Interkultur/Sprache/Universität

International Office

Posted by Sascha Preiß on

Die Beziehung Russland zu China ist alles andere als freundschaftlich, eher fußt sie auf reichlich Angst und neidvoller Verachtung gegenüber den wirtschaftlichen Errungenschaften des Reiches der Mitte. Manchmal wächst sich das zu Phobien vor einer chinesischen Invasion aus, die in der Literatur fröhlich karikiert werden, um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen.

Tatsächlich herrscht in Russland, nicht ausgelöst aber verstärkt durch die Wirtschaftskrise, eine recht umfassende Stagnation. Die Geburtenraten geben Anlass zur Sorge, Jahr für Jahr verlassen weniger Schüler die Schulen, schreiben sich weniger Studenten in den Hochschulen ein. Seit diesem Jahr steigen die Geburtenzahlen erstmals wieder, doch davon profitieren die Hochschulen in etwa 20 Jahren. Die Mehrzahl der sibirischen Universitäten ist deshalb dazu übergegangen, zu hunderten Studenten aus China anzuwerben und zu immatrikulieren, um so den stetigen Schwund russischer Studenten aufzufangen und gleichzeitig zahlungskräftige Kundschaft zu erhalten, denn die ungeliebten, aber notwendigen Fremdstudenten sind mehrheitlich für teure Wirtschaftsstudiengänge eingeschrieben, bei denen das Semester schon mal 1000 Euro kosten kann. Für die chinesischen Studenten lohnt sich aber das Geschäft, sie bekommen ein russisches Diplom und erstklassigen Zugang zum begehrten russischen Markt, woraus ein stabiler Handel erwächst, der für beide Seiten ertragreich ist. Chinesen aber bleiben in Russland ungern gesehene Gäste, denen mit Höflichkeit nicht grundsätzlich zu begegnen ist.

Der Honorativ ist eine zentrale Kategorie der russischen Sprache. Unbekannte Personen nicht in der höflichen Sie-Form anzureden bedeutet, ihnen ohne Achtung zu begegnen, sie zu beleidigen. Die Mitarbeiterinnen des Akademischen Auslandsamtes (International Office) der TU Irkutsk sind seit Herbst 2009 mit den mehr als 300 chinesischen Studenten, die mühsam russisch lernen und von der Universität betreut werden, sichtlich überfordert. Insbesondere zu Ferienzeiten sinkt daher die Höflichkeitsschwelle enorm, wird keine Energie in überflüssige Formulierungen verschwendet. Den jungen Chinesen, der wegen seiner polizeilichen Registrierung nachfragt, wirft die Beauftragte für Registrierungsfragen die Worte hin: Setz dich, warte bis du drankommst. Den europäischen Gaststudenten, der eine ähnliche Frage hat, schaut sie an: Und was wollen Sie?

Architektur/Fernost

Im Äschenreich

Posted by Sascha Preiß on

„It took a day to built a city
we walk through its streets in the afternoon.“
Sting Fortress around your Heart

Plattenbau muss nicht hässlich sein, kann aber.

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Die Stadt Nerjungri, eine von Russlands jüngsten Siedlungen und gerade einmal ein halbes Jahr älter als ich selbst, ist architektonisch keine Perle des Ostens. Gegründet Mitte der 70er Jahre, um die im Permafrostboden schlafenden Kohlevorkommen ins sowjetische Leben zu befördern, entstand in kürzester Zeit mitten in der Taiga aus einer Zeltsiedlung eine Ansammlung von Holzhütten, die wenige Jahre später mit Plattenbauten zu einer Stadt aufgeforstet wurde. Diese wurde am nordöstlichsten Siedlungsgebiet von Ewenken errichtet, weshalb sie wie der nahegelegene Fluss einen ewenkischen Namen trägt: Die Äschenreiche. Äschen (Fische), ewenkischer Einfluss und Schneekristalle – so sieht das Stadtwappen von Nerjungri aus.

Als Spätprodukt der sowjetischen Industrialisierung und zeitgleich mit dem Bau der BAM steht die Stadt für einen weiteren Triumph sowjetischen Fortschrittsdenkens, jede noch so gestrenge Natur und Umgebung technisch zu erobern und beherrschbar zu machen. Ästhetische Erwägungen spielen hierfür – naturgemäß – keine Rolle. Statt dessen  dominieren Plattenbauten mit verschiedenfarbigen Anstrichen das Leben der Stadt, errichtet für die Arbeiter im Kohleabbau, in der Kohleverarbeitung und im Kohlekraftwerk. Gebürtige Nerjungriner muss das nicht davon abhalten, ihre Stadt als schön zu beschreiben.

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Zur Zeit der Errichtung der Stadt und dem etwas entfernt gelegenen, mit für Schwertransport geeigneten Ausmaßen gesegneten Flughafen zogen Arbeiter aus der gesamten Sowjetunion, vom Schwarzen Meer ebenso wie aus Moskau und Vladivostok, nach Südjakutien und ließen sich, Außentemperaturen von bis zu -50°C zum Trotz, häuslich nieder. Manchmal wird dies auch stolz mit der Besiedlung des amerikanischen Westens verglichen.

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Auch wenn die Stadt nicht unbedingt vor Ausländern überquillt, kann man im Hotel Timpton, benannt nach einer nahegelegenen kleinen Gebirgskette, durchaus die real existierende globalisierte Welt erleben: Per Satelitenfernsehen lassen sich auf den Zimmern 4 Sender aus Turkmenistan empfangen (neben einem ukrainischen Sender die einzigen nicht-russischen Programme), von denen 3 ziemlich genau das gleiche zeigen, aber mit anderer Hintergrundmusik. Auf einem dieser Kanäle war nun, mitten im endlosen sibirischen Wald, als turkmenische Übersetzung eines Beitrags der Deutschen Welle, ein Kurzportrait meiner Geburtstadt Erfurt zu sehen. Ein unerwarteter Anblick, der mich seither rätseln lässt, wieviele Turkmenen sich, wie ich, eigentlich nach Nerjungri verlaufen und wieviele von ihnen sich, wie ich, demnächst in Erfurt aufhalten werden.

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„Die chinesiche Mauer“ – Nerjungris längstes Gebäude (ca. 300m)

(wird fortgesetzt)

Irkutsk/minimal stories/Russland

minimal story 9

Posted by Sascha Preiß on

Während des Gesprächs klingelt ein Telefon, von den drei auf dem Tisch liegenden gehört Igor das läutende. Ein seriös geführtes Telefonat, es geht um die Aufführung, die er für die Weihnachtszeit vorbereitet. Eine Geschichte mit Djed Moroz, Väterchen Frost, dem russischen Weihnachtsmann, und Snjegurotschka, dem Schneeflöckchen, seiner weiblichen Begleitung, dazu Winnie Pooh und eine ganze Reihe anderer Figuren aus allerlei russischen Märchen (ja, Winnie Pooh zählt auch dazu, denn es existiert eine außerordentlich populäre sowjetische Kopie, Винни-Пух), eine Aufführung für Kinder sei das, aber auch für Erwachsene. Diese Veranstaltung, erzählt er nachher, ist sogar schon von einem Freund für ein Gastspiel in Moskau gebucht. Als das Telefonat zu Ende ist, lacht Igor plötzlich laut los. Das wäre ein sehr russischer Anrufer gewesen. „Ich habe ihm alles zu unserer Aufführung gesagt, er fand das gut und wollte das für sich zu Hause haben. Und er wollte wissen, ob wir dazu auch einen Striptease anbieten.“

Irkutsk/Ulica

Was vom Feuer übrig blieb

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In der Stadt brennen regelmäßig Gebäude. Irkutsk zählt zu den Städten mit weltweit höchstem Anteil an Holzarchitektur. Etwa 50% der Gebäude auf dem gesamten Stadtgebiet sind überwiegend aus Holz errichtet, der ursprünglich sehr dörfliche Charakter hat sich über die Jahrhunderte und trotz großem Stadtbrandes 1877 und stalinistischer Bauintensivierung weitgehend erhalten. Auch wenn bei moderneren Gebäuden die Außenfassade deutlich widerstandsfähiger wirkt, so ist doch der Gebäudekern nach wie vor hölzern und anfällig für große, kaum einzudämmende Brände. So auch vor wenigen Tagen am Zentralmarkt, ein mehrstöckiges Geschäftshaus brannte in der Mittagspause innerhalb kürzester Zeit vollständig aus, insgesamt 300 m2. Trotz der schnellen Ausbreitung des Feuers gelang glücklicherweise allen im Gebäude befindlichen Personen die Flucht ins Freie. Wegen der umfangreichen Löscharbeiten und polizeilichen Untersuchungen war der Verkehr rings um den Zentralmarkt bis in den Abend stark behindert. Die von der Brandzerstörung betroffenen Geschäfte – eine Anwaltskanzlei, eine Apotheke, ein Friseur, ein Immobilien- und ein Reisebüro – stellen einen Querschnitt der im Irkutsker Stadtzentrum verbreitetsten Geschäftsmodelle dar.

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– Ein typischer Brand?

– In vielerlei Hinsicht. Brände, auch in dieser Größenordnung, sind in sibirischen Städten keine Seltenheit.

– Weshalb die besondere Aufmerksamkeit auf diesen?

– Es wird untersucht, ob es ein Brandziel gab. Das kann Insolvenzvermeidung sein oder eine offen ausgetragene Rivalität unter Geschäftsleuten. Die betroffenen Geschäfte haben mit Abstand die meisten Konkurrenten in der Stadt. Es existieren inoffizielle Agenturen zur „Beilegung“ irgendwelcher Rivalitäten.

– Auftragsbrandstiftung? Das Feuer brach zu einem für die Mitarbeiter günstigen Zeitpunkt aus.

– Zu dieser Zeit sind die meisten Angestellten in den Verpflegungspunkten um den Markt zu finden. Solange es keine Beweise gibt, bleiben das glückliche Zufälle oder göttliche Fügung, je nach Standpunkt.

– Das Gebäude wird wohl abgerissen werden müssen und durch ein neues ersetzt. Wie groß ist die Versuchung, Hausbrände als Mittel zur Stadtplanung einzusetzen?

– Sie wären überrascht, wie einfach es ist, alte, platzraubende Holzhütten loszuwerden. Für viele Städte Sibiriens etwas Alltägliches.

– Empfinden Sie Löscharbeiten bei minus 15 Grad angenehmer als im Sommer?

– Die Brände sind einfacher zu handhaben, man kann mit Brandhemmern angereichertes Wasser verwenden, der Warmwetterschaum erzielt bei diesen Temperaturen keinerlei Wirkung. Und die Häuser sehen nachher vor lauter Eiszapfen festlich dekoriert aus. Das hält auf jeden Fall bis zum Neujahrsfest.

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Das Wetter/Ulica/Wildbahn

Tierlieb

Posted by Sascha Preiß on

Unter Einfluss strenger, anhaltender Kälte offenbart sich bei der sibirischen Bevölkerung die innige Beziehung zu Tieren. Das Halten von Haustieren ist sowieso verbreitet, das Halten von Straßentieren genießt allerdings ebenso hohes Ansehen. Schulkinder lernen schon frühzeitig das Anfertigen bunt bemalter Vogelhäuschen aus Schuhkartons, die rings um das Schulgebäude in die beschneiten Sträucher gehängt sind. Und Küchenabfälle in größeren Mengen auf den Abdeckungen von Wasserleitungen im Boden sind kein Auszeichen mangelnden Hygieneempfindens – man stellt Nahrungsmittel für die in der Stadtwildnis lebenden Tiere bereit. Weshalb immer wieder größere Tieransammlungen auf diesen Gullideckeln zu beobachten sind, welche zudem noch von unten Wärme spenden. Gelegentlich mögen diese Speisegeschenke bizarr anmuten, sie sind doch immer Ausdruck tief empfundener Tierliebe.

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Anti-Terror/Irkutsk/Russland

Kontraterror

Posted by Sascha Preiß on

Vom 11. bis 25. November sind in Irkutsk, erstmals in Russland, Kriegsaufnahmen des „Argumenty i Fakty“-Fotoreporters Vladimir Svartsevich unter dem Titel „Kontraterror“ zu sehen. Die Ausstellung versammelt die Aufnahmen aus Kriegseinsatzgebieten der russischen Armee im Kaukasus, von der südossetischen Interventionen 1991 bis hin zum Schulmassaker in Beslan 2004. Zur Eröffnung am 10.11. war fast ausschließlich Militär anwesend. Svartsevich ist ebenfalls ehemaliger Soldat, der lange Zeit im Kaukasus im EInsatz war. Aus dieser Zeit stammen seine Aufnahmen.

Die Bilder sind sowohl in ihren Motiven als auch in der Aufhängung verstörend. Zu sehen sind  auf einer Fotografie z.B. russische Soldaten, die nackt und fröhlich aus der Sauna kommen, während auf dem Bild daneben zu einem Fleischberg zusammengeworfene zerstückelte Leichen von „abgeknallten“ Terroristen liegen. Es ist für die Ausstellung unerheblich, ob sich beide Szenen im gleichen Jahr und Kriegsgebiet ereigneten oder weiter auseinander liegen. Die Ausstellung zielt in erster Linie auf den Schockeffekt beim Betrachter, offizielle Lesarten der kaukasischen Kriege grundsätzlich in Frage zu stellen. Jetzt, 9 Jahre nach dem offiziellen Ende des zweiten Tschetschenienkrieges und ein halbes nach Abzug eines Großteils der russischen Armee. Da die Fotos weder in chronologischer noch in sichtbar inhaltlicher Logik gehängt sind und außer Zeit, Ort und Titel keinerlei Angaben beigegeben wurden, bleiben nach dem Schock eine ganze Reihe von Fragen unbeantwortet. Etwa: Ob mit diesen Fotografien nun auch eine inhaltliche und sogar juristische Aufarbeitung der vergangenen Kriegsjahre eingeläutet ist.

Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf die offizielle Bezeichnung, mit der unter Putin immer wieder Kriegshandlungen in der Kaukasusregion rechtfertigt wurden. „Kontraterroristische Operationen“ würden durchgeführt, in Tschetschenien wie in Inguschetien und anderswo. Gezeigt wird, wie diese Anti-Terror-Einsätze tatsächlich aussahen: Soldaten in machistischer Pose und voller Erschöpfung, Söldner, Erniedrigung Gefangener. Es gibt keinerlei erläuternde Texte, welche die Sachverhalte und Umstände, unter denen die Bilder entstanden oder die Grundidee der Ausstellung beschreiben. Der Betrachter bleibt mit seiner Deutung allein. Ist „Kontraterror“ eigentlich Terror gegen den Terror, ist die russische Armee terroristisch? Offensichtliche Kritik am Vorgehen der russischen Armee im Kaukasus wechselt mit Fotografien, die durchaus auch als Werbung für diese Armee aufgefasst sein können. Dazwischen reich geschmückte Begräbniszeremonien für russische Gefallene und allgemeine Fotografien aus dem Alltag in den Kriegsgebieten, etwa ein Brotverkaufsstand vor Häuserruinen. Getötete tschetschenische Kämpfer werden hingegen auf den Bildtiteln durchgängig aus Terroristen bezeichnet, ohne Anführungszeichen und unabhängig davon, ob sie gerade von einem russischen Soldaten geplündert werden oder auf einer Mülldeponie abgeworfen wurden. „Keine mustergültigen Kriege“ titelt die Wochenzeitung „Argumenty i Fakty“, für die Svartsevich arbeitet und vermutet, dass die Ausstellung eigentlich den falschen Titel trägt, sie hätte besser „Gesichter des Krieges“ genannt werden sollen.

Eines der grausamsten Fotos, aufgenommen 1999 in Dagestan, zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges, zeigt drei tote Tschetschenen oder Dagestaner (Terroristen), die an ihren Füßen zusammengebunden und halbnackt von russischen Panzern entlang geschleift werden. „‚Säuberung‘ der Terroristen“ heißt das Bild. Während solche Aufnahmen etwa aus dem Irak zu veritablen Skandalen und dem einen oder anderen Gerichtsprozess führen, bleibt die öffentliche Reaktion hier vollständig aus. Das Gästebuch der Ausstellung aber ist voll mit Danksagungen für diese Bilder, welche erstmals offiziell in Russland zu sehen sind. Manche Kommentatoren halten den Fotografen deshalb auch für einen Volkshelden.

minimal stories/Sprache/Universität

Hölle (minimal story 8)

Posted by Sascha Preiß on

Wortspiele als Auszeichen eines liebevoll-intimen Verhältnisses zur Sprache sind in Russland sehr populär. Ob ein Buchladen „Лас Книгас“ heißt oder ein Saft „Индиана Джус“ – ein kleiner Kalauer darfs immer mal wieder sein. Und aus diesem Grund hatte ein wortspielender Student kurzerhand zwei Buchstaben vom Schild meiner Unibürotür geklaut. Die weißen Lettern sind auf die blaue Plaste nur aufgeklebt und wer möchte, nimmt sich in einem unbeobachteten Moment einen mit. Ursprünglich stand dort etwas vom „Лекторат ДААД“ zu lesen, jetzt ist es das „Lektorat HÖLLE“. Die Suche bzw Wiederbeschaffung der verlorenen Buchstaben wird nun ein längerer Weg durch die Administrationskatakomben der Universität bedeuten. Dennoch: Weil mich dieser Scherz durchaus zum Lachen brachte, weigere ich mich, darin irgendeine Kritik an meiner Arbeit zu erkennen.

Lektorat HÖLLE

Irkutsk/Russland

Tag der Einheit

Posted by Sascha Preiß on

 Der „Tag der Einheit des Volkes“ ist einer der jüngsten Feiertage in Russland, und um ihn zu popularisieren wird dazu ein umfangreiches nationales Volksfest zelebriert. Das schließt auch aufklärend positive Berichterstattung zu den Feierlichkeiten ein:

День народного единства отметили в Иркутске | Новости Irk.ru

Während das Bild im Artikel von Tanz und Heiterkeit und der Gouverneur des Irkutsker Oblasts von der Einheit der sibirischen Nationalitäten in Zeiten der Krise künden, denn in Krisenzeiten ist nichts so wichtig wie Folklore und nationale Erbauung, so spechen die letzten beiden Absätze die eigentliche nationalistische Kernidee des Feiertags aus: Neben Tanz und Gesang ist der traditionelle „Russische Marsch“ auch wieder veranstaltet worden (Plakate dazu waren in der Stadt angeklebt), auf dem so heitere Rufe wie „Ruhm und Ehre Russlands“, „Ruhm und Ehre dem russischen Imperium“ und „Ruhm und Ehre der Armee“ erklangen. Tief in der russischen Historie liege der Anlass für den modernen Feiertag, der einen verschütteten zaristischen Tag für die heutige Zeit wiederbelebt: Die Befreiung von der polnischen Besatzung 1612 wird gefeiert.

Die Kommentare lesen sich allerdings weniger begeistert, ein „dummer Feiertag“ sei es, Putin könne dem Land mehr oder weniger alles verordnen. Fragt man Studenten und Kollegen, ist häufig lautes Lachen über den 4. November zu hören. Dass sich in Russland die Feiertage jederzeit ändern könnten, sei die eigentliche Tradition.

Eine Datumssuche auf wikipedia.org zeigt für den 4.November u.a. folgenden Eintrag an: „1794: In der Schlacht von Warschau im Warschauer Vorort Praga schlagen russische Truppen den Kościuszko-Aufstand in Polen endgültig nieder. Nach der Schlacht kommt es zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Der Aufstand bietet den Anlass zur endgültigen Liquidierung Polens 1795.“ Zwar handelt es sich um den 4.November des Gregorianischen Kalenders, der in Russland erst 1918 Einzug hielt, doch spricht dies dennoch von einem nicht zu übersehenden Zynismus des russischen Feiertags, der das russisch-polnische Verhältnis vollständig auf den Kopf stellt und national umwertet zugunsten eines Opfer-Helden-Mythos der russischen Seite.

Man kann sich nun überlegen, was dies über die politische russische Landschaft aussagt, auch im Zusammenhang mit der Aussage einer Kollegin, die interkulturelle Kommunikation unterrichtet, die sehr bestimmt sagte, dass die Russen ein besonders tolerantes Volk sind.

Interkultur/Liljana/Russland

Vater Mutter Kind

Posted by Sascha Preiß on

Seit knapp drei Wochen hilft uns Anna mit der Betreuung von Lili. Anna ist die Tochter einer Arbeitskollegin von Jenny, 25 Jahre alt und ihre Tochter Polina ist im September in die Schule gekommen. Anna ist selbst ausgebildete Lehrerin, kann Englisch und Spanisch unterrichten. Aber sie ist momentan arbeitslos. Nicht weil es wirklich so schwer wäre, eine Stelle als Lehrerin zu finden. Es werden zwar sehr wenige junge Lehrer eingestellt und die Zahl der Neueinschulungen in Russland sinkt nach wie vor. Lehrerin zu sein ist vor allem wegen des schlechten Gehalts nicht attraktiv. Etwa 8000 Rubel würde sie verdienen, keine 200 Euro. Als Njanja bekommt sie deutlich mehr. Kinderbetreuung macht ihr auch viel mehr Spaß als Englisch-Unterricht. Und Lili fühlt sich ganz wunderbar wohl bei ihr. Anna hat sich in den ersten beiden Wochen an unsere, für russische Verhältnisse sehr ruhige Wohnung (kein Fernsehgerät!) gewöhnen müssen. Wenn Lili im Tragetuch tief und weich auf ihrer kissengroßen Brust schläft, sitzt sie selbst auf dem Sofa und langweilt sich ein bisschen. Dann schaut sie auf ihr Handy oder telefoniert leise.

Einmal hat sie beim telefonieren geweint. Der Vater ihrer Tochter hat sie vor einiger Zeit verlassen, sie weiß nicht genau, wo er wohnt, aber sie hat über Bekannte so etwas Ähnliches wie Kontakt. Anna selbst ist das unwichtig, sie vermisst ihn nicht. Aber Polina ist namentlich ihr Leben lang an diesen Mann gebunden, sie trägt den Familiennamen ihrer Mutter, jedoch den Vatersnamen, den ihr ein Vater eingebracht hat, den sie nur wenig kennt. Ein Leben ohne Otchestvo ist für Russen schlechterdings unmöglich. Sollte ein Kind geboren werden ohne bekannten leiblichen Vater, wird für die offizielle Namensfestlegung des Kindes auf der Geburtsurkunde kurzerhand ein Vater erfunden, irgendein Michail Alexandrowitsch ist immer möglich. Die Mutter ist für amtliche Belange beinahe unwichtig.

Anna würde sich dafür eigentlich nicht interessieren, wenn nicht vom Vater abhinge, was die Tochter in der Schule tun und lassen darf. Ohne seine schriftliche Einwilligung kann sie z.B. nicht mit zur Klassenfahrt. Und dieses und andere Dokumente bekommt sie nicht von ihm, von Unterhaltszahlungen ganz zu schweigen. Wenn es ihn nicht interessiert, was mit seiner Tochter passiert, hat er alle Möglichkeiten, ihr das Leben zu erschweren. Sie als Mutter muss ihm hinterherrennen und stets aufs Neue um etwas bitten. Die Behörden verlangen die Einwilligung beider Elternteile, ungeachtet der Familiensituation. Normalerweise ließe sich so etwas per Gericht klären, aber das raubt Zeit, Geld und Kraft und verspricht wenig Hoffnung. Viele russische Väter kümmern sich nicht um ihre Töchter, sagte Anna. Aber sie beeinflussen ihr Leben so sehr, dass ihr manchmal die Tränen kommen.

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Das Wetter/Russland

Russland heute, die Sowjetunion erinnernd

Posted by Sascha Preiß on

Nach der Zwischenfrage noch eine minimale Auswahl deutschsprachiger Informationen zum gegenwärtigen Stand der Dinge im größten Land der Welt.

Wahlen ohne Auswahl – stellvertretend für den sehr lesenswerten Russland-Blog der Heinrich-Böll-Stiftung

Chodorkowskij erwartet Lebenslänglich – аеродром.ная / tazblogs dokumentiert ein Focus-Interview u.a.

Verbotene Kunst in Moskau ist aber noch im Internet zu besichtigen

Für ausführlichere Zustandsbeschreibungen fragen Sie natürlich den Buchhändler Ihres Vertrauens.

„Und schließlich die dritte Umbruch-Zeit unter Putin. Vor dem Hintergrund einer neuen Phase des russischen Kapitalismus mit unübersehbar postsowjetischem Anstrich. Eines ökonomischen Modells, das der Herrschaftszeit des zweiten Präsidenten Russlands ganz und gar entspricht und gekennzeichnet ist durch einen eklektischen Mix aus Markt und Dogma, eine Vermischung von allem mit allem. Wo es beträchtliche Mengen an disponiblem Kapital gibt und ebenso viel typisch sowjetische Ideologie, die diesem Kapital Vorschub leistet, sowie noch mehr Verarmte und Mittellose. Außerdem erlebte die alte Führungskaste der Nomenklatura einen neuen Aufschwung. Diese breite Schicht sowjetischer Staatsfunktionäre, die wieder in ihre Funktion eingesetzt wurde und sich an die neuen ökonomischen Bedingungen sehr schnell und nur allzu gern anpasste. Die Nomenklatura will jetzt genauso üppig leben wie die „neuen Russen“, und das bei verschwindend geringen offiziellen Gehältern; sie will um keinen Preis der Welt die neue Ordnung gegen die alte sowjetische eintauschen, doch so ganz geheuer ist ihr diese neue Ordnung mit ihrem – von der Gesellschaft immer nachdrücklicher eingeklagten – Streben nach Recht und Ordnung nun auch wieder nicht, also verwendet sie einen Großteil ihrer Zeit darauf, sich unter Umgehung von Recht und Ordnung persönlich zu bereichern. Mit dem Ergebnis, dass die Korruption unter Putin ein beispielloses Ausmaß erreichte, von der neuen, alten Putin’schen Nomenklatura zu einer Blüte geführt, wie sie weder zur Zeit der Kommunisten noch unter Jelzin denkbar war. Diese Korruption verschlingt das kleine und mittlere Unternehmertum, also den Mittelstand, lässt nur das große und supergroße Kapital überleben, Monopole und staatsnahe Unternehmen, denn in Russland sind gerade sie es, die nicht nur für ihre Eigentümer und Manager hohe, stabile Gewinne abwerfen, sondern auch für die jeweiligen Protektoren in den staatlichen Verwaltungsstrukturen, ohne die bei uns kein einziges Großunternehmen existieren kann. In diesem Sumpf, der nichts mit Marktwirtschaft zu tun hat, kann die neue russische Parteinomenklatura (wie sie wieder wie in alten Sowjetzeiten genannt wird) ihre Sehnsucht nach der UdSSR, nach ihren Mythen und Phantomen ausleben. Putin versammelt recht gern „Ehemalige“ – Leute aus den sowjetischen Führungsstäben – unter seinen Fahnen, da nimmt es nicht Wunder, dass der ideologische Überbau des Putin’schen Kapitalismus immer stärker Züge der späten Breshnew-Zeit annimmt, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre von extremster wirtschaftlicher Stagnation gekennzeichnet war.“

Quelle: perlentaucher