußarme, das Hakenkreuz, schwarz-rote Armbinden, marschierende Menschenmassen, Skelett-Menschen hinter Stacheldraht, fettiger Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien, ein tobender Führer mit Seitenscheitel, der dicke Göring, die blitzenden Kneifergläschen von Himmler und noch ein halbes Dutzend mehr oder weniger glaubwürdige Figuren aus „17 Augenblicke des Frühlings“, „Heldentaten eines Kundschafters“ oder „Der Fall von Berlin“….
Oh ja, wir wissen wirklich gut, was Faschismus ist: deutscher Faschismus, also Hitlerismus. Uns kommt dabei gar nicht in den Sinn, dass noch ein anderer Faschismus existiert, ein widerwärtiger, ein furchtbarer – nämlich unser eigener, hausgemachter.
Und vermutlich eben deshalb sehen wir ihm nicht ins Gesicht, wenn er vor unseren Augen im Körper des Landes wuchert: er ist ein leises, bösartiges Geschwür.
Wir entdecken zwar das unter Runen getarnte Hakenkreuz. Uns weht zwar das heisere Klagen an, das zur Abrechnung über Nicht-Russen aufruft. Wir bemerken zwar manchmal ekelhafte Losungen und Bilder an den Wänden unserer Häuser. Doch wir können es uns nicht eingestehen, dass auch dies Faschismus ist. Uns scheint stets, dass Faschismus einzig heißt: schwarze SS-Uniformen, gebellte ausländische Reden, fettiger Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien, Krieg . . .
Jetzt formuliert die Akademie der Wissenschaften, die Verordnung des Präsidenten erfüllend, fiebrig eine wissenschaftliche Bestimmung des Faschismus. Man sollte meinen, es wird eine genaue, allumfassende, auf alle Fälle des Lebens eingehende Beschreibung. Und selbstverständlich eine verteufelt komplizierte.
Doch eigentlich ist Faschismus einfach. Was auch bedeutet: Faschismus ist etwas sehr Schlichtes!
Faschismus ist die Diktatur der Nationalisten. Entsprechend ist der Faschist ein Mensch, der sich zur Überlegenheit einer Nation über andere bekennt (und davon predigt) und dabei ein aktiver Verfechter der „eisernen Hand“ ist, von „Disziplin und Ordnung“ spricht und die Leute „unter seiner Fuchtel halten“ will, zzgl. der sonstigen Anmut des Totalitarismus.
Das ist es. Mehr ist der Faschismus im Grunde nicht. Diktatur plus Nationalismus. Die totalitäre Regierung einer Nation. Und alles weitere – Geheimpolizei, Lager, Bücherverbrennung, Krieg – erwächst aus diesem giftigen Korn, wie der Tod aus dem Käfig des Krebses.
Und es ist eine eiserne Diktatur mit all ihren Todesreizen möglich, sagen wir die Diktatur Stroessners in Paraguay oder die Diktatur Stalins in der UdSSR, die doch kein Faschismus ist, wenn der totalitären Idee der Nationalismus (oder das „Rassische“) fehlt. Und es ist ein Staat möglich, der sich auf die nationale Idee stützt, sagen wir Israel, wenn ihm die Elemente der Diktatur fehlen («die eiserne Hand», die Unterdrückung demokratischer Freiheiten, die Allmacht der Geheimpolizei), auch dies ist kein Faschismus.
Begriffe wie „Demofaschist“ oder „faschistoider Demokrat“ sind völlig sinnlos, es ist der gleiche Unsinn wie „kochendes Eiswasser“ oder „aromatischer Gestank“.
Ein Demokrat, ja, kann in bestimmtem Grad Nationalist sein, aber er versteht sich qua definitionem als Feind jeder und jeglicher Diktatur, und kann deshalb kein Faschisten sein. Ebenso wie ein Faschist nie Demokrat sein kann, nie Anhänger der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Demonstrationsfreiheit, er ist immer nur für eine Freiheit — die Freiheit der Eisernen Hand.
Ich kann mir leicht einen Menschen vorstellen, der, mit diesen Begriffsbestimmungen bekannt gemacht, sagen wird (zweifelnd): „Das bedeutet ja dann, dass so vor fünfhundert-sechshundert Jahren überall auf der Welt nur Faschisten waren: sowohl die Fürsten als auch die Zaren, sowohl die Herren als auch die Vasallen. . .“
Sinngemäß zielt eine solche Bemerkung darauf ab, es „richtig zu sehen und falsch zu verstehen“: der Faschismus ist ein in der Entwicklung stehengebliebener Feudalismus, der schon das Jahrhundert des Dampfes erlebte und das Jahrhundert der Elektrizität, auch das Jahrhundert des Atomes, und sich nun anschickt, noch das Jahrhundert der kosmischen Flüge und des künstlichen Intellekts zu erleben.
Die feudalen Strukturen sind offensichtlich verlorengegangen, aber die feudale Mentalität hat sich als lebendig und mächtig erwiesen, stärker als Dampf, als Elektrizität, als die allgemeine Schriftkundigkeit und die allgemeine Computerisierung.
Seine Lebendigkeit kommt grundsätzlich von jenem Umstand, dass die Wurzeln des Feudalen im Vorfeudalen, noch in Höhlenzeiten liegen, in der Mentalität des Flohstadiums schwanzloser Affen: alle Fremden, im benachbarten Wald lebend, sind abscheulich und gefährlich, und unser Anführer ist prächtig, stark und weise und besiegt die Feinde. Diese Urmentalität wird offenbar nicht so bald das menschliche Geschlecht verlassen. Und daher ist der Faschismus der Feudalismus von heute. Und von morgen.
Nur verwechseln Sie um Gottes willen Nationalismus nicht mit Patriotismus! Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Volk, und Nationalismus ist die Feindseligkeit gegenüber einem Fremden. Der Patriot weiß ganz genau, dass es keine bösen und guten Völker gibt – es gibt nur böse und gute Menschen. Ein Nationalist hingegen denkt immer in Begriffen von „Freund oder Feind“, „unser oder nicht unser“, „Verbrecher oder Brüder“, er schreibt leicht ganze Nationen als Schurken oder Dummköpfe oder Banditen ab.
Dies ist das wichtigste Zeichen der faschistischen Ideologie – die Aufteilung der Menschen in „unsere und nicht unsere“. Der stalinistische Totalitarismus basiert auf einer ähnlichen Ideologie, weshalb sie sich so ähnlich sind, diese Regime sind mörderische Regime, Regime, die die Kultur zerstören, militaristische Regime. Nur die Nazis teilen die Menschen in Rassen ein und die Stalinisten in Klassen.
Ein sehr wichtiges Zeichen des Faschismus ist die Lüge.
Natürlich ist nicht jeder, der lügt, ein Faschist, aber jeder Faschist ist notwendigerweise ein Lügner. Er muss einfach lügen.
Denn manchmal kann selbst Diktatur noch irgendwie und zumindest halbwegs vernünftig gerechtfertigt werden, während Nationalismus einzig in Lügen seine Berechtigung findet, in irgendwelchen gefälschten „Protokolle“ oder mit abfälligen Aussprüchen wie „die Juden haben das russische Volk betrogen“, „Kaukasier sind geborene Banditen“ und dergleichen. So lügen Faschisten. Und so haben sie immer gelogen. Niemand als Ernest Hemingway hat das besser benannt: „Faschismus ist eine Lüge, die von Banditen geäußert wird.“
Wenn Sie also plötzlich „erkannt“ haben, dass nur Ihr Volk aller Segnungen würdig ist und alle anderen Völker in der Umgebung zweitklassig sind, herzlichen Glückwunsch: Sie haben Ihren ersten Schritt in den Faschismus getan. Dann dämmert es Ihnen sicher auch, dass Ihr Volk nur hehre Ziele erreichen wird, wenn eine eiserne Ordnung errichtet ist, die all den Schreihälsen und Schreiberlingen, die von Freiheit schwadronieren, den Mund verbietet: so dass alle (ohne Gerichtsverfahren oder Ermittlungen) an die Wand gestellt werden sollten, die die Seite gewechselt haben, und Volksfremde gnadenlos aufgeknüpft gehören…
Und sobald Sie das alles akzeptiert haben, ist der Prozess beendet: Sie sind nun ein Faschist. Sie tragen keine schwarze Uniform mit Hakenkreuz. Sie haben nicht die Angewohnheit, „Heil!“ zu schreien. Ihr ganzes Leben lang waren Sie stolz auf den Sieg unseres Landes über den Faschismus, und vielleicht haben Sie an diesem Sieg persönlich einen Anteil. Doch Sie haben sich in die Reihen der Kämpfer für die Diktatur der Nationalisten einreihen lassen – und nun Sie sind ein Faschist. Wie einfach! Wie erschreckend einfach.
Und sag jetzt nicht, dass Sie ein böser Mensch sind, dass Sie nicht gegen das Leiden unschuldiger Menschen sind (denn nur Ordnungsfeinde gehören an die Wand, und nur Ordnungsfeinde gehören hinter Stacheldraht), dass Sie selbst Kinder und Enkel haben, dass Sie gegen den Krieg sind… All das spielt keine Rolle mehr, sobald Sie von den Sakramenten des Büffels gekostet haben.
Der Weg der Geschichte ist längst bereitet, die Logik dieser Geschichte ist gnadenlos, und sobald Ihre Leader an die Macht kommen, wird ein gut funktionierendes Förderband starten: Eliminierung von Dissidenten – Unterdrückung des unvermeidlichen Protests – Straflager und Galgen – Niedergang der friedlichen Wirtschaft – Militarisierung – Krieg…
Und wenn Sie, zur Vernunft gekommen, dieses grausame Förderband irgendwann anhalten wollen, werden Sie selbst unbarmherzig vernichtet wie der allerletzte Demokrat und Weltbürger.
Ihre Banner sind nicht rotbraun, sondern zum Beispiel schwarz-orange. Sie werden in Ihren Versammlungen nicht „Heil“ rufen, sondern so etwas wie: „Ruhm und Ehre!“.
Sie werden keine Sturmbannführer haben, sondern vielleicht so etwas wie Kosaken-Führer, jedoch das Wesen des Faschismus, die Diktatur der Nazis, ist vorhanden, und somit auch Lügen, Blut, Krieg – heutzutage womöglich nuklear.
Wir leben in gefährlichen Zeiten. Die Plage ist in unserem Haus. Zuallererst befällt sie die Beleidigten und Gedemütigten, und es gibt jetzt so viele von ihnen.
Kann man das Rad der Geschichte zurückdrehen? Wahrscheinlich kann man das – wenn Millionen es so wollen. Daher: lasst es uns nicht wollen. Schließlich hängt viel von uns ab, von uns allein. Nicht alles, nein, aber doch vieles.