Interkultur/Universität

minimal story 11

Posted by Sascha Preiß on

Ein junger Student sagte neulich, über das Thema „Reisen“ philosphierend, mit Nachdruck und prinzenhafter Würde, er sehe nicht, wozu das gut sein solle, er würde daher nicht reisen, insbesondere nicht ins Ausland, das interessiere ihn nicht, er habe seine Datscha im Wald am See und seine Freunde, die ebenfalls ihre Datscha im Wald am See hätten, kämen ihn jeden Sommer dort besuchen. Ein klares Weltbild, aufgeräumt, übersichtlich, erdbebensicher vor äußeren Einflüssen. Dass der junge Mann an der Universität eine Fremdsprache erlernt, gehört wohl zu den unbedeutenden Pointen der sibirischen Wildnis.

Anti-Terror/Baikal/Irkutsk/Ulica

Mittelpunkt der Welt

Posted by Sascha Preiß on

Es tut sich was in der ferneren sibirischen Provinz, die sich manchmal wegen seiner geografischen Lage auch schlicht den Mittelpunkt der Welt nennt.

Nicht allein, dass bei den Regionalwahlen am vergangenen Wochenende ein neuer Bürgermeister für Irkutsk gewählt wurde, der überraschend nicht der Partei „Einiges Russland“ angehört, was sogar auf tagesschau.de berichtet wurde.

Auch die schon länger angekündigte Ausgangssperre für Jugendliche unter 18 Jahren ist bereits seit Februar in Kraft. Zuwiderhandlungen können mit bis zu einer halben Million Rubel geahndet werden.

Mit 4 Millionen Rubel ist dagegen das Programm zum Einfangen herrenloser Hunde ausgestattet, mit dem inzwischen begonnen wurde.  Die Tiere sollen maximal sechs Monate verwahrt bleiben, danach werden sie – sofern sich ihrer niemand annimmt – eingeschläfert. Kranke Tiere werden sofort eingeschläfert. Das Programm soll die Sicherheit der Einwohner erhöhen. Doch unter der grundsätzlich tierlieben Bevölkerung regt sich Protest.

Apropos: Ganz so einfach lässt sich der Protest gegen das Zellulosekraftwerk Baikalsk wohl doch nicht aufhalten. Immerhin haben inzwischen beinah alle unabhängigen Ökologie-Vereine in ganz Russland, incl. Greenpeace Russland und dem WWF Russland, sich zu einer neuen Organisation zusammengeschlossen, die nur ein einziges Ziel verfolgt: den Baikal zu schützen. Russlandweit ist daher für morgen, den 20. März, aufgerufen, sich an der Irkutsker Demonstration zur Schließung des Zellulosekraftwerks zu beteiligen.

Zeitgleich hat Ministerpräsident Putin reich ausgestattete Stipendien zur Erforschung des Ökosystems Baikal vergeben. Was für Putin, selbst leidenschaftlicher Baikaltourist, der am See eine Villa besitzt, kein Widerspruch zu sein scheint mit seinem Einsatz für den Erhalt des umstrittenen Zellulosekraftwerks. Diese Geschichte ist lange noch nicht zu Ende.

Zu Ende hingegen ist die Geschichte der Jugendbande „Magie des Blutes“ und damit die besonders grausamer Verbrechen. Der 21jährige  und nun zu lebenslanger Haft verurteilte Konstantin Sch. gestand, mit befreundeten Schülern Obdachlose des Raions Novo-Lenino „aus reiner Neugier“ gefoltert, verstümmelt und ermordet zu haben.

Ebenfalls gestorben ist der zweijährige Nikita Tschemisow. Der Junge war Anfang April 2009 ins Krankhaus eingeliefert worden und kurz darauf ins Koma gefallen, aus dem er nicht mehr erwachte. Er war monatelang von seinen Eltern schwer misshandelt worden und schließlich an den Folgen seiner Verletzungen gestorben. Den jugendlichen Eltern drohen langjährige Haftstrafen. Das traurige Sterben des Jungen wurde intensiv medial begleitet.

Russland

Frauentag

Posted by Sascha Preiß on

Es hat Blumen gegeben, bunt und reichlich. Dazu überschwenglich glitzernde Glückwunschkarten. Und prunkvolle Pralinenkästen. Gabs überall zu kaufen und war heute der geehrten Dame zu überbringen. Glückwunschtage sind Festtage. Warum dieser Tag, weiß wohl kaum noch wer. Erhalten hat sich in Irkutsk eine Clara-Zetkin-Straße, erhalten haben sich in Russland viele alte Heldennamen. Wer das mal war, irrelevant. Wichtig ist: achter März ist arbeitssfrei, da kauft Mann Blumen für die Frau. Was soll man sonst tun als Mann für seine Frau.

Am fünften März steht meine zukünftig schwangere Mitarbeiterin im Zimmer und leuchtet etwas, als sie von Plänen spricht, ein halbes Jahr Fortbildungsstipendium in Deutschland, dann Arbeit als Lehrerin, Dozentin, berufliche Perspektive. Sie wird ruhiger. Ihr Mann verbietet ihr das Stipendium, sie soll sich ums Kind kümmern, das sei halt normal.

Der junge Mann beugt sich im Bus über die sitzende Frau und versucht sie zu küssen. Sie ignoriert ihn, seine Versuche, zornig. Er zupft ihr in den Haaren, sie verscheucht seine Hand. Er redet auf sie ein, angetrunken, spricht von seinen Gefühlen für sie. Sie schaut angestrengt aus dem Fenster. Er küsst sie immer wieder ins Gesicht. Sie will in Ruhe gelassen werden, windet sich unter ihm. Er achtet gar nicht darauf, drückt sie erneut an sich.

minimal stories/Russland

minimal story 10

Posted by Sascha Preiß on

Wenn man am Nachmittag mit der kleinen Tochter im Tragetuch durch den kleinen, verwilderten Park hinter dem Dom Sukachova geht und von einer unbekannten jungen Frau mit Kind angesprochen wird, ob man ihr sagen könne, wo denn das Tuch gekauft sei, das gäbe es doch ganz sicher nicht in Irkutsk, das sei ganz bestimmt aus Deutschland, denn sie wisse ja, dass man selbst auch aus Deutschland sei und hier in Irkutsk für einige Zeit mit Familie lebe und beide, Mann und Frau, in je einer Universität als Deutschlehrer arbeite und die Tochter hier im Juni geboren wurde und Liljana heiße, die anderen Namen habe sie auch mal gewusst, und das wisse sie deshalb, weil ihr Kind genau wie Liljana auch immer eine Massage der Kinderärztin Larissa erhalte, die ihr das alles erzählt habe – dann also weiß man ganz zweifellos, dass die 600.000-Einwohner-Metropole am Baikal tiefste (russische) Provinz ist.

Anti-Terror/Baikal/Ulica

Was da vor sich geht

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Gab es in der ersten Februarhälfte noch öffentlich geduldeten Protest gegen die Wiedereröffnung des Zellulosekraftwerk Baikalsk, so wird im Vorfeld der Bürgermeisterwahl in 14 Tagen der offizielle Umgang mit den Initiatoren des Meetings deutlich rauher. Auch eine Klage gegen Baikalwave wegen der Verbreitung von Lügen über das Kraftwerk steht kurz bevor.

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Weiterhin brennen im zukünftigen Museumsviertel bewohnte Holzhäuser. Damit ist seit Dezember 2009 der achte Brand in einem sehr kleinen Viertel ausgebrochen. Was mit den ehemaligen Bewohnern der Häuser passiert, ist unklar. Die Häuser jedoch sind frei zur Sanierung und Umgestaltung als Restaurant oder Galerie.

UPDATE: Der mutmaßliche Brandstifter ist gefasst. Ein 14jähriger verhaltensauffälliger Schüler, vor einiger Zeit mit seiner Mutter aus Bratsk zugezogen, soll diese und andere Brände gelegt haben.

Liljana/selbst

Die Salbe

Posted by Sascha Preiß on

Der junge Lehrer Alexej Michailovich stieg raschen Schrittes die Treppe hinauf, öffnete schwungvoll die Tür und hatte mit dem Einatmen des ewigen Apothekengeruchs augenblicklich den Namen der Salbe vergessen, die er besorgen wollte. Seine Frau, die ihn zu Hause mit ihrem Töchterchen erwartete, hatte ihm am Nachmittag angerufen und gesagt, er solle auf dem Heimweg noch schnell bei der Apotheke vorbei und die Salbe mitbringen, um dann ab 17 Uhr die süße Kleine am Abend ein bisschen zu betreuen. Alexej Michailovich hatte sich beeilt, rechtzeitig von der Schule loszugehen, keine allzu ausufernden Gespräche mit der dienstältesten Kollegin Vera Nikolaevna über die richtige Pflege und Erziehung von Kleinkindern zu führen (ihre als Befehle vorgebrachten Ratschläge zeugten von großem pädagogischen Wissen und lebenslanger mütterlicher Erfahrung, waren aber leider vollkommen unbrauchbar, seine Frau befolgte sowieso nur das, was sie selbst für das Richtige hielt und das war jeden Tag etwas anderes), murmelte während der gesamten Straßenbahnfahrt den Namen der Salbe vor sich hin – und stand nun in der Apotheke wie ein Schüler, der viel zu viel gelernt hat und vor Anspannung die Prüfung versaut. Er wusste immerhin noch den Anfangsbuchstaben, G oder L, oder was mit D. Ansonsten starrte er blöd in den Raum.

Drei in silberbraune Pelzmäntel gehüllte ältere Damen und doppelt so viele Apothekerinnen wandten sich dem Lehrer zu und schauten ihn an. Nach handgestoppten sieben Sekunden, in denen nichts geschah, wandten sich alle wieder ihrer vorigen Beschäftigung zu, warteten ergeben, führten langwierige Verkaufsgespräche oder machten gar nichts. Alexej Michailovich rührte sich ein wenig, setzte die Mütze ab, unter der er schwitzte, kratzte sich und wandte sich den Glasvitrinen an den Wänden zu. Womöglich war die Salbe darin ausgestellt, manchmal hat man ja Glück und das Gesuchte schiebt sich einem direkt unter die Nase. Als er alle Vitrinen durchgesehen hatte und sich sicher war, die Salbe nicht gesehen zu haben, überprüfte er alles noch einmal und kam zu dem gleichen Ergebnis. In seiner Erinnerung war die Salbe in einer blauweißen Schachtel verpackt, auf der gut lesbar der Name geschrieben stand. Glycerol. Nein. Dynvital. Nein. Laktosan. Nein, ein S kam wohl nicht vor. Die Apothekerinnen und Pelzmanteldamen schielten zu Alexej, wie er vor den Glasvitrinen auf und ab ging und fieberhaft überlegte. Aber er wollte niemanden um Rat fragen. Er hätte nur etwas Unverständliches heraus gebracht, er bräuchte so eine Salbe mit G, L oder D, vielleicht auch M, ziemlich sicher ohne S, die in einer blauweißen Verpackung stecke. Zweifellos wären die Apothekerinnen vor unterdrücktem Lachen ganz grün angelaufen, bis es eine nicht mehr hätte zurückhalten können und sich schließlich alle Anwesenden ausgiebig über ihn lustig gemacht hätten. Dass ein Schüler den Tränen nahe war, weil ein Fehler in der Mathearbeit besonders komisch weil tölpelhaft erschien, dass es die gesamten Klasse erfahren und darüber lachen musste, war das eine. Aber hier fühlte er sich doch sehr unwohl. Er schrieb seiner Frau eine SMS. Als sie nach einer halben Minute immer noch nicht geantwortet hatte, rief er sie an. Es klingelte lange, aber seine Frau antwortete nicht. Alexej spürte, wie seine Anspannung in Ärger umschlug. Er rief noch einmal an, das Rufzeichen ertönte mehr als ein Dutzend mal, aber die Stimme seiner Frau ertönte einfach nicht. Alexej zischte fluchend durch die Zähne. Er atmete ein und aus. Nahm das Telefon, wählte noch einmal ihre Nummer und hielt es sich ans Ohr. Seine Frau antwortete nicht. Er rannte aus der Apotheke, ob die da drin über ihn lachten oder nicht, war ihm egal. Wichtiger war, warum zum Teufel seine Frau nicht antwortete. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten. Sie hatte sich mit der Kleinen hingelegt und schlief. Aber war das jetzt ihre Schlafzeit oder was? Das Klingeln des Telefons hätte sie trotzdem hören müssen. Oder sie hatte es leise gestellt und hörte es nicht. Verfluchte Scheiße, sie soll doch ihr Telefon nicht leise stellen, es könnte etwas Wichtiges sein und dies war jetzt wichtig. Oder sie war auf dem Klo, oder unter der Dusche. Und das Kind, wo war das dann, auch auf dem Klo? Warum musste sie ausgerechnet jetzt duschen, wo er den Namen der Salbe brauchte? War sie gar nicht zu Hause? Sie musste zu Hause sein, sie hatte gesagt, sie sei zu Hause. Alexej spuckte aus. Er hätte einfach nach Hause gehen und nachsehen können, dann hätte er auch den Namen der Salbe gewusst. Die Apotheke lag keine 5 Minuten von der Wohnung entfernt. Aber wozu hat man denn Telefone?? Außerdem kann er doch nicht mit leeren Händen nach Hause kommen und er hätte noch einmal losgehen müssen. Und dazu hatte er eben einfach keine Lust.

Also setzte er sich verärgert in die Sakusochnaja um die Ecke und wartete. Es war 5 nach 17 Uhr, er hätte längst zu Hause sein sollen, aber wenn seine Frau nicht antwortete, wartete Alexej eben so lange, bis sie sich bequemte, ihm den Namen der beschissenen Salbe zu sagen. Er verspürte einen ganz und gar unanständigen Appetit nach Bier.

Keine 10 Minuten waren vergangen, dass er die Apotheke verlassen, das erste Bier genusslos hintergestürzt und die dritte Zigarette angezündet hatte und vor dem zweiten Bier saß, da erhielt er eine SMS. Von seiner Frau. Die Salbe heiße Bepanthen, sie habe die Kleine gestillt, das Telefon habe im Nebenzimmer gelegen, wann er nach Hause komme, Küsschen. Alexej drückte die SMS weg. Küsschen, ja ja. Das hätte sie auch ruhig früher schreiben können. Bepanthen, ein bescheuerter, unmerkbarer Name. Jetzt saß er hier, trank und rauchte erst einmal. Und überlegte, gemächlich. In seinem Zustand konnte er nicht einfach so heimgehen und mit der süßen Tochter spielen, nach Alkohol und Zigarette stinkend, als guter Vater, der er war, verbot sich das von selbst. Da musste seine Frau jetzt durch, er würde eben später kommen und eine Ausrede erfinden. Hätte sie rechtzeitig geantwortet, würde er hier nicht sitzen müssen. Außerdem kritisierte sie ihn sowieso die ganze Zeit und wollte eigentlich alles alleine machen, na das konnte sie jetzt.

Alexej überlegte noch, als das drittes Bier gebracht wurde und sein Telefon klingelte. Seine Frau. Etwas panisch schaute er auf das klingelnde Ding. Er konnte auf keinen Fall rangehen. Eine Ausrede war ihm immer noch nicht eingefallen. Er wusste, dass er nur miserable, leicht durchschaubare Lügen zustande kriegte. Also ignorierte er das Klingeln eben. Nach 5 Minuten hörte es endlich auf. Er beschloss, in der Sakusochnaja auszuharren, bis seine Frau mit der Kleinen schlafen gegangen war, noch mindestens 4 Stunden, eher traute er sich nicht zu ihnen.

Als Larissa Vitaljevna, die Alexej an fröhlichen Tagen zärtlich Clara, Chiara oder Jasna nannte, gegen 1 Uhr in der Nacht aufstand, um nach ihrer Tochter Rosalia genannt das Röschen im Kinderzimmer zu sehen, erkannte sie sofort, warum die Kleine laut weinte und nicht mehr einschlafen konnte: Auf der bunten Wolldecke am Boden, umgeben von allerlei Spielzeug für das Kind, lag Alexej Michailovich, die Salbe in den Händen, schnarchte enorm und lächelte im Schlaf.

Anti-Terror/Baikal/Das Wetter/Irkutsk/Ulica

Zwischenstand

Posted by Sascha Preiß on

Was seither geschah:

Das Jahr 2010 hält Irkutsk mit ungewohnt langem, strengem Frost gefangen, weshalb schon einmal Warmwasserleitungen unter der Straße platzen oder sich Autos entzünden. Aufgrund der starken Schneefälle gibt es bereits Befürchtungen starker Frühjahrshochwasser und die Aufforderung, bis zum 1. März die Dächer von Schnee und Eis befreit zu haben. Trotz eigener Schwierigkeiten hat sich aber der Irkutsker Oblast an der humanitären Hilfe für die vom Winter hart getroffene Mongolei beteiligt.

Die Sehnsucht nach wärmeren Temperaturen scheint für viele ein Grund zu sein, auch dem politischen Klima etwas  Feuer zu machen. Manche sind deutlich sichtbar politisch aktiv geworden und werden die für den 14. März angesetzten Bürgermeisterwahlen kritisch zu begleiten wissen und weiterhin für die Stillegung des Zellulosekraftwerks Baikalsk demonstrieren.

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Apropos Feuer: Anfang Februar ist ein Teil des Schelechower Aluminiumwerks durch eine Brandexplosion zerstört worden, wobei drei Arbeiter getötet und eine unbekannte Zahl Arbeiter verletzt wurden. Aufgrund der Rauchentwicklung waren die Einwohner Schelechows und des Dorfes Olcha aufgefordert, sicherheitshalber in ihren luftdicht abgeschlossenen Wohnungen zu bleiben. Die dunkelgrüne, aluminiumoxid-haltige Rauchsäule zog gen Süden ab. Als Brandursache wird ein Kurzschluss vermutet.

Deutlich klarer scheinen die Ursachen der Brände im geplanten Museumsviertel an der Straße des 3. Juli in Irkutsk. Eine ganze Reihe von bewohnten alten Holzhäusern der Straßen des 3. Juli und Sedova sind in kurzem Abstand ausgebrannt. Die Feuerwehr vermutet einen Pyromanen am Werk, manch einer munkelt aber eher Brandstiftung, um die Häuser für die Sanierung als sibirisches Vorzeigeviertel vorzubereiten.

Ansonsten sind die Olympioniken des Irkutsker Oblastes, wie die Mehrheit der russischen Sportler, in Vancouver nicht ganz so erfolgreich wie erhofft. Trotz vorderer Platzierungen ist erst ein Edelmetall nach Irkutsk gekommen. Aber das war spektakulär: Erstmals in der olympischen Geschichte gewannen mit Aleksander Subkov  und Alexej Voevoda zwei russische Sportler im Zweierbob die Bronzemedaille.

Dafür sind die Renten auf 1862 Rubel erhöht worden, das sind nun monatlich 46 Euro.

Und manchmal kommt es vor, dass die Erde auch in Irkutsk deutlich spürbar bebt.

Irkutsk/Universität

Irkutsker Weihnachtsgeschichte 2009

Posted by Sascha Preiß on

Ende April hat sie geheiratet, ich war ebenfalls eingeladen, bin aber nicht hingegangen. Es gibt nicht vieles, was man keineswegs versäumen sollte. Wie oft ich noch die Möglichkeit erhalte, bei einer echten russischen Hochzeit anwesend sein zu können, kann ich mir selbst ausrechnen. Von meinen Kolleginnen, mit zwei Ausnahmen, sind alle verheiratet, seit 2 bis 3 Jahren die jüngeren, die älteren seit 20 bis 30 Jahren. Die beiden Ausnahmen sind in der unglücklichen Lage, mit Mitte 20 noch immer keinen Partner gefunden zu haben, was im russischen Normalfall bedeutet, dass auch keiner mehr kommen wird, der sie aus ihrer Einsamkeit erlöst. Irkutsk ist eine von sehr vielen Städten, in denen es deutlich mehr Frauen gibt, welche zudem sehr wählerisch sind. Russische Männer haben unter russischen Frauen nicht unbedingt den besten Ruf, ihnen wird Faulheit und Egoismus vorgeworfen, wo sie selbst aufwändig umworben werden wollen. Keine einfache Ausgangssituation für beide Geschlechter zueinander zu finden; glücklich, wer sich dauerhaft binden kann. Meiner Kollegin war es gelungen und das wurde entsprechend zelebriert, ihre Fotos zeigten eine wunderschön ausgestattete Hochzeit mit vielen fröhlichen Gesichtern. Ich aber, wie gesagt, bin darauf nicht zu sehen. Tatsächlich: Etwas so Triviales wie unaufschiebbar dringende Arbeit hielt mich fern. Sie war nicht enttäuscht, jedenfalls konnte sie ihre Enttäuschung sehr gut vor mir verbergen. Das sei normal so, sagte sie, als wir uns nach ihrer kleinen Hochzeitspause in der Universität wieder trafen. Oft genug, wenn wir in seriösem Ton die Arbeit absprechen, errate ich ihre Laune nicht. Normal gehe es ihr, sagt sie. Das heißt alles und nichts. Was kann ich mit dieser Aussage anfangen. Ich bin deutlich schlechter im Verbergen meiner Launen. Ich habe ihr also nachher im Büro eine Glückwunschkarte, darin verborgen etwas Geld überreicht, unsicher, ob das ein angemessenes Geschenk ist, und selbstverständlich entschuldigend für mein Fernbleiben. Sie dankte und ging. Ob das so in Ordnung gewesen wäre, wollte ich später wissen. Jaja, das sei absolut normal.

Meine Frau war da bereits deutlich sichtbar schwanger, im Sommer erwarteten wir unser Töchterchen. Die Frage nach Kindern stellt wohl so ziemlich jeder einem frisch vermählten, jungen Paar. Wir selbst hatten uns damals Zeit gelassen, die Hochzeit kam schnell, aber Kinder wollten wir noch keine. Beinah zwei Jahre nach unserer kleinen Ehezeremonie war es dann soweit, von den Familien ungeduldig erwartet und mit Erleichterung aufgenommen. Auch sie werde oft nach Kindern gefragt, sagte sie lächelnd, aber das wäre auch für sie beide im Augenblick noch kein Thema, später, nicht im Frühjahr und nicht im Sommer, irgendwann später. Und damit widmeten wir uns der Arbeit. Unser Kind kam zur Welt, eine andere Kollegin ging in Mutterschutz, wir arbeiteten weiter. Der Sommer kam und ging, die Ferienzeit kam und ging, ich hatte nun eine kleine Tochter und eine junge Mutter zu Hause, der Herbst zog schnell vorüber, der Winter war wechselhaft, kalt, sehr feucht, sehr unangenehm, in vielen Stadtteilen wurde die Heizung erst spät eingeschaltet. Eine Grippewelle ging daher durch die Stadt. Verschonte mich, ließ aber sie nicht aus. Eine Woche schleppte sie sich ins Büro, um die Arbeit zu bewältigen, die nicht liegen gelassen werden konnte und sie unbedingt noch zu erledigen hatte. Die nächste Woche blieb sie doch zu Hause. In der Stadt wurden Schulen geschlossen, unter Quarantäne gestellt, aber die Universitäten nicht. Sie kam wieder zur Arbeit, wir bereiteten eine Konferenz für das nächste Jahr vor. Einen Monat später fuhr ich auf Dienstreise, kam zurück, sie war nicht da, obwohl ich sie dringend sprechen musste. Sie war krank, schrieb sie per SMS. Das Jahr ging zu Ende, ich hatte noch ein paar Weihnachtsfeiern zu bewältigen, rief sie an, um sie zu einer einzuladen. Sie antwortete, dass sie noch im Krankenhaus sei, morgen wäre sie wohl wieder auf Arbeit, zumindest halbtags. Wieso Krankenhaus, wollte ich wissen, was sei denn passiert. Es sei wieder in Ordnung, es wäre nur nicht so angenehm gewesen, sie erzähle es mir später. Sie sagte nicht, dass alles normal sei. Sie versuchte, so normal wie möglich zu klingen, ihre Stimmer wackelte etwas.

Als junger Vater interessieren sich alle für das Wohlergehen des Kindes, ob es wächst, wem es ähnlich sieht, wieviel es wiegt. So auch einige Kollegen einer Verwaltungsabteilung der Universität, mit denen ich regelmäßig zu tun und viel Gelegenheit zum plaudern mit ihnen habe. Sie erzählten mir aufgeregt und heiter, dass ich die Kollegin, die im Sommer in Mutterschutz gegangen war, gerade verpasst habe, vor wenigen Minuten sei sie hier gewesen. Sie hatte ihr Kind vor zwei Monaten bekommen, alles sei ganz wunderbar. Und wie es bei meiner Kollegin aussähe, ich wisse doch ganz sicher, ob es wahr wäre, dass sie auch schwanger sei, man habe ihnen davon erzählt. Im zweiten oder dritten Monat. Wer erzählte denn sowas. Ich wusste nichts davon, hatte in diesem augenblick ein scheußliches Gefühl. Wenn es wahr wäre, und warum sollte dieses Gerücht nicht wahr sein, der russische Buschfunk ist grundsätzlich besser informiert als die Nachrichtendienste, dann war klar, weshalb sie im Krankenhaus lag und es keinesfalls als normal beschrieb. Mein Verdacht allerdings stieß hier jedoch auf wenig Verständnis: Das wüssten sie ja wohl auch schon längst. Was bleibt da zu denken übrig. Auf den kommenden Tag warten.

Eine Freundin hatte ein werdendes Kind verloren, wegen einer Erkältung, im dritten Monat. Eines Morgens Bauchschmerzen und der Körper trieb den Fötus aus, weil er ihn nicht mehr ausreichend versorgen konnte, beim Gang aufs Klo. Sie hatte sich danach immer wieder übergeben wollen, hatte aber keine Kraft dafür. So ihr Kind zu sehen, sei kaum auszuhalten. Sie fühle sich von ihrem Körper verraten, aber könne ihn gut verstehen, sagte sie später. Ich hoffte, meiner Kollegin würde das erspart bleiben und sie sei wegen einer unangenehmen, aber harmlosen Verletzung im Krankenhaus. Am nächsten Tag, 24.12., war sie nicht in der Universität. Ich erhielt von ihr eine SMS, sie wünschte mir von ganzem Herzen Glück, Freude, Erfüllung meiner Wünsche, eine lange und farbenfrohe Kaskade russischer Glückwunschkunst. Darauf zu antworten, war unmöglich, jedenfalls für mich. Ich überlegte mir ein paar Varianten, aber es gelang überhaupt nicht, also ließ ich es. Wie war ihre wackelige Stimme tags zuvor und dieser hochoptimistischer Weihnachtsgruß zusammen zu führen? Eine junge Frau, die sehr wahrscheinlich ihr Kind verloren hatte, wünschte mir Freude. Darauf mit einem Gruß überquellend von Glück und Gesundheit zu antworten, erschien mir obszön. Ich hoffte, dass ich mit meiner Vermutung unrecht hatte, malte mir in langen Busfahrten durch die eiskalte Stadt aus, was tatsächlich passiert sein könnte und kam immer wieder auf den einen Gedanken. Sie beherrschte die Kunst perfekt, ihre Emotionen ganz im Privaten zu belassen und in der Öffentlichkeit Normalität zu wahren, eine bewunderungswürdige Fähigkeit. Ohne ihre wackelnde Stimme hätte ich das kaum bemerkt. Wer aufmerksam und sensibel war, konnte jederzeit unterscheiden, was normales Alltagsgespräch und was Schutz ihrer selbst war. Deuten und verstehen ließ es sich nicht.

Tags darauf, am 25., trafen wir uns auf einem Parkplatz im Stadtzentrum, das Auto war vollgepackt mit Obstkisten und Tüten, Vorbereitungen für das Neujahrsfest. Ich war fröhlich, weil ich in drei Tagen einen längeren Urlaub antreten konnte. Sie war fröhlich, weil – nun, sie war eben fröhlich. Ihr Mann begrüßte mich mit Handschlag, sie saß auf dem Beifahrersitz und lächelte. Und hielt mir eine große, bunte, glitzernde Tüte hin mit einem Geschenk, eine schöne sibirische Holzschnitzkunst. Ich hatte nur eine ganz kleine für sie. Mit einem Buch. Am Abend vorher hatten meine Frau und ich über Geschenke für Kollegen gesprochen und festgestellt, dass viele Russen Bücher nicht als vollwertige Geschenke auffassen. Richtige Geschenke wären Blumen, Schmuck, Parfüm, etwas Schönes also. Ich hatte an Blumen für sie gedacht, oder wenigstens eine Topfpflanze, etwas Lebendiges, Hoffnungsfrohes, aber mich doch anders entschieden. Das Buch hatte ich schon eine ganze Weile für sie ausgesucht, etwas über Schokolade. Weihnachten ist grundsätzlich kein schlechter Anlass für dieses Thema. Also saßen wir zu dritt im Auto, sie, ihr Mann und ich, überreichten unsere ungleichen Geschenktüten und ich schämte mich. Wir sprachen über meinen Urlaub, meine Familie, ob ich deutsche Weihnachten vermissen würde. Ich wollte nicht von mir erzählen, ich wollte von ihr ein Dementi aller meiner Befürchtungen hören. Als wir auf die Wetterverhältnisse und die Gesundheit zu sprechen kamen – blieb es aus. Sie erzählte nicht viel vom Krankenhaus, sprach vom Vorfall in der 7. Woche. Und legte ihr Lächeln nicht ab. Ich hatte auf eine irgendwie weihnachtliche Wende gehofft, ein Happy End. Der Arzt, sagte sie, habe versichert, dass alles wieder in Ordnung sei, nach der Operation. Sie würden es eben wieder probieren, nächstes Jahr. Es sei eine starke Erkältung gewesen. Die Kisten, wies sie auf das ganze Obst im Auto, haben sie von ihrer beider Eltern, sie feiern Neujahr in Irkutsk und bereiten jetzt alles zu Hause vor, ob sie mich wohin mitnehmen können. Ich wohnte jedoch in entgegengesetzter Richtung. Wir verabschiedeten uns, ich stieg aus und sie fuhren los. Ich stand im Schnee mit meiner großen Tüte, auf der golden Frohes Neues Jahr funkelte, und vermisste etwas, einen Schlusssatz oder etwas ähnlich Nützliches, dass mich nicht so hilflos auf der Straße rumstehen ließ.

Da dort so etwas nicht vorhanden war, ging ich los, nach Hause, ins Warme.

Fernost/Universität

Die Sterne unseres Glücks

Posted by Sascha Preiß on

Ihre deutsche Kollegin lud sie auf einen Kaffee ein. Warum denn in der Stadt treffen, fragte sie zurück, sie könne doch auch zu ihr ins Wohnheim kommen. Ein Café, fand sie, sei ein unpersönlicher und teurer Ort. Das wollte die deutsche Kollegin aber nicht. Aus Höflichkeit gegenüber einigten sie sich auf ein unscheinbares Lokal in der Nähe des Stadions, es spielte sehr laute Musik, der Kaffee wurde in Plastikbechern gereicht. Das wäre in Deutschland verbreitet? Sie könne wirklich nicht verstehen, warum sich Leute nicht zu Hause träfen.

Dennoch kamen sie ins Gespräch. Sie, eine 38jährige Doktorandin aus Blagoweschtschensk, wo der Amur die Grenze zu China bildet, mehr als 2000 TransSib-Kilometer von Irkutsk entfernt gelegen, unterrichte hier an der Linguistischen Universität 20 SWS, dafür erhielt sie 8000 Rubel im Monat, weniger als 200 Euro, aber mehr als in Blago. Als Zusatzverdienst arbeite sie noch an einem kommerziellen Institut der Universität, das sich mit Übersetzungen beschäftigt. Dort würden beinah alle Sprachlehrer der Universität aus dem gleichen Grund zusätzlichen Unterricht anbieten. Das Wohnheimzimmer, das sie sich mit drei anderen Doktorandinnen teile, koste 200 Rubel. Ihren Wintermantel, der neben ihr lag, könne sie in 8 Monatsraten abbezahlen.

– Bei soviel Arbeitszeit, um leben zu können: Wann schreiben Sie Ihre Doktorarbeit?

– Wenn alle anderen im Zimmer schlafen, hab ich ein paar Stunden.

– Und wann schlafen Sie?

– Danach.

– Was ist das Thema der Arbeit?

– Ich untersuche deutsche Zeitungen, die Darstellungen von Siegern und Verlierern im Sport.

– Reicht Ihnen Ihre Zeit dafür?

– Um 23 Uhr wird das Wohnheim zugeschlossen, danach kommt man gar nicht mehr hinein oder heraus. Die Versuchung für zu viel freie Zeit ist nicht sehr groß, und das brauche ich auch nicht. Schließlich bin ich zum Arbeiten gekommen, mit dem Doktortitel verdient man mehr.

– Halten Sie es zu viert in einem Zimmer, in dem alle wissenschaftlich arbeiten wollen, auf Dauer aus?

– Man arrangiert sich, für eine Wohnung oder ein Einzelzimmer hat keine von uns ausreichend Mittel.

– Warum haben sie die deutsche Sprache gewählt, das liegt im Fernen Osten nicht unbedingt auf der Hand?

– Weil ich diese Sprache liebe und in diesem Bereich arbeiten möchte.

– Eine Fernbeziehung?

– Ja, vielleicht. Aber eine sehr innige.

– Sind die Umstände für die Entwicklung dieser Liebe nicht etwas hinderlich? Oder ist das eine Frage des Sportsgeistes?

– Wie man bei uns sagt: In uns selbst liegen die Sterne unsere Glücks.

Inzwischen ist sie wieder zurück in Blagoweschtschensk, nach drei Jahren, weil in Irkutsk an der Universität ihre Stelle nicht verlängert wurde. Zu wenig Studenten mit Interesse für deutsche Sprache, hieß es im Institut. Die Doktorarbeit hat sie nicht beenden können.

Architektur/Das Wetter/Irkutsk/Ulica

Kristallenes Märchen

Posted by Sascha Preiß on

Während in Deutschland berühmte Märkte aufgebaut werden, um Winter, Weihnachtsfest und Jahreswechsel einzuläuten, baut man in Sibirien nicht minder legendäre Eisstädte. Seit dem 4.12. können sich Familien in Irkutsk für 100 Rubel in der Eisstadt „Kristallenes Märchen“ vergnügen, ein vor allem für Kinder attraktiv gestalteter Winterpark. Es gibt Eisrutschen, Eisfiguren, kostenlos Tee und vor den Toren der Stadt Pferdekutschen.

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Die detailreich gearbeitete Eisstadt ist das diesjährige Wintermotiv im gesamten Irkutsker Oblast. Auch in Listwjanka am Baikal wird ein „Kristallenes Märchen“ errichtet, deren Figuren im Februar 2010 am jählichen Eiskünstlerwettbewerb „Kristallene Robbe“ teilnehmen werden, diesmal unter dem Motto „Das Kollier des Baikals“.

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Im Irkutsker Oblast ist der diesjährige Winter bislang besonders kalt, der momentane Temperaturrekord von -52° ist vor einer Woche im Norden des Gebietes gemessen worden. Zudem ist es ungewöhnlich feucht in der Luft, weshalb die Stadt wie von Zuckerguss glänzt.

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Die Kindergärten haben sich ebenfalls festlich geschmückt, wenn auch nicht ganz so leuchtend. Krokodile, Schneemänner, selbstgebastelte Vogelhäuschen und Weihnachtsbäume können trotzdem überzeugen.

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