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russischer frieden russische welt

Posted by Sascha Preiß on

alle, die noch immer von verhandlungen und waffenstillstand reden:
der ehemalige präsident russlands dmitri medwedjew steht in groteskem anzug vor einer karte, auf der nach russischen vorstellungen und kriegszielen osteuropa vollständig neu eingeteilt ist.
– die ukraine ist zynisch zu einem kleinen fleck geschrumpft: niemand wird ernsthaft annehmen können, dass dieser ukrainische fleck um Kyjiw tatsächlich existieren oder bestand haben würde, wenn der gesamte osten und süden von russland besetzt und annektiert ist,
– die karpatukraine um uzhhorod ist ungarn zugeschlagen: man kann sich orbans freude lebhaft vorstellen, der ebenso wie der slowakische präsident vor wenigen tagen noch mit dem russischen außenminister lawrow ein munteres treffen hatte,
– der ukrainische westen ist polen zugeschlagen: nach der stets wiederholten angeblich bevorstehenden polnischen invasion in der ukraine, offenbar wird die pis sehr vermisst,
– andere gebiete gehören nun willkürlich rumänien.
– das orange moldawien ist selbstverständlich nur eine vorstufe zum russischen blutrot, der natürliche eingang ins russische reich scheint unvermeidlich, da transnistrien und die region gagausien russland um unterstützung gebeten haben gegen die „moldawische unterdrückung“.
medwedjew spricht dazu übrigens die worte, dass das konzept einer ukrainischen nation auf ewig verschwinden müsse, die ukraine selbstverständlich russisch sei:


https://twitter.com/francis_scarr/status/1764597515553259800

die Geschichte dieser Karte reicht weit zurück, schon 2014 präsentiert Schirinowski eine ähnliche Karte: https://twitter.com/MartinRosenkra3/status/1764788868325183760?t=Nalwnrhwn42bZNhUYqZtMA&s=19

und russische Nationalisten offenbaren während der Sowjetunion ganz ähnliche Ideen einer Revision der Ukraine weit über die Rückeroberung der Krim: https://twitter.com/AWerberger/status/1764946066057687522?t=4mptD6dgMjzjUVaIPwzjFA&s=19

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neues vom baikal

Posted by Sascha Preiß on

der staatliche mord am oppositionellen alexej navalny während der haft hat international große empörung ausgelöst, aber das ist putins russland inzwischen vollkommen egal. auch die anteilnahme der russischen bevölkerung am staatlich geförderten tod navalnys sind der putinschen mafia im grunde egal. russland, soviel sollte inzwischen klar geworden sein, wird sich aus dem inneren selbst nicht reformieren oder gar revolutionieren. die bevölkerung hat dem übermächtigen system nichts mehr entgegenzusetzen – bzw niemanden mehr, nicht einmal mehr einen schein-oppositionellen wie boris nadeschdin, der erwartbar, sang- und klanglos aus der präsidentschaftswahl ausgeschlossen wurde. um ansehen kämpft putins verbrecherelite längst nicht mehr, sie kämpft in der ukraine ausschließlich um sich selbst. eine russische militärische niederlage ist der einzige weg, um den frieden zu erreichen und auch für russland überhaupt veränderungen zu ermöglichen. das land, so wird anhand der bilder und nachrichten dieser tage von dort deutlich, ist in einer tiefen depression.

auf telegram folge ich einigen oppositionellen kanälen aus der region, dem „irkutskij blog„, den „ljudi baikala“ sowie der verbotenen organisation „fond svobodnaja burjatia„, der sich für einen von russland unabhängigen staat burjatien einsetzt. einige posts aus der region und den genannten kanälen werde ich hier ab sofort verlinken und übersetzen.

fotos von blumen an denkmälern in irkutsk, schelechow und pivovaricha für die opfer staatlicher (stalinistischer) verfolgung und unterdrückung, die zt mit fotos von navalny für ihn abgelegt wurden, finden sich in diesem post: https://t.me/irkblog/4200 die meisten dieser blumen sind inzwischen von schergen des systems wieder entfernt worden, wer beim blumenablegen „erwischt“ wurde, dessen daten wurden notiert. weitere bilder vom irkutsker kirowv-platz, schelechov und aus tschita sind hier zu sehen https://t.me/Baikal_People/4809

Anti-Terror/Russland

Ihr werdet nicht „Heil!“, sondern „Ruhm und Ehre!“ schreien

Posted by Sascha Preiß on

Boris Strugatzki über das Einfache am Faschismus. Ein warnender Essay aus dem Jahr 1995.

Boris Strugatzki, November 2012 in Petersburg gestorben, gilt als einer der herausragenden Autoren und Intellektuellen der Sowjetunion und danach. Gemeinsam mit seinem Bruder Arkadi entwickelte in der UdSSR eine völlig neue Form der Science-Fiction-Literatur und blieb auch nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Tod des Bruders 1991 kritischer Begleiter des jungen Russland. Von den Patriotisierungs- und Großmachtbestrebungen ab der zweiten Putin-Amtszeit hielt er wenig. Schon 1995 warnte er seine Landsleute vor einem übersteigertem Nationalempfinden. Unter dem Titel „Faschismus – eine simple Sache. Epidemiologisches Merkblatt“ erschien der Essay in der Zeitschrift „Nevskoe Vremya“. Der oppositionelle Bezahlfernsehsender „Doshd'“ veröffentlichte den vollständigen Text am 12. Mai 2015, mehr als ein Jahr nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, wenige Monate nach dem Zerbrechen der russisch-türkischen Beziehungen aufgrund des Abschusses eines russischen Militärflugzeuges an der türkisch-syrischen Grenze und wenige Tage nach der 70-Jahrfeier zum „Tag des Sieges“ und der bis dahin größten Militärparade in der Geschichte Russlands.

Angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine veröffentliche ich den Text, der vorausschauend ein politisch-gesellschaftliches Bild der vergangenen Putin-Dekade bis zum heutigen Tag zeichnet, in eigener Übersetzung.

Originaltext (russ.): tvrain.ru

Die Pest ist in unserem Haus. Heilen können wir uns von ihr nicht. Vor allem deshalb, weil wir stets und ständig die falschen Diagnosen stellen. Denn wer sich angesteckt hat, bemerkt meist nicht, dass er krank und infiziert ist.

Manch einer glaubt, dass er alles über den Faschismus weiß. Denn allen ist bekannt, was Faschismus ist: schwarze SS-Uniformen, gebellte Reden, „römisch“ aufgerichtete Grußarme, das Hakenkreuz, schwarz-rote Armbinden, marschierende Menschenmassen, Skelett-Menschen hinter Stacheldraht, fettiger Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien, ein tobender Führer mit Seitenscheitel, der dicke Göring, die blitzenden Kneifergläschen von Himmler und noch ein halbes Dutzend mehr oder weniger glaubwürdige Figuren aus „17 Augenblicke des Frühlings“, „Heldentaten eines Kundschafters“ oder „Der Fall von Berlin“….

Oh ja, wir wissen wirklich gut, was Faschismus ist: deutscher Faschismus, also Hitlerismus. Uns kommt dabei gar nicht in den Sinn, dass noch ein anderer Faschismus existiert, ein widerwärtiger, ein furchtbarer – nämlich unser eigener, hausgemachter.

Und vermutlich eben deshalb sehen wir ihm nicht ins Gesicht, wenn er vor unseren Augen im Körper des Landes wuchert: er ist ein leises, bösartiges Geschwür.

Wir entdecken zwar das unter Runen getarnte Hakenkreuz. Uns weht zwar das heisere Klagen an, das zur Abrechnung über Nicht-Russen aufruft. Wir bemerken zwar manchmal ekelhafte Losungen und Bilder an den Wänden unserer Häuser. Doch wir können es uns nicht eingestehen, dass auch dies Faschismus ist. Uns scheint stets, dass Faschismus einzig heißt: schwarze SS-Uniformen, gebellte ausländische Reden, fettiger Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien, Krieg . . .

Jetzt formuliert die Akademie der Wissenschaften, die Verordnung des Präsidenten erfüllend, fiebrig eine wissenschaftliche Bestimmung des Faschismus. Man sollte meinen, es wird eine genaue, allumfassende, auf alle Fälle des Lebens eingehende Beschreibung. Und selbstverständlich eine verteufelt komplizierte.

Doch eigentlich ist Faschismus einfach. Was auch bedeutet: Faschismus ist etwas sehr Schlichtes!

Faschismus ist die Diktatur der Nationalisten. Entsprechend ist der Faschist ein Mensch, der sich zur Überlegenheit einer Nation über andere bekennt (und davon predigt) und dabei ein aktiver Verfechter der „eisernen Hand“ ist, von „Disziplin und Ordnung“ spricht und die Leute „unter seiner Fuchtel halten“ will, zzgl. der sonstigen Anmut des Totalitarismus.

Das ist es. Mehr ist der Faschismus im Grunde nicht. Diktatur plus Nationalismus. Die totalitäre Regierung einer Nation. Und alles weitere – Geheimpolizei, Lager, Bücherverbrennung, Krieg – erwächst aus diesem giftigen Korn, wie der Tod aus dem Käfig des Krebses.

Und es ist eine eiserne Diktatur mit all ihren Todesreizen möglich, sagen wir die Diktatur Stroessners in Paraguay oder die Diktatur Stalins in der UdSSR, die doch kein Faschismus ist, wenn der totalitären Idee der Nationalismus (oder das „Rassische“) fehlt. Und es ist ein Staat möglich, der sich auf die nationale Idee stützt, sagen wir Israel, wenn ihm die Elemente der Diktatur fehlen («die eiserne Hand», die Unterdrückung demokratischer Freiheiten, die Allmacht der Geheimpolizei), auch dies ist kein Faschismus.

Begriffe wie „Demofaschist“ oder „faschistoider Demokrat“ sind völlig sinnlos, es ist der gleiche Unsinn wie „kochendes Eiswasser“ oder „aromatischer Gestank“.

Ein Demokrat, ja, kann in bestimmtem Grad Nationalist sein, aber er versteht sich qua definitionem als Feind jeder und jeglicher Diktatur, und kann deshalb kein Faschisten sein. Ebenso wie ein Faschist nie Demokrat sein kann, nie Anhänger der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Demonstrationsfreiheit, er ist immer nur für eine Freiheit — die Freiheit der Eisernen Hand.

Ich kann mir leicht einen Menschen vorstellen, der, mit diesen Begriffsbestimmungen bekannt gemacht, sagen wird (zweifelnd): „Das bedeutet ja dann, dass so vor fünfhundert-sechshundert Jahren überall auf der Welt nur Faschisten waren: sowohl die Fürsten als auch die Zaren, sowohl die Herren als auch die Vasallen. . .“

Sinngemäß zielt eine solche Bemerkung darauf ab, es „richtig zu sehen und falsch zu verstehen“: der Faschismus ist ein in der Entwicklung stehengebliebener Feudalismus, der schon das Jahrhundert des Dampfes erlebte und das Jahrhundert der Elektrizität, auch das Jahrhundert des Atomes, und sich nun anschickt, noch das Jahrhundert der kosmischen Flüge und des künstlichen Intellekts zu erleben.

Die feudalen Strukturen sind offensichtlich verlorengegangen, aber die feudale Mentalität hat sich als lebendig und mächtig erwiesen, stärker als Dampf, als Elektrizität, als die allgemeine Schriftkundigkeit und die allgemeine Computerisierung.

Seine Lebendigkeit kommt grundsätzlich von jenem Umstand, dass die Wurzeln des Feudalen im Vorfeudalen, noch in Höhlenzeiten liegen, in der Mentalität des Flohstadiums schwanzloser Affen: alle Fremden, im benachbarten Wald lebend, sind abscheulich und gefährlich, und unser Anführer ist prächtig, stark und weise und besiegt die Feinde. Diese Urmentalität wird offenbar nicht so bald das menschliche Geschlecht verlassen. Und daher ist der Faschismus der Feudalismus von heute. Und von morgen.

Nur verwechseln Sie um Gottes willen Nationalismus nicht mit Patriotismus! Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Volk, und Nationalismus ist die Feindseligkeit gegenüber einem Fremden. Der Patriot weiß ganz genau, dass es keine bösen und guten Völker gibt – es gibt nur böse und gute Menschen. Ein Nationalist hingegen denkt immer in Begriffen von „Freund oder Feind“, „unser oder nicht unser“, „Verbrecher oder Brüder“, er schreibt leicht ganze Nationen als Schurken oder Dummköpfe oder Banditen ab.

Dies ist das wichtigste Zeichen der faschistischen Ideologie – die Aufteilung der Menschen in „unsere und nicht unsere“. Der stalinistische Totalitarismus basiert auf einer ähnlichen Ideologie, weshalb sie sich so ähnlich sind, diese Regime sind mörderische Regime, Regime, die die Kultur zerstören, militaristische Regime. Nur die Nazis teilen die Menschen in Rassen ein und die Stalinisten in Klassen.

Ein sehr wichtiges Zeichen des Faschismus ist die Lüge.

Natürlich ist nicht jeder, der lügt, ein Faschist, aber jeder Faschist ist notwendigerweise ein Lügner. Er muss einfach lügen.

Denn manchmal kann selbst Diktatur noch irgendwie und zumindest halbwegs vernünftig gerechtfertigt werden, während Nationalismus einzig in Lügen seine Berechtigung findet, in irgendwelchen gefälschten „Protokolle“ oder mit abfälligen Aussprüchen wie „die Juden haben das russische Volk betrogen“, „Kaukasier sind geborene Banditen“ und dergleichen. So lügen Faschisten. Und so haben sie immer gelogen. Niemand als Ernest Hemingway hat das besser benannt: „Faschismus ist eine Lüge, die von Banditen geäußert wird.“

Wenn Sie also plötzlich „erkannt“ haben, dass nur Ihr Volk aller Segnungen würdig ist und alle anderen Völker in der Umgebung zweitklassig sind, herzlichen Glückwunsch: Sie haben Ihren ersten Schritt in den Faschismus getan. Dann dämmert es Ihnen sicher auch, dass Ihr Volk nur hehre Ziele erreichen wird, wenn eine eiserne Ordnung errichtet ist, die all den Schreihälsen und Schreiberlingen, die von Freiheit schwadronieren, den Mund verbietet: so dass alle (ohne Gerichtsverfahren oder Ermittlungen) an die Wand gestellt werden sollten, die die Seite gewechselt haben, und Volksfremde gnadenlos aufgeknüpft gehören…

Und sobald Sie das alles akzeptiert haben, ist der Prozess beendet: Sie sind nun ein Faschist. Sie tragen keine schwarze Uniform mit Hakenkreuz. Sie haben nicht die Angewohnheit, „Heil!“ zu schreien. Ihr ganzes Leben lang waren Sie stolz auf den Sieg unseres Landes über den Faschismus, und vielleicht haben Sie an diesem Sieg persönlich einen Anteil. Doch Sie haben sich in die Reihen der Kämpfer für die Diktatur der Nationalisten einreihen lassen – und nun Sie sind ein Faschist. Wie einfach! Wie erschreckend einfach.

Und sag jetzt nicht, dass Sie ein böser Mensch sind, dass Sie nicht gegen das Leiden unschuldiger Menschen sind (denn nur Ordnungsfeinde gehören an die Wand, und nur Ordnungsfeinde gehören hinter Stacheldraht), dass Sie selbst Kinder und Enkel haben, dass Sie gegen den Krieg sind… All das spielt keine Rolle mehr, sobald Sie von den Sakramenten des Büffels gekostet haben.

Der Weg der Geschichte ist längst bereitet, die Logik dieser Geschichte ist gnadenlos, und sobald Ihre Leader an die Macht kommen, wird ein gut funktionierendes Förderband starten: Eliminierung von Dissidenten – Unterdrückung des unvermeidlichen Protests – Straflager und Galgen – Niedergang der friedlichen Wirtschaft – Militarisierung – Krieg…

Und wenn Sie, zur Vernunft gekommen, dieses grausame Förderband irgendwann anhalten wollen, werden Sie selbst unbarmherzig vernichtet wie der allerletzte Demokrat und Weltbürger.

Ihre Banner sind nicht rotbraun, sondern zum Beispiel schwarz-orange. Sie werden in Ihren Versammlungen nicht „Heil“ rufen, sondern so etwas wie: „Ruhm und Ehre!“.

Sie werden keine Sturmbannführer haben, sondern vielleicht so etwas wie Kosaken-Führer, jedoch das Wesen des Faschismus, die Diktatur der Nazis, ist vorhanden, und somit auch Lügen, Blut, Krieg – heutzutage womöglich nuklear.

Wir leben in gefährlichen Zeiten. Die Plage ist in unserem Haus. Zuallererst befällt sie die Beleidigten und Gedemütigten, und es gibt jetzt so viele von ihnen.

Kann man das Rad der Geschichte zurückdrehen? Wahrscheinlich kann man das – wenn Millionen es so wollen. Daher: lasst es uns nicht wollen. Schließlich hängt viel von uns ab, von uns allein. Nicht alles, nein, aber doch vieles.

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zum Ukraine-Konflikt

Posted by Sascha Preiß on

ein paar kurze Notizen zum Ukraine-Konflikt und der drohenden Invasion Russlands.

Was konkret passiert und welche Szenarien möglich sind, hat Sarah Pagung im ZDF kurz zusammengefasst: die Szenarien geben kaum Anlass zu irgendeinem Optimismus. Die ersten Sanktionen durch die EU gegen die international agierende Söldner der Wagner-Gruppe sind nun in Kraft getreten. Das Kernproblem der russischen Haltung, die Osterweiterung der NATO, insbesondere auf die Ukraine und Georgien bezogen, auch wenn deren Beitritt in absehbarer Zeit unrealistisch ist, ist der als Bedrohung aufgefasste Eintritt des Westens in die ökonomische und ideologische Hoheitssphäre Russlands, ganz unabhängig davon, dass die Ukraine und Georgien souveräne Staaten sind. Russland verlangt vom Westen gegenüber dieser Hoheitssphäre „Sicherheitsgarantien“ bzw sofortige Verhandlungen darüber. Es ist offensichtlich, dass es sich um die fortgesetzte Wiederaneignung von Kolonialgebieten geht, die mit dem Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren – nach Putin bekanntlich die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts – verloren wurden. Mit dem Krieg in Südossetien 2008 und der Krim-Annektion mit zeitgleichem Separationskrieg in der Ostukraine hat Russland klar gestellt, dass es die beiden Staaten nicht als souverän sondern als dem Hegemon zur Verfügung stehende Verhandlungsmasse betrachtet. Das ist insbesondere für die Ukraine ein deja-vu an die im Westen weitgehend übersehene Hungersnot Holodomor Anfang der 1930er Jahre, da Stalin in der Frühphase der Sowjetunion Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine unterdrückte. Der ungeliebte NATO-Beitritt ist daher nur eine Umkehrung der russischen Verlustangst: nicht der Westen bedroht Russland, sondern Russland verliert maximal an Bedeutung und Einfluss und Selbstwert. Und es droht sich selbst mit dem Verlust eines wesentlichen Absatzmarktes.

In diesem Zusammenhang ist auch das Veto gegen die UN-Klimawandel-Resolution zu sehen, die Resolution benennt klar die Baustellen und Schwierigkeiten sowohl wirtschaftlich als auch politisch, für die Russland absolut keine Lösungsvorschläge hat: Russland hat außer Rüstung und fossile Energie auf dem Weltmarkt nichts anzubieten. Die Globalisierung hat Russland in seinen 1990er Jahren ökonomisch verpasst und der politische Bruch mit dem Westen nach dessen völkerrechtswidrigem Kosovokrieg wurde von Putin weiter vorangetrieben, ohne dass das Land zu nachhaltiger wirtschaftlicher Prosperität und Eigenständigkeit gekommen wäre. Die Wirtschaft ist nach wie vor von Öl und Gas abhängig, eine weltwirtschaftliche Bedeutung wie noch im vorigen Jahrhundert und wie sie heute China hat, ist unerreichbar. Der zu erwartende internationale (viel zu langsame) ökologische Wandel weg von fossiler Energiegewinnung und der gleichzeitige (viel zu schnelle) Klimawandel bedrohen daher Russlands Ökonomie in den kommenden Jahren massiv: zu erwartender Einnahmenverlust durch sinkende Energieexporte, fehlende Modernisierung in Wissenschaft und Forschung, jährliche Waldbrände, das Auftauen des Permafrostbodens, die Großteils veraltete Infrastruktur der sowieso schon kaum zu bewältigenden Inlandslogistik zum Waren- und Informationstransport, hinzukommend zur politischen Autokratie und gewaltige Korruption, eine marginalsierte und maximal bedrohte unabhängige Meinungsäußerung – all dies führt Russland in den kommenden Jahrzehnten in einen ideologischen und ökonomischen Bankrott, sollte nicht grundsätzlich gegengesteuert werden. Doch das steht kaum zu erwarten. Es ist eher wahrscheinlich, dass die Drohgebärden Russlands nach außen und die Repressionen nach innen weiter zunehmen werden und das Land nach dem kaum absehbaren Ende der Herrschaft Putins in einem desolaten Zustand hinterlässt. Die eigentliche Frage, die sich stellt ist: Welches langfristige Entwicklungsziel verfolgt die russische Politik, sofern sie eines hat außer dem der Selbsterhaltung und ihrem Destruktivismus?

Russische Politik unter Putin ist neokolonial, nationalistisch und nihilistisch. Sie leistet keinen einzigen konstruktiven Beitrag, kennt nur das Destruktive als Mittel der Machtwahrung.

Update 17.12.21: Die russischen Forderungen an die NATO stellen klar, dass Putins Russland die postsowjetischen Staaten und assoziiert auch auch Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes nicht als souveräne Staaten betrachtet. Mit Ukraine und Georgien wird gar nicht erst gesprochen, und die Osterweiterung soll vollständig zurückgedrängt werden. Was auch immer man von der NATO hält – und ich habe überhaupt keine Sympatien für dieses transatlantische Militärbündnis, das autonom von der Weltgemeinschaft agiert – Russland aber hat kein Interesse an Ausgleich, Frieden und Stabilität, sondern an einer neosowjetischen Realität.

Update 25.01.22: Die Journalistin Catherine Belton beschreibt die Situation ganz ähnlich, Russland habe nichts anzubieten jenseits einer „mythischen Konfrontations mit dem Westen“. Als Reaktion bliebe nur eine europäische Geschlossenheit, die jedoch von Deutschland – Gazprom-Verträge, Exkanzler Schröder, NordStream 2 – immer wieder aktiv unterlaufen wird. Zudem müsste sich Europa auch kurzfristig von russischem Gas befreien, da das System Putin ganz wesentlich von den Öl/Gas-Einnahmen lebt: „Bleiben dem Putin-Regime jedoch die Einkünfte aus dem Energiegeschäft, die ja zurzeit sehr groß sind, kann es seine Macht für viele, viele vor uns liegende Jahre erhalten. Das Geld, das dann weiter reinkommt, reicht zwar nicht aus, um die russische Wirtschaftskraft zu erhöhen, aber mindestens, um allen ein Einkommen zu sichern, die auf den Staatshaushalt angewiesen sind: der öffentliche Dienst, Lehrer, Rentner und so weiter. Das reicht, um sich weiter an der Macht festzuhalten.“ Leider wird das die Perspektive bleiben.

Zusatz 10.02.2022: Lesens- und hörenswerter Hintergrund-Beitrag im Deutschlandfunk zum Thema Waffenlieferungen an die Ukraine und Umgang mit Russland als mafiöser Staat.

Russland

zur causa Nawalny

Posted by Sascha Preiß on

die deutsche politik hat noch immer nicht verstanden, worum es bei nawalny geht, und stützt mit ihrem festhalten an nordstream 2 das quasi lupenrein demokratische system putin, das sie mit dürftigen verbalen mahnungen kritisiert. die europäische russlandpolitik überlässt die zivilgesellschaft sich selbst.

Längst ist die Person Alexej Nawalny sowohl in Russland als auch im Ausland zu dem geworden, was Putin noch im Dezember 2020 wenig überzeugend negierte: einer der momentan wichtigsten politischen Akteure Russlands und Europas. Völlig unerheblich, zu welcher politischen Position man selbst neigt, als Anhänger Nawalnys oder als Kritiker, sein Einfluss auf die nationale und internationale Politik ist im vergangenen halben Jahr, seit seiner Vergiftung in Sibirien, enorm gestiegen – Putin selbst hat ihn damit zu dem bedeutenden Opponenten gemacht, der er auch und gerade aufgrund seiner völlig absurden Verurteilungen ist. Vor einem Jahr noch war Nawalny tatsächlich kein bekannter Name in weiten Teilen der russischen Bevölkerung, das hat sich inzwischen geändert. Die Frage, was von Nawalny tatsächlich zu halten sei, ob er ein mutiger Kämpfer für die Freiheit, ein rechtsnationaler Protofaschist oder eine Geheimdienstmarionette, beschäftigt die Debatten in Deutschland – Fragen, die in Russland völlig irrelevant sind. Dort stellt Nawalny und sein Antikorruptionsfond inzwischen die einzig verbliebene echte Opposition zum autoritären, kleptokratischen System Putin dar (welche Kleptokratie dort am Werk ist, erfährt man in den Büchern etwa von Masha Gessen) und ist, im Gegensatz zu den ermordeten, inhaftierten, exilierten Oppositionspolitiker*innen und Journalist*innen wie etwa Boris Nemzow, Anna Politkowskaja (ihr Bericht In Putins Russland ist bis heute eines der stärksten Bücher über das frühe System Putin) oder Michail Chodorkowski, gerade bei den unter 30-jährigen durchaus populär – nur ist diese Gruppe eben auch diejenige, die sich als erste um neue Perspektiven für ihr Leben außerhalb Russlands umschaut und seit Jahren abwandert. Die massiven Proteste im ganzen Land und die enorme Polizeigewalt gegen die natürlich nicht genehmigten Proteste – ein aus Sicht der Legitimierung geradezu peinlicher, aber systemimmanenter Fehler – haben bezeugt, wie populär inzwischen Nawalny tatsächlich ist im Gegensatz zu den Protesten 2011, und Videos seines YouTube-Kanals mit aktuell 6,41Mio Abonnenten werden mittlerweile von vielen Millionen gesehen. Putins Palast steht aktuell bei 110Mio Aufrufen.

Noch in den Jahren, in denen ich in Irkutsk arbeitete, gehörte Politik nicht zu den Themen eines Gesprächs mit Kolleg*innen oder Freund*innen. Man brachte sich und die Seinen durchs Leben und verglichen zu früher lief es unter Medwedjew ganz gut, auch wenn ihn keiner ernst nahm und alle wussten, dass weiterhin Putin der tatsächliche Chef war. Was die meisten nicht wahrnahmen: dass mit Putin der Inlandsgeheimdienst FSB die eigentliche Staatsführung war. Und bis heute geblieben ist. Noch 2012 traten Mitarbeiter des FSB an unsere russischen Kolleg*innen heran, um sie zu unserem Projekt der zweisprachigen Irkutsker Deutsche Zeitung zu befragen, Einsicht zu erhalten und letztlich auch Kontrolle, denn es wurden Forderungen gestellt, dass die Texte vom FSB vor Drucklegung begutachtet werden, Zugangsdaten für Mail- und Dropboxkonten verlangt etc – kurz: die Zeitung, ein harmloses Projekt zur deutsch-russischen Bildungskooperation, wurde abgewürgt. 2012, nach Putins Wieder“wahl“. Das fast schon liberale Klima unter Wedwedjew, der das Internet als Medium und die Internationalisierung der Universitäten begrüßte und förderte, schwand schlagartig. Selbst in den kleinsten Dörfern am Baikal konnte man Menschen treffen, die zu den Protesten gegen die Dumawahl nach Moskau flogen. Und die älteren Studierenden hatten jeden Bezug zum „Leader“ verloren.

Russlands „gelenkte Demokratie“, muss man im Rückblick feststellen, hatte unter Putin niemals die Absicht, mit seiner eigenen Bevölkerung oder gar Europa vertrauensvoll zusammenzuarbeiten oder ein offenes parlamentarisches System zu entwickeln, wie es in den EU-Staaten mehrheitlich existiert (mit all seinen Fehlern, Problemen und Einschränkungen – aber genau das macht ein lebendiges System aus, dass es imperfekt ist und lernfähig), Putin selbst hat nie verschwiegen, was er von offenen politischen Diskursen und Systemen hält, nämlich nichts. Das putinsche Narrativ europäischer Demokratie als eines vielstimmigen, chaotischen und damit schwachen politischen und medialen Systems, wohingegen das System Putin Stabilität und Stärke garantiert, ist bis heute sowohl innerhalb als auch außerhalb Russlands äußerst erfolgreich. Ebenso die Erzählung einer westlich-arroganten Ungleichbehandlung und Herabwürdigung – an der viel Wahres ist, doch im Wesentlichen das Opfer-Motiv wichtig ist, vom Westen stets gemaßregelt und nicht geliebt zu sein, was es erlaubt, die eigene Position nicht verändern zu müssen, sondern im Gegenteil den autokratischen Weg legitimieren zu können (eine auch in der Türkei Erdogans sehr erfolgreiche Erzählung).

Zum Narrativ von Stabilität und Stärke gehört wesentlich – ein kulturtheoretischer Exkurs – der putinsche Körper: es ist der anwesende, aktive, lebendige doppelte Körper des Königs, ein sehr altes, wirkmächtiges staatstheoretisches Theorem, das zwei Funktionen des Herrschers zusammenfasst: den sterblichen und den übernatürlichen Körper. Der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie Putin den Zerfall der Sowjetunion nannte, ist mit Michail Gorbatschew assoziiert, der in seiner Datscha hilflos einen Staatsstreich mitansehen muss. Die chaotischen 1990er Jahre Russlands mit dem betrunkenen Boris Jelzin. Beide genießen im heutigen Russland ein miserables Ansehen. Putins bis zur Lächerlichkeit inszenierte Männlichkeit, seine zur Schau gestellte neoliberale Fitness, in Verbindung mit der russischen Orthodoxie bestätigt hingegen alle Ansprüche an den natürlichen, übernatürlichen Körper des Staates, den manche für von Gott gesandt halten. Ein den Tötungsversuch überlebender Nawalny allerdings stellt den politischen Körper des Systems Putin infrage, zumal er auch nicht im Exil verblieben ist wie Kasparow oder Chodorkowski. Man kann es mögen oder nicht: Nawalnys körperlicher Zustand als „wiederauferstanden“ ist dem Putinschen in ikonografischer Lesart überlegen. Und damit hat das politische System schlicht keine Wahl mehr, es muss handeln, restriktiv, maximal. Ob es seinen Zenit überschritten hat oder ob die OMON-Schergen und Silowiki nach wie vor treu bleiben dem Staatsapparat, der sie ernährt – Nawalny ist definitiv ein Fixpunkt.

Zusätzlich zur symbolischen Anwesenheit Nawalnys ist die konsequente Antikorruptions-Arbeit für Putin natürlich vordergründig gefährlich. Nawalnys stellt an die „Partei der Gauner und Diebe“, wie er 2011 die russische Einheitspartei nannte, nur diese Frage: Wo ist das Geld? Und da treffen sich der Fall Chodorkowskis von 2003 und die causa Nawalny 2021:

Es gibt zwischen allen Staaten, deren Wirtschaft von einem einzigen Produkt abhängig ist, insbesondere unter den öl-/gas-abhängigen Staaten, vier Gemeinsamkeiten:

Der [amerikanische] Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Michael Ross hat vier Besonderheiten von Einnahmen aus dem Ölgeschäft aufgeführt: Sie sind riesig (die Regierungsapparate in Ölstaaten sind um die Hälfte größer als die ihrer Nachbarn, die über keine Ölvorkommen verfügen); ein großer Teil des Haushalts hängt nicht von den Steuerleistungen der Bürger, sondern von direkten Einnahmen aus Staatsbesitz ab; diese Einnahmen wiederum sind instabil, weil sie vom Ölpreis auf den Weltmärkten und den natürlichen Bedingungen abhängen; und schließlich sind die Einnahmen intransparent und geheim. So kann sich die Elite optimal an Öleinnahmen bereichern. Aufgrund des geringen Arbeitsaufkommens sind Ölstaaten unabhängig von der Bevölkerung: Die wird nicht wirklich gebraucht, solange sie nur bitte keine Unruhe stiftet.


(Aus dem Artikel „Die Öl-Krankheit“ von Alexander Etkind, in dt. Übersetzung bei dekoder zu lesen.)

Sämtliche Formen der russischen staatlichen Korruption basiert im Kern auf diesen vier Punkten, insbesondere dem letzten: niemand weiß, was Russland tatsächlich am Öl/Gas-Verkauf verdient und was mit diesem Geld geschieht (außer private Paläste bauen). Chodorkowskis Affront damals im Gespräch mit Putin war der Verstoß gegen die Absprache noch aus der Jelzin-Zeit, sich nicht in die Politik einzumischen, indem er seinem eigenen Unternehmen und den Konkurrenten Transparenz in der Buchhaltung verordnete, sich zudem zivilgesellschaftlich einsetzte über die Finanzierung der Partei Jabloko und der Stiftung „Open Russia“. Zudem warf er Putins Regierung offen Korruption vor – und wurde verhaftet und landete 11 Jahre in mehreren Etappen im Straflager. Der Dokumentarfilm Chodorkowski von 2011 zeigt den Wandel des einstigen Oligarchen und reichsten Mann Russlands sehr ausführlich und ist bis heute sehenswert. War es 2003 zu Beginn des Internetzeitalters in Russland noch einfach, die Deutungshoheit über die Bilder und Inhalte des Prozesses in staatlicher Hand zu behalten, ist dies schon 2014 mit der Krimannexion und dem Krieg in der Ostukraine, insbesondere dem Abschuss des Fluges MH-17, längst nicht mehr der Fall, trotz aller Bemühungen der Kontrollbehörde Roskomnadzor und sämtlicher gelenkter Inlands- und Auslandsmedien wie RT deutsch oder Facebook-Trollfabriken. Die Möglichkeiten, im Internet zu publizieren und zu recherchieren, waren Chodorkowski unbekannt, für Nawalny sind sie lebensrettend und ein mächtiges Werkzeug gegen Putins System, das ohne das Web aufwuchs und es im Grunde nicht versteht.

Offenlegung der Bilanzen und Geldflüsse, um organisierte Korruption aufzudecken: Chodorkowskis Anliegen als Unternehmer führt Nawalny seither fort, manche meinen mit populistischen Mitteln oder nationalistischer Motivation – tatsächlich ist das vollkommen irrelevant und eine Nebeldiskussion zu erfragen, wer ist Nawalny. Es ist bekannt, dass sich Nawalny etwa zur Annexion der Krim bekannt hat und keinesfalls die Ansprüchen an einen linksliberalen Politiker, die man aus westeuropäischer Weltwahrnehmung nur zugern stellt, erfüllt. Es ist eben auch sehr wohlfeil, sich den idealen Politiker zu wünschen bzw darüber zu maulen, dass er es nicht ist. Umso enttäuschender ist die Blindheit, mit der insbesondere die deutsche Politik geschlagen ist, wenn es um Nawalny geht: denn zwar wissen alle, dass Russland seine enormes Kapital, das für alle Formen der Korruption ungebremst zur Verfügung steht, aus dem Verkauf von Öl und Gas bezieht, gleichzeitig ist man aber ebenso bereit, eben dieses Kapital weiterhin zu mehren und eben nicht aus Nordstream 2 als auch von Staaten der EU stark kritisiertes Projekt deutscher Arroganz auszusteigen. Alles an diesem Zitat des Osteuropachefs der Deutschen Welle ist schlicht falsch: Nordstream 2 ist energiepolitisch nicht notwendig und stützt finanziell das aggressive, kriminelle System Putin – dass dieses System inzwischen offen mit Verachtung gegenüber seiner eigenen Bevölkerung und der Europäischen Union auftritt und noch während des Besuches des EU-Außenbeauftragten drei EU-Diplomaten des Landes verweist, sollte der hiesigen Politik irgendetwas zu denken geben. Doch die seit Jahren stets wiederholte Bitte etwa von Herrn Platzeck, im Dialog mit Russland zu bleiben, was immer er darunter versteht, hat seit eben genau diesen Jahren nichts anderes ergeben als die aktuelle Situation: Das politische Russland nimmt keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Dialogangebote, weil es die schlicht nicht möchte. So wie Putins Dialogstunden mit der Bevölkerung Monologe des Regierungschefs mit vorausgewählten Fragestellern vor laufender Kamera sind. Das System Putin hat noch nie Gespräche geführt.

Ich erinnere mich an eine Stimmung in den 1990er Jahren, in der sehr viele vermuteten, Russisch würde nun nach dem Fall des eisernen Vorhangs zu einer international gefragten Sprache und Russland ein beliebtes Reiseland. Tatsächlich ist nichts davon eingetreten, Russland ist weiterhin ein hinter der Visapflicht vergrabenes Land, das sich in den politischen Führungsetagen gegen Internationalisierung, Austausch und Offenheit sträubt, es gibt keine auswärtige russische Kulturpolitik durch etwa ein Puschkin-Institut, vergleichbar dem Goethe- oder Cervantes-Institut bzw dem Institut Francais, dafür gibt es RT und Radio Sputnik, und ehemalige deutsche Kanzler lobbyieren vorbehaltlos für den „lupenreinen Demokraten“ und damit gegen die russische Zivilgesellschaft. Und was die deutsche Verantwortung gegenüber Russland aufgrund des zerstörerischen Krieges gegen die Sowjetunion betrifft: diese Verantwortung besitzt Deutschland auch gegenüber allen anderen Nachfolgestaaten wie der Ukraine, den baltischen Staaten als EU-Mitgliedern, Belarus und Moldawien, und deren Sicht auf Russland ist (mit Ausnahme Belarus) durchaus von begründeter Furcht geprägt und europäische Hilfe gegen die putinsche geopolitische Kleptokratie würde sicher nicht zurückgewiesen.

Baikal/Interkultur/Irkutsk/Russland/selbst

erschienen: „Sibirische Geschichten“

Posted by Sascha Preiß on
erschienen: „Sibirische Geschichten“
Irkutsk/Russland

Wahlperspektiven

Posted by Sascha Preiß on

Aufgrund der Vergiftung Navalnyis und seinem vorherigen Einsatz zur Stimmabgabe bei den derzeit anstehenden Regional- bzw Gouverneurswahlen in Russland ist diese Wahl verstärkt in den Fokus deutscher Medien gerückt. Die Süddeutsche Zeitung hat heute sogar eine kurze Reportage aus dem „protestbereiten“ Irkutsk, nach den Vorfällen und Protesten in verschiedenen Regionen Sibiriens – Chabarowsk, Novosibirsk, Omsk – erhält das russische Hinterland etwas mehr Aufmerksamkeit, auch zur Veranschaulichung der Funktionsweise des „Systems Putin“. In Irkutsk gibt es vor allem den Kandidaten der Putinschen Einheitspartei „Einiges Russland“ und einen regionalen Kandidaten der Kommunisten.

Zur Dämpfung der europäischen Erwartungshaltung, dass diese Wahlen einen innerrussischen politischen Wandel einläuten könnten, möchte ich nur kurz an die Geschichte des vormaligen Bürgermeisters Viktor Kondraschow erinnern. Dieser setzte sich im März 2010 als regionaler Kommunist gegen einen in Moskau vorgeschlagenen Kandidaten von „ER“ durch – um drei Monate später seinen Parteiwechsel zu „ER“ anzukündigen bzw als „zum Wohle der Stadt“ zu begründen. Der Irkutsker Parteivorsitzende der Kommunisten Sergej Levchenko vermutete sowohl politischen als auch finanziellen Druck bzw Anreize zur Vorbereitung auf die ein Jahr später folgende 350-Jahrfeier der Stadt, 5 Milliarden Rubel zusätzliche Finanzförderung seien versprochen worden, sollte Kondraschow mit „ER“ „zusammenarbeiten“ – dies war wohl ein recht typischer Fall russischer Korruption, Machtausübung und nachträgliche Wahlmanipulation. Ein Fall wie einige andere, über den Navalnyi im Vorfeld der Wahlen und auch sonst wiederholt berichtete. Sollte also der Kommunist bei der Gouverneuswahl heute tatsächlich gewinnen, ist der Wahlausgang keineswegs endgültig entschieden.

Kondraschow übrigens wurde nach seiner Zeit als Bürgermeister nicht nur stellvertretender Vorsitzender der Regionalregierung des Irkutsker Gebietes, sondern auch als solcher Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens wegen Amtsmissbrauchs und Korruption. Was ihn nicht daran hinderte, 2019 Generaldirektor der Entwicklungsgesellschaft des Irkutsker Gebietes zu werden und damit de facto das regionale Vermögen insbesondere von Immobilien und Grundbesitz zu verwalten. Es dürfte daher von politischem Interesse sein zu beobachten, in welche Richtung das Ermittlungsverfahren ausschlägt, um zu sehen, wer die Wahl tatsächlich gewonnen hat.

NACHTRAG: Der „unabhängige“ Kandidat aus Moskau hat nach Angabe des Wahlkommitees die Wahl mit absoluter Mehrheit gewonnen, einen zweiten Wahlgang wird es nicht mehr benötigen. Hier eine Reportage zur Wahl in Irkutsk aus der Новая Газета.

Anti-Terror/Russland

je schlimmer meine zukunft

Posted by Sascha Preiß on

desto breiter mein lächeln. zur situation politischer häftlinge in russland zwei artikel der vergangenen tage: jegor shukow hielt sein schlussplädoyer, bevor er für genau nichts verurteilt wurde. und ein interview mit der aktivistin marija aljochina, die über die plattform zona.media über polizeigewalt, gerichtsprozesse und haftbedingungen informiert.

noch immer einer der wichtigsten innerrussischen prozesse, der das wesen der meinungsfreiheit, gerichtsbarkeit und verknüpfung staat-orthodoxie (wogegen 2002 pussy riot in der erlöserkirche medienwirksam protestierten und schwer bestraft wurden) sichtbar machten: die moskauer ausstellung verbotene kunst und der anschließende prozess. äußerst lesenswert: die gerichtsreportage von wiktoria lomasko & anton nikolajew.

Allgemein

Die Kraft Sibiriens

Posted by Sascha Preiß on
Irkutsk/Russland/Statistik

Die geleugnete Epidemie

Posted by Sascha Preiß on

Es ist seit vielen Jahren ein furchtbar trauriges Bild, das Sibirien abgibt in Sachen AIDS. Vor neun Jahren schrieb ich über HIV in der Stadt, verändert hat sich seither genau nichts. Im Gegenteil, die Weltgesundheitsorganisation spricht inzwischen aufgrund der enormen Anzahl Infizierter von einer Epidemie – Änderung nicht in Sicht.

Der Oblast Irkutsk, ein Bezirk im Süden Sibiriens, der größer ist als Großbritannien, in dem aber nur knapp 2,4 Millionen Menschen leben, ist eine der Regionen, die am schlimmsten betroffen sind. Hier ist fast jeder Fünfzigste HIV-positiv. Damit liegt die Zahl deutlich über dem Grenzwert von einem Prozent der Bevölkerung, ab dem UNAIDS von einer Epidemie spricht.

Dass die Infektion oft mit Drogenkonsum einhergeht, erleichtert den Zugang zu rationalen Lösungen nicht gerade. Tatsächlich aber wird das Virus inzwischen hauptsächlich auf „natürlichem“ Weg übertragen, doch Aufklärung ist kaum vorhanden.

Der Mangel an Informationen führt dazu, dass Verschwörungstheorien zu HIV in Russland weit verbreitet sind. Im April letzten Jahres machte eine Nachricht aus Irkutsk international Schlagzeilen. Ein Baby mit HIV starb, weil seine Mutter das Virus für einen Mythos hielt und eine Behandlung verweigerte. Aber auch unter ­Wissenschaftlern findet man solche Stimmen. Einer der bekanntesten HIV-Leugner, der Pathologe Vladimir Agejew, bezeichnete das Virus als „ungeheuer­liche medizinische Mystifizierung“. Er lehrt an der Medizinfakultät in Irkutsk.

Und ob Verschwörungstheorie oder religiöse Erklärungen – AIDS ist ein Stigma und eine Auseinandersetzung mit dem Thema findet nach wie vor nicht statt.