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Irkutsk/Russland/Statistik

Die geleugnete Epidemie

Posted by Sascha Preiß on

Es ist seit vielen Jahren ein furchtbar trauriges Bild, das Sibirien abgibt in Sachen AIDS. Vor neun Jahren schrieb ich über HIV in der Stadt, verändert hat sich seither genau nichts. Im Gegenteil, die Weltgesundheitsorganisation spricht inzwischen aufgrund der enormen Anzahl Infizierter von einer Epidemie – Änderung nicht in Sicht.

Der Oblast Irkutsk, ein Bezirk im Süden Sibiriens, der größer ist als Großbritannien, in dem aber nur knapp 2,4 Millionen Menschen leben, ist eine der Regionen, die am schlimmsten betroffen sind. Hier ist fast jeder Fünfzigste HIV-positiv. Damit liegt die Zahl deutlich über dem Grenzwert von einem Prozent der Bevölkerung, ab dem UNAIDS von einer Epidemie spricht.

Dass die Infektion oft mit Drogenkonsum einhergeht, erleichtert den Zugang zu rationalen Lösungen nicht gerade. Tatsächlich aber wird das Virus inzwischen hauptsächlich auf „natürlichem“ Weg übertragen, doch Aufklärung ist kaum vorhanden.

Der Mangel an Informationen führt dazu, dass Verschwörungstheorien zu HIV in Russland weit verbreitet sind. Im April letzten Jahres machte eine Nachricht aus Irkutsk international Schlagzeilen. Ein Baby mit HIV starb, weil seine Mutter das Virus für einen Mythos hielt und eine Behandlung verweigerte. Aber auch unter ­Wissenschaftlern findet man solche Stimmen. Einer der bekanntesten HIV-Leugner, der Pathologe Vladimir Agejew, bezeichnete das Virus als „ungeheuer­liche medizinische Mystifizierung“. Er lehrt an der Medizinfakultät in Irkutsk.

Und ob Verschwörungstheorie oder religiöse Erklärungen – AIDS ist ein Stigma und eine Auseinandersetzung mit dem Thema findet nach wie vor nicht statt.

Architektur/Irkutsk/Russland/Statistik

Produktive Arbeit

Posted by Sascha Preiß on

Die Sache mit den Ausländern ist für Inländer so ziemlich überall ein irgendwie unangenehmes Thema. Denn so ein Migrant, ist er erstmal da, schafft, scheints, hauptsächlich Probleme. Deswegen sind in vielen Ländern, z.B. in Deutschland, viele Inländer, die befürchten allerhand vom Ausländer und sogar, dass sich das Inland schließlich abschafft. So in ähnlich auch in Russland. Nur schreiben die Inländer da keine Bücher, sondern sie marschieren, z.B. durch Moskau. Oder sie machen Gesetze, die unerwünschten Umgang mit dem Ausländer zur verbotenen Tat werden lässt. Ich bin auch Ausländer in Russland und verrate jetzt mal was: Das ist eigentlich alles doch nur gut gemeint. Zum Wohle des Volkes. Schöner unsere Städte und Gemeinden. Wirklich!

Wie zum Beispiel diese schöne Broschüre aus St. Petersburg, die den Ausländern, die hier „Arbeitsmigranten“ heißen und sonst eher mit dem aus Deutschland importierten Begriff „Gastarbeiter“ bezeichnet werden, das Leben so leicht wie möglich machen soll, damit sie gute Arbeit leisten, über die sich die Inländer freuen können. Gastarbeiter eben. Daher sind sie auch konsequent als Werkzeug abgebildet. Ist ja auch so, die meisten Ausländer kommen nach Russland, um hier zu arbeiten, meist im Baugewerbe. Werkzeuge eben. Wo ist das Problem? Ist doch nur gut gemeint.

In Irkutsk aber scheint es mit der Qualität der Gastarbeiterarbeit nicht mehr so zum Besten zu stehen. Jedenfalls möchte der Gouverneur des Irkutsker Gebietes nicht mehr ganz so viele Gastarbeiter, sondern ab 2013 nur noch halb so viele. Und die andere Hälfte soll mit den Inländern gefüllt werden, die zur freien Arbeitsverfügung stehen: Studenten. Damit nämlich kann man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: auf ganz legalem Weg wird man die nicht ganz so populären Leute los, und gleichzeitig erhöhe sich nach Ansicht des Gouverneurs die Qualität der Arbeit. „Daran glaube ich“, sagt der Gouverneur.

Ist es eigentlich von Bedeutung, dass seit Jahren sich die Zahl der Einwohner im Irkutsker Gebiet verringert? Ist es wichtig, dass deutlich mehr Menschen aus Irkutsk weggehen als dass sie aus dem Ausland kommen und bleiben? Für die Forderung von weniger Ausländern ja sowieso noch nie gewesen. Und wenn schon Migranten, dann sollten sie bitte schon was können, wenn sie ihre Arbeitskraft in Russland einzusetzen gedenken. Oder es darf der eigene Nachwuchs endlich ran.

Der Irkutsker Gouverneur hat, scheints, den Glauben an die Schaffenskraft der jungen Leute entdeckt: Mit den Klügsten und Aktivsten der Jugend von heute, die die tollsten Vorschläge zur Entwicklung des Irkutsker Gebietes machen, möchte er sich fortan treffen. Es ist wirklich zu begrüßen, dass die Jugendlichen in diesem Umfang von der Politik ernst genommen und mit einbezogen werden. Das scheint die richtige Balance zwischen theoretischer und produktiver Arbeit, zwischen Geist und Körper, zwischen ideellen und materiellen Werten. Früher mal gab es mal in Deutschland ein wunderschönes Lied, das die Euphorie über die jugendliche Schaffenskraft ganz hervorragend ausdrückte bzw diese Kraft beim Singen überhaupt erst hervorbrachte: Und es wäre doch wirklich zu begrüßen, wenn es in Russland gelänge, das so wichtige, so migrantisierte, so vernachlässigte Baugewerbe mit neuer Schaffenskraft zu neuem Leben zu erwecken. Denn es gilt mehr denn je: Schöner unsere Städte und Gemeinden!

Anti-Terror/Irkutsk/Statistik/Ulica

Der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja

Posted by Sascha Preiß on

Inzwischen ist die Situation wieder unter Kontrolle. Es wurden Schuldige gesucht und gefunden und der Bürgermeister hat mit den zuständigen Polizeiorganen Statements über das Ende der Stadtpanik abgegeben. Außerdem wurde sicherheitshalber ein bekiffter Busfahrer dingfest gemacht und der gestohlene Schal von Maria Wolkonskaja ist endlich auch wieder da.

Mit dem Schal der berühmtesten Dekabristin der Stadt verhält es sich so: In den 1970er Jahren wurde dem Museum der Schal von Marina Perfiljewa übergeben. Nach ihrer Aussage sei dies der Schal, den Maria Wolkonskaja von der Irkutsker Waise Varvara Rodionova als Hochzeitsgeschenk erhielt. Nach fünf Jahren verschwand der Schal aus dem Museum und galt als verschollen. Anfang der 2000er Jahre tauchte ein ähnlicher Schal beim Heimatmuseum des Tschitaer Gebietes auf (19 Bahnstunden von Irkutsk entfernt). Bei einem Fotovergleich des verschwundenen Schals von Frau Wolkonskaja mit dem nun aufgetauchten wurde festgestellt, dass die Schals identisch seien. Aufgrund von Überlegungen zur Berufsethik und eingedenk der Tatsache, dass der Schal als Erinnerungsreliquie unauflösbar mit der Geschichte Irkutsks verbunden ist, wurde im Heimatmuseum Tschita beschlossen, den Schal dem Irkutsker Dekabristenmuseum zurückzugeben. Das geschah schließlich, nach etwa zehn Jahren, vor wenigen Tagen. Morgen wird im Dekabristenmuseum der zurückgekehrte Schal präsentiert, dann bis zum 9. März erstmals wieder gezeigt, bevor er für einige Jahre zur Restauration verschwindet und erst danach endgültig öffentlich zugänglich sein wird.

Man kann anhand des Schals auf jeden Fall feststellen, dass Dinge, die verschwinden, auch wieder auftauchen, es braucht nur ein bisschen Zeit. Was sind schon 19 Bahnstunden oder zehn Jahre, wenn der Schal über 25 Jahre verschollen war und selbst über 150 Jahre alt ist. Auf keinen Fall lohnt es sich, wegen abhanden gekommenen Sachen in Panik zu verfallen. Es ist eine glückliche Fügung, dass just im Moment der Rückkehr des verlorenen Schals nun also auch Polizei und Bürgermeister ein Ende der öffentlichen Unruhe anmahnen.

Auch wenn diese Unruhe durch das Verschwinden von Personen ausgelöst wurde. Üblicherweise werden in den ersten anderthalb Monaten des Jahres mehr als 65 Personen des Irkutsker Gebietes als vermisst gemeldet, in diesem Jahr verschwanden allein 25 Leute aus Irkutsk. An den Haltestellen, Laternenmasten und Häuserwänden kleben Zettel mit Fotos und Beschreibungen der Vermissten. In diesem Jahr nun schien es, als wären deutlich mehr Menschen als üblich abhanden gekommen, es verbreitete sich das Gerücht, eine Bande würde gezielt Personen fangen und sie zu Organspendezwecken obskuren Ärzten übergeben. Offensichtlich sahen sich die Behörden einem gewaltigen Ansturm an Vermisstenmeldungen und Anfragen Verunsicherter gegenüber, so dass schließlich ein Mitarbeiter des Chefarztes für Organtransplantation im Gebietskrankenhaus um offizielle Stellungnahme gebeten wurde: Es gebe aufs ganze Jahr verteilt gerade einmal 20 entsprechende Operationen, ein Anstieg sei unbekannt und unwahrscheinlich. Man bitte also gemeinsam mit der Polizei, den Gerüchten kein Gehör zu schenken. Dieser Schritt an die Öffentlichkeit war von so ausbleibender Wirkung, so dass man sich entschied, noch einmal sehr deutlich nachzulegen: Der Gebietsgouverneur Dmitri Mesenzev, ehemaliger Kandidat für die Präsidentschaftswahl im März, dem inkorrekte Unterschriften als Ausschlussgrund zur Last gelegt wurde, verfügte daher, dass die Verbreitung irreführender Gerüchte als Straftatbestand zur Unruhestiftung wider die öffentliche Ordnung zu werten sei und die Polizei nun also die Gerüchteköche zu verfolgen habe. Schließlich seien von den 65 als vermisst Gemeldeten inzwischen 59 wieder aufgetaucht oder gefunden. Man sollte sich nicht wundern, dass diese Ankündigung durchaus Verwunderung auslöste: Sucht eigentlich auch jemand die Vermissten? Man muss sich nun klar werden, dass das Vertrauen in die Organe öffentlicher Ordnungshütung traditionell nicht das höchste in Russland ist. Ein Freund berichtete mir den Fall seiner verschwundenen Nachbarstochter vom vergangenen Jahr. Die Meldung ihres Verschwindens auf der Polizeidienststelle habe zunächst keinerlei Aktivität ausgelöst, denn erst nach einer Inkubationszeit von mindestens 10 Tagen schalte sich die Polizei ein, da in den überwiegenden Fällen, siehe der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja, kehrten die Vermissten irgendwann von selbst zurück. Tatsächlich wurde das Mädchen gefunden, kurz nach Ablauf der polizeilichen Schonfrist, vergewaltigt, bereits über eine Woche tot, ermordet, um Spuren zu verwischen, mit ihrem Schal. Die Polizei reagierte und konnte den Täter innerhalb eines Tages aufgrund von SMS, die beim Telefonanbieter abrufbar waren, ausfindig machen und festnehmen. Einer der wenigen Fälle, bei dem die Vermisste nicht mehr zurückkehrte. Angesichts der gewöhnlichen Erfolgsquote ist das zweifellos tragisch zu nennen.

Nun also wurden die Gerüchteverbreiter gesucht und in kurzer Zeit, deren Betriebsamkeit man nicht hektisch nennen sollte, auch gefunden. Nun fehlen nur noch 6 aus 65. Es besteht kein ernsthafter Anlass zur Sorge. Eine schriftliche Anfrage nach Tschita wurde bereits versendet, um auch Möglichkeiten außerhalb des Irkutsker Gebietes in Betracht zu ziehen. Es ist also bitte wieder ruhig.

Ästhetik/Das Wetter/Statistik/Ulica

Da kriegst die Motten

Posted by Sascha Preiß on

Schmetterlinge sind eine feine Sache. Wenigstens solange sie das tun, was man von diesen Viechern erwartet: möglichst bunt durch sommerliche Gegenden flattern und sich von Sammlern in Styropor-Glas-Vitrinen aufnadeln lassen. Dann gibt es aber leider auch noch Schmetterlinge, die irgendwie anders drauf sind und Ärger in der urbanen Botanik verbreiten. Seit Jahren schlägt man sich z.B. in Europa mit Miniermotten herum, welche vorrangig die erhabenen Rosskastanien zu unansehnlichen Greisen zerfressen. Zur Behandlung der kranken Bäume gehen Natur und Chemieindustrie eine ganz ansehnliche Symbiose ein (Sexuallockstoffe!), dass man glauben mag, der unansehnliche Falter möge sich eines Tages doch verpisst haben.

Vor einem ähnlichen Problem steht nun auf einmal Irkutsk: zum Auftakt der Tourismus-Saison spinnen irgendwelche dämlichen Schmetterlingsinsekten in der Stadt herum, im wahrsten Wortsinn.

Inwieweit sich die Irkutsker Stadtverwaltung mit subtil-biologischer Schmetterlings-bekämpfung beschäftigen wird, lässt sich zweifelsfrei erahnen: Für die Behandlung von ca 40.000 von Gespinstmotten befallenen Bäumen (Stand: 15.06.) stehen 700.000 Rubel zur Verfügung, ca. 17.500 Euro. Da es der mit der Behandlung beauftragte Dmitri Kakunin als stellvertretender Vorsitzender der Abteilung für Straßenbau und Transportwesen der Stadtverwaltung nicht so genau nimmt mit der biologischen Klassifizierung des Übeltäters – der Artikel spricht von Läusen, wobei das Krankheitsbild der vorrangig befallenen Apfelbäume sehr augenscheinlich nicht auf Läuse hindeutet -, wird sich wohl auch die Wahl der Bekämpfung auf entsprechend gezielte Maßnahmen beschränken: Chemie ist vergleichsweise effektiv, zudem schnell und billig. Und noch billigere Gastarbeiter erledigen eifrig alles, womit sich sonst niemand die Bronchien versauen möchte. Wie genau die Behandlung der massiv befallenen Bäume aussehen wird, ist aber noch längst nicht entschieden, für Sofortmaßnahmen lässt man sich sicherheitshalber 2-3 Wochen Zeit. Täglich sind damit mehr Bäume eingesponnen und die knapp bemessene Summe – bei 40.000 Bäumen kostete die Behandlung eines Baumes 2,30 € bzw 92 Rubel – schrumpft weiter. Bleibt zu hoffen, dass Irkutsk ähnliche Bilder wie aus dem kroatischen Osijek erspart bleiben, als man dort schnell und günstig gegen zu viele Mücken vorgegangen ist:

Fragen nach Ursachen des massiven irkutsker Befalls, insbesondere in den zentrumsfernen „Schlafsilobezirken“ Novo-Lenino und Irkutsk-2, sind im übrigen noch nirgendwo angesprochen worden. Aber muss ja auch nicht. So ein paar olle Schmetterlinge bekommt man schon irgendwie klein, wetten?

 

minimal stories/Statistik/Ulica/Universität

Postsowjetische Numismatik

Posted by Sascha Preiß on

Seinerzeit, damals, davnym-davno war Mathematik die Königsdisziplin sowjetischer Hochschulen, Kopfrechnen, Algebra, Analysis, Geometrie – seit Beginn der modernen Wissenschaften in Russland unter Peter I. zählte Mathematik zu den Kerndisziplinen der Naturwissenschaften, nur noch übertroffen von der Kunst des Schachspiels. Das goldene Zeitalter der russischen Bildung ist leider längst vorbei, und manchmal scheint man auch ein bisschen zu verstehen, wie grundlegend sich seither der Wille zur Mathematik, an der jeder Sowjetbürger getreu Lenins Auftrag schon im Alltag teilhatte, gewandelt hat. Gestern stolperte ich tatsächlich über eine aus dem Fugenschmutz der Gehwegplatten schimmernde sowjetische Münze – im Wert von 15 Kopeken. Meine Bewunderung für das sowjetische Bildungssystem war umfassend.

Halbe Münzwerte, in der überwiegenden Mehrzahl als 50/100el einer Dezimalwährungshaupteinheit wiedergegeben (z.B. 50 Pfennig, aber auch 1/2 franc †), sind in Europa und weiten Teilen der Welt ebenso gewöhnlich wie Viertel-, Fünftel- oder Zehntel-Münzen (Quarter Dollar, 20 Cent, 10 Lipa). Dass man jedoch auf die Idee kommen könnte, eine Münze im Wert von Drei-Zwanzigstel der Hauptwährung zu entwerfen (zzgl. eines 3-Kopeken-Stücks, also ein Fünftel des Drei-Zwanzigstel-Stückes, das mir bislang aber noch nicht auf den Irkutsker Straßen begegnet ist), ist in der Tat höhere Alltagsmathematik.

Dass es nach dem Ende der Sowjetunion mit der Volksbildung rapide abwärts gehen muss, lässt sich ohne weiteres an den einfallslosen Währungsunterteilungen des russischen Rubel ablesen: Es gibt lediglich 1er und 5er-Teilungen, beginnend von einer und fünf Kopeken (die aber im realen Zahlungsverkehr keine Rolle spielen, statt dessen bei Hochzeiten als „echtes Konfetti“ Verwendung finden), zehn und fünfzig Kopeken, einem und fünf Rubel etc. Einzige Ausnahme aufgrund des häufigen Gebrauchs: die Zwei-Rubel-Münze. Bei soviel numismatischer Ödnis kann das postsowjetische Hirn wahrlich zu keinerlei intellektueller Leistung herausgefordert werden. Doch die Vereinfachung des Währungssystems hat auch pragmatische Gründe, denn bei aller Liebe zur Mathematik sind Kopfrechnenkenntnisse nicht überzubewerten. Denn schließlich gilt: Es gibt keinen Nobelpreis für Mathematik.

Irkutsk/Russland/Sprache/Statistik

Schöner unsere Städte und Gemeinden

Posted by Sascha Preiß on

Unlängst saß eine Studentin in meinem Büro, sie suchte eine Möglichkeit, sich endlich mal wieder auf deutsch zu unterhalten, also plauderten wir. Unter anderem über unsere Reiseerfahrungen in Russland. Ob ich schon in Moskau gewesen sei und was mein Eindruck der Stadt wäre. Ihr gefalle Moskau nämlich nicht so gut wie früher. Damals (wann genau, sagte sie nicht) wäre Moskau noch schön gewesen, aber heute sei die Stadt voll mit Tadjiken und Tschetschenen, die machten die Stadt ganz schmutzig, würden überall hinspucken, Frauen belästigen und sich überhaupt schrecklich benehmen. Das könne sie auch in ihrer Straße beobachten, wo Tschetschenen auf Baustellen arbeiteten, ganz und gar unangenehm.

Dass sich rassistische Einstellungen in Russland nicht auf Hooligans und Nationalbolschewiken beschränkt, ist keine Neuigkeit. Dass er sich nun so unverblümt  in einer netten Plauderei offenbarte, machte mir einigermaßen zu schaffen. Nicht allein dir Frage, wie darauf angemessen zu reagieren sei – als Ausländer ist man in einer Situation, die wenig Spielraum lässt, man kann wenig mehr als zu konstatieren, dass man selbst grundverschiedene Ansichten hat, womit sich das Thema (und das Gespräch insgesamt) erledigt hat. Aufschlussreicher ist wohl die Frage, wie junge Leute zu derart selbstbewusst vorgetragener, xenophober Weltsicht gelangen und wodurch ein solches Weltbild Bestätigung findet. Einen nicht unerheblichen Anteil hat die russische mediale Berichterstattung, in der „das Wort Tschetschene beinah schon den Status eines Markenzeichens“ hat.

Eine andere Begründung lieferte vorgestern Konstantin Poltoranin, der Pressesekretär des Föderalen Migrationsdienstes Russlands. In einem Interview mit der BBC Russland gab er an, dass „die Zukunft der weißen Rasse gefährdet“ sei bzw.: „Auf dem Spiel steht im Prinzip das Überleben der weißen Rasse, in Russland kann man das spüren.“ Er schlägt deshalb vor, „die Blutvermischung zu regulieren“. Diese „Ideen“ wiederholte er noch einmal auf Nachfragen der Internetzeitung gazeta.ru – selbstredend mit dem Zusatz: „Glauben Sie mir, ich bin weder Nationalist noch Rassist.“ Und das Ganze, weils so schön ist, führt der Pressesekretär noch einmal für den Radiosender „Stimme Russlands“ aus, mit Vorschlägen zu gesteuerter Zuwanderung: Man brauche vor allem hochqualifizierte ausländische Spezialisten…… Ob das für mich auch gilt? Nachdem nun die offiziellen Zahlen zum Zuzug von Ausländern ins Irkutsker Gebiet bekannt gegeben wurden und Poltoranin das Vokabular im Bereich Migration und Zuwanderung ganz offiziell um urrassistische Rhethorik erweitert hat, sollte sich meine Verwunderung über Plaudereien zu Moskau gelegt haben. Ein Kommentator zur Situation in Irkutsk merkt an: „Man kann wegen des ganzen Zustroms hier kaum noch atmen.“Der „Zustrom“ besteht aus 20.500 mehrheitlich befristeten Aufenthaltserlaubnissen im ersten Quartal 2011, bei einer Bevölkerung von 2,5 Millionen im gesamten Gebiet sind das etwa 0,8 Prozent. Aber Rassismus hat ja nichts mit Logik zu tun.

Anti-Terror/Ästhetik/Irkutsk/Russland/Statistik/Ulica

Eine saubere Stadt für den Gesandten Gottes

Posted by Sascha Preiß on

So sauber hat man die Stadt lange nicht gesehen. Gefegte Wege und Straßen, leere Mülleimer, keine parkenden Autos in der Innenstadt. Da wird deutlich, wie eng die meisten Gehwege für Fußgänger sind und dass die Bäume noch immer nicht grünen, trotz seit Tagen frühlingshaften Temperaturen. Aber die Sonne scheint. Und überall stehen Polizisten, alle 100m. Unter der uniformierten Beobachtung läuft der Verkehr heute entschleunigter, weniger gehetzt. Und weil die Wege frei sind (mit Ausnahme der unbeobachteten Seitenstraßen) und alles ruhig rollt, wird die Stadt einen ihrer ganz seltenen unfallfreien Tage erleben. Wenigstens solange der russische Präsident noch in Irkutsk weilt.

Für den Staatsoberhauptsbesuch wirft sich die Stadt in ihren seriösen, zivilisierten Anzug. Ein bisschen aufgehübscht hat man sich, ein paar Straßen werden ausgebessert, Geländer gestrichen, Brücken gereinigt. Obwohl Medwedjew nicht eigentlich die Stadt oder gar deren Bewohner besucht, sondern die örtlichen Institutionen. Ein nächtlicher Ausflug ans Angara-Ufer, begleitet vom Gouverneur des Gebietes, ist der einzige realte Ortskontakt. Kein Menschenbad, kein Händeschütteln oder Winken, kein Fabrik- oder Schulbesuch. Statt dessen in der langen schwarzen Limousine durch die Leninstraße zum Administrationsgebäude, von diesem oder jenem Ausflugsziel am Baikal kommend.

Eher zufällig gerate ich in die Zeit, als die Innenstadt vollständig abgesperrt wird für die Durchfahrt der Präsidentenkolonne. Für etwa eine Stunde kommt im Zentrum nahezu alles zum Erliegen. Die meisten können auf die Behinderungen und Wartezeiten in ihrem Tagesrhythmus liebend gern verzichten. Wenn sie könnten, würden sie alle aufs Land fliehen. Der Busfahrer, dessen Fahrzeug wie alle anderen in den völlig verstopften Nebenstraßen stecken bleibt, verabschiedet mich beim Ausstieg: „Richten Sie Ihre Danksagungen an Präsident Medwedjew!“ Popularität sieht anders aus. Die ist wohl kaum das Ziel der Reise. Das Staatsoberhaupt hat den Innenminister, den Justizminister, die Gesundheits- und Sozialministerin, den Minister für Sport, Tourismus und Jugend, den Bildungsminister und den Minister für Kommunikation und Medien nicht für ein Bad in der Menge mitgebracht. Medwedjew will arbeiten. Unter anderem gilt es, mit vereinten Kräften den Kampf gegen die Drogenabhängigkeit der russischen Jugend aufzunehmen. Ein Thema, das nicht zufällig in Irkutsk auf die Agenda Russlands kommt. Das Irkutsker Gebiet gilt als eine der Hochburgen in Russland mit zweimal mehr Abhängigen als im gesamtrussischen Durchschnitt. In Russland werden nach offiziellen Zahlen mindestens 2,5 Millionen Drogenabhängige vermutet, von denen 70% unter 30 Jahre als sind – mit entsprechend hoher Sterberate. Russland bekommt auf diese Weise ein gewaltiges demographisches Problem. Medwedjew sucht nun, die Kräfte gegen die Abhängigkeit zu vereinen, sieht es als gesamtrussische Aufgabe und fordert zunächst einmal Tests von Schülern, das Sperren von Webseiten mit Anleitungen zur eigenen Drogenproduktion, und denkt über die Einführung einer Zwangsbehandlung anstelle von Gefängnisstrafen für Abhängige und Drogenkonsumenten nach.

Eine Studentin sagt, Medwedjew sei ihr zu kompliziert, sie mag Putin mehr, der ist einfach, volksnah, verständlich. Aber sie nehme auch diesen, denn alle russischen Präsidenten, hieße es ja, wären von Gott gesandt. An der Leninstraße sind einige hundert Menschen versammelt, die meisten einfach Passanten mit irgendeinem Ziel, dass sie nun zu Fuß erreichen müssen. Die einzigen sichtbaren Fahnen sind in den Händen von Mitgliedern der kommunistischen Partei, manch einer schwenkt die Fahne der Sowjetunion. Ansonsten spannungslose Ruhe, Verkehrspolizisten und stetig weiterschaltende Ampeln, rot, grün, rot, in den Seitenstraßen unendlich viele Fahrzeuge. Der perfekte Moment für einen Häuserbrand, die Feuerwehr hat keine Chance. Über der Stadt liegen dunkle Nebel, die Sonne ist auch verschwunden, kalter Wind kommt auf.

Und dann fährt ein Polizeiauto mit Blaulicht entlang, ermahnt die Fußgänger, die Straße nicht mehr zu betreten. Es ist das Zeichen, woraufhin alle ihre Mobiltelefone ziehen und die anrollenden Fahrzeuge filmen. Aus der Ferne nähern sie sich, rund 20 Autos fahren rasch vorbei. Und als sie vorüber sind, gehen die Menschen weiter, dann strömen aus allen Nebenarmen die Verkehrsfluten hervor und donnern durch die Straßen, solange bis wieder abgesperrt wird, wenn des Gesandten Arbeit getan ist und er weiterfährt.

Begraben/Statistik

Schöne Blumen in Storkow

Posted by Sascha Preiß on

November. Im Gang zu ihrem Büro steht eine dunkle, gebeugte Gestalt, ein pelziger Mantel, eine Chapka auf den Kopf, älter. Jemand, der sehr augenscheinlich nicht hier hin gehört. Sie geht an ihm vorbei, er schaut sie kaum an, steht und wartet. Eine Kollegin fragt ein paar Minuten später, ob er vielleicht zu ihnen wolle. Ja, antwortet er und schaut auf eine Uhr am Handgelenk, aber er habe einen Termin erst in 25 Minuten. Exakt zur vereinbarten Stunde klopft es an der Tür und Herr Perebojew tritt ein. Aus einem Beutel holt er einen Pralinenkasten und zwei Gläser mit süß eingelegten Preisel- und Heidelbeeren, als Dank für die Fotos vom Friedhof.

März. Eine etwas entfernte Freundin betritt das Büro und fragt sie, ob es ihr möglich wäre, den Vater eines Bekannten zu finden, genauer: dessen Grab. Er habe bei Berlin gekämpft und sei 1945 gefallen, der genaue Namen sei unsicher, L.G. Peredajew wahrscheinlich. Ob es möglich sei, es zu fotografieren, ihr Bekannter könne selbst nicht mehr nach Deutschland reisen. Eine E-Mail an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit Sitz in Kassel gibt unerwartet schnell, innerhalb von zwei Tagen, Auskunft: „Das Grab von Lukian Grigoriewitsch Peredajew, geboren 1906, liegt auf der Kriegsgräberstätte in Stralendorf bei Schwerin / Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland. Endgrablage: Abteilung 1, Block 3, Reihe 18 bzw 19. Primärer Bestattungsort war Rieplos nördlich Storkow / Mark Brandenburg.“ Ein Aktenvermerk, der gründlicher nicht hätte sein können. Sie verspricht ihrer etwas entfernten Freundin, beim nächsten Deutschlandaufenthalt das Stralendorfer Grab aufzusuchen und zu fotografieren.

Juni. Die Suche in Stralendorf bei Schwerin bleibt erfolglos. Es gibt lediglich den ganz normalen Kirchfriedhof, auf dem sich keine Kriegsgräber befinden. Ein Soldatenfriedhof, der zudem in Abteilungen, Blöcke und Reihen unterteilt wäre, ist weder auf der Landkarte eingezeichnet noch den informierten Damen vom kombinierten Post-Blumenladen in der Hauptstraße bekannt. Auch die freundlichen Mitarbeiterinnen vom Verwaltungsamt Stralendorf kennen keinen größeren sowjetischen Friedhof in der Gegend. Immerhin aber haben sie Kenntnis von sechs Gräbern sowjetischer Kriegstoter im Verwaltungsbereich, von denen sogar in einem Aktenordner über den Zustand der verwalteten Friedhöfe Fotografien aufbewahrt werden. L.G. Peredajew ist jedoch nicht darunter. Die Antwort auf die Nachfrage, wohin die Stralendorfer Toten verschwunden sein können, benötigt zwei Wochen: „Dem Friedhof Stralendorf wurden über 300 russ. Kriegstote zugeordnet, die aber dort nicht ruhen können. In der uns vorliegenden Gräberliste von Stralendorf werden 6 Kriegstote nachgewiesen. Es kann sich bei der Liste, die leider kein ‚Deckblatt‘ hat, evtl. um Stralsund handeln. Wir werden versuchen, eine Klärung durchzuführen. Jedoch wird dies einige Monate dauern.“

August. Unmittelbar nach Rückkehr aus Deutschland erhält sie vom Volksbund folgende Information: „Nunmehr können wir Ihnen mitteilen, dass der Genannte auf dem Friedhof der Stadt Storkow (1-3-18) seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Die uns vorliegende Gräberliste war vollkommen falsch zugeordnet und daher versehentlich für Stralendorf erfasst worden. Hier wird noch eine entsprechende Korrektur erfolgen. Wir hoffen, Ihnen gedient zu haben.“ Ob das derart lokalisierte Grab das tatsächlich gesuchte ist, bleibt bis auf Weiteres unklar.

Oktober. Die etwas entfernte Freundin, von der missglückten Suche etwas enttäuscht, fragt, ob es neue Erkenntnisse in der Sache Peredajew gibt und ein Foto des Grabes nicht irgendwie aufgetrieben werden kann. Sie beauftragt daraufhin eine andere Freundin, die in Berlin lebt, einmal ins südöstlich von Berlin liegende Storkow zu fahren und die Ruhestätte zu fotografieren. Nach einigen Wochen sagt die Freundin aus Zeitgründen ab. Sie fragt daher ihre in Westbrandenburg lebende Mutter, ob sie nicht Zeit und Energie für dieses Foto aufbringen könne. Diese sagt nach einigem Zögern, sie lasse ihren schwerkranken Schwiegervater so ungern allein, zu. Am 14.11. fährt die Mutter nach Storkow und sucht zuerst auf dem Stadtfriedhof, dort liegen jedoch keine sowjetischen Kriegstoten. Der gesuchte Friedhof befindet sich zwischen den Gemeinden Storkow und Rieplos. Während einer Gedenkstunde anlässlich des Volkstrauertages versucht die Mutter, die kyrillischen Buchstaben auf den Grabsteinen zu entziffern. Schließlich macht sie einige Bilder eines Massengrabs, auf dem u.a. auch der Name Peredajew aufgeführt ist, allerdings ohne jegliche Vor- und Vatersnamen sowie Geburts- und Todesdaten, was ihn auf der Tafel zu einem von 10 Unbekannten unter 34 Soldaten dieses Grabes macht.

In Russland ist die etwas entfernte Freundin über das Auffinden des Grabes erfreut. Als sie die Bilder sieht, kann sie jedoch ihre Enttäuschung nicht verbergen: „Das wird ihm ganz sicher nicht gefallen, ein Massengrab.“

Wie Herr Perebojew bei der Dozentin im Büro sitzt, sagt er: „Ich hatte ein bisschen gehofft, sie finden etwas anderes. Von dem Massengrab wusste ich doch. Ich war 1976 selbst dort.“ Er hatte sich seither erfolglos eingesetzt, für seinen Vater ein würdiges Einzelgrab zu erlangen. Denn anders als der Grabstein aussagt, ist der Tote nicht unbekannt, zwar ein einfacher Soldat, ja, aber eben nicht unbekannt. Sein Vater, Lukjan Jegorowitsch Perebojew, am 26. September 1906 geboren und in der handschriftlich verfassten Sterbeanzeige vom 6. Mai 1945 Lukjan Georgiewitsch genannt, starb am 25. April 1945 in Berlin, 13 Tage vor der vollständigen Kapitulation Nazideutschlands, im Alter von 38 Jahren. Der Sohn, noch vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zur Welt gekommen, bemühte sich seit den 60er Jahren, das Grab seines Vaters ausfindig zu machen. Im Juli 1973 wurde ihm von der zuständigen Abteilung des Verteidigungsministeriums mitgeteilt, dass sein Vater, L.G. Perebojew, in einem Massengrab auf einem Friedhof im deutschen Storkow begraben liegt. Bei seinem Besuch des Grabes stellte er jedoch fest, dass alle Daten sowie Vor- und Vatersnamen fehlten, zudem der Familienname falsch geschrieben war: Peredajew. Daraufhin traf er sich mit einem in Frankfurt / Oder stationieren Offizier der sowjetischen Armee und bat diesen, ihm bei seinem Bemühen um ein korrekt beschriftetes Einzelgrab zu helfen, da die sowjetischen Behörden kein Interesse daran zeigten. Die Botschaft etwa antwortete ihm auf seine Anfrage, dass sie mehrere tausend Gräber verwalten würde und daher sich nicht um ein einzelnes Grab kümmern könne. Der Offizier versprach ihm, eine korrekt beschriftete Grabplatte zu besorgen. Der Sohn zahlte dafür eine nicht unbedeutende Summe Geldes, es musste an die Grabplatte und die notwendige Umbettung gedacht werden, außerdem eine Aufwandsentschädigung. Der Offizier verlangte zudem, dass beim Umzug seiner Mutter aus Sibirien nach Kiew geholfen und ihm aus Gründen der Heimatsehnsucht nach Frankfurt ein echter sibirischer Samowar geschickt werden sollte. Der Sohn tat alles. Und wusste seither nicht mehr, was mit dem Grab seines Vaters geschehen war. Nach beinah 35 Jahren Wartens hatte er nun auf den Fotografien erkennen müssen, dass absolut nichts geschehen war.

Sie war sich nicht sicher, ob sie aufgrund der Namens- und Ortsverwechslungen nicht ein falsches Grab gefunden hatte. Ob es nicht auf dem Rieplos-Storkower Friedhof doch ein korrekt beschriftetes Einzelgrab gab, das allerdings ihre Mutter, da sie des Kyrillischen kaum mächtig ist, nicht entdeckt hatte. Oder ob es sich um zwei völlig verschiedene Soldaten handelte, die zufällig sehr ähnliche Namen trugen.

Herr Perebojew dankte nach einer halben Stunde Unterhaltung und wandte sich zum Gehen. Auch wenn es nicht das angemessene Grab seines Vaters wäre, er sei ihr für ihre Hilfe dankbar. Und ihrer Mutter, denn die hatte so schöne Blumen gekauft.

Anti-Terror/Irkutsk/Russland/Statistik/Ulica

Die Verschiebung des Baikal

Posted by Sascha Preiß on

Aus den Nachrichten der letzten Tage sticht eine besonders hervor: Der Baikal könnte im kommenden Jahr ein bisschen näher an Europa heranrücken, vielleicht aber auch nur sein östliches Ufer. Grund ist kein geografisches Wunder, sondern lediglich ein paar Entscheidungen mancher Parlamente, etwa des Irkutsker Gebietes, und der letztlichen Genehmigung des Regierungschefs Putin. Dem liegt nämlich ein Vorschlag aus Irkutsk vor, das Irkutsker Gebiet am westlichen Baikalufer um eine Zeitzone in eben den Westen zu verschieben. Man würde dann den Zeitunterschied zu Moskau auf 4 Stunden verringern können, was eine Reihe Arbeitserleichterungen insbesondere mit der russischen Hauptstadt zur Folge hätte. Der Vorschlag knüpft an die Zeitzonenreform des Präsidenten an, nach der mit Beginn der Sommerzeit 2010 die russischen Zonen von 11 auf 9 reduziert wurden. Dass von vielen Seiten eine noch radikalere Zeitkur für möglich gehalten wird, scheint nun auch Irkutsk zu einem geänderten Zeitplan getrieben zu haben. Denn ganz freiwillig ist der Vorschlag nicht entstanden.

Eine überaus radikale Zeitkur wurde am Ostufer des Baikal, in der Republik Burjatien, angeregt, in der normalerweise die Uhren gleich wie am Westbaikal ticken. Eine Abstimmung des burjatischen Nationalparlamentes in Ulan-Ude hätte aber zu einer paradoxen Situation geführt: Während das östliche Burjatien im März 2011 auf die Sommerzeitumstellung verzichten und somit eine Stunde an Moskau heranrücken würde, hätte das westliche Irkutsker Gebiet seine Zeitzone beibehalten – und der wohl einmalige Fall einer entgegengesetzten Zeitverschiebung innerhalb eines Landes wäre eingetreten. Damit selbst in Russland nicht alles möglich ist, kam nun die Gebietsverwaltung Irkutsk dem zu erwartenden Zeitparadox zuvor. Eigentlich ein bisschen schade.

Eine Moskauer Entscheidung über die Verschiebung des Baikal steht bislang aus.

Irkutsk/Statistik/Wildbahn

HIV in der Stadt

Posted by Sascha Preiß on

Irkutsk, das Paris des Ostens! Touristen, Nachtclubs mit Schaumpartys, Hotels mit Frauenservice für alleinreisende Männer, Vergnügungscenter und so weiter. Die Innenstadtfassaden leuchten, die Gehwege, Straßen und Grünanlagen werden alljährlich erneuert, auf dass die ostsibirische Metropole zum 350jährigen Stadtjubiläum 2011 glänzen und strahlen möge.

Nur ein bisschen stört die neueste offizielle Statistik über HIV-Infektionen der vergangenen 5 Jahre, die für den 2,5Mio Einwohner fassenden Oblast erstellt wurde. Danach ist Irkutsk zum zweitinfektiösesten Oblast ganz Russlands aufgestiegen. Zu Beginn des Jahres 2010 wurden 29.359 Personen mit HIV-Infektion registriert, also 1,2% der Gesamtbevölkerung. Vor Beginn des von der Regierung entwickelten Anti-AIDS-Projektes 2006 waren 19.429 Menschen als infiziert bekannt. Jährlich kommen also etwa 2.000 neue Infektionen hinzu, das sind 5,5 pro Tag. Weiterhin wurden im erhobenen Zeitraum 4.307 Kinder von infizierten Müttern zur Welt gebracht, allein 733 im Jahr 2009.

Nicht genannt werden die Orte, in denen die Infektionsrate am höchsten liegt. Ebensowenig, welche möglichen Gründe zu dieser katastrophalen Lage geführt haben und wie sich das auf die Sterberate in Irkutsk auswirkt. Aber vor allem: wie hoch der Anteil unter den jungen Menschen des Oblastes, aber auch ganz Russlands ist, da die höchste Ansteckungsgefahr vorrangig in der Bevölkerungsgruppe 16 bis 35 Jahre liegt.

Behauptungen, dass etwa wilder Klo-Sex Minderjähriger in Nachtclubs zu solchen Zahlen führt, sind wohl eher porno-fantastischer Unsinn. Resoluter ist da schon der Vorschlag, man solle doch einfach alle „diese Mädchen“, die auf Parkplätzen und Straßen herumstehen, gemeinsam mit den Drogenabhängigen einsperren. Erstaunlich selten hingegen wird das Thema Verhütung angesprochen.

Tatsächlich wird lieber einmal mehr abgetrieben als zum Kondom gegriffen. Seiten wie www.aborti.ru geben umfangreich Auskunft über Abtreibungsarten und was alles zu tun und zu beachten ist, auch wenn grundsätzlich für das ungeborene Leben plädiert wird. Über Verhütung ist allerdings nichts zu erfahren. Interessanter ist, dass sich diese und andere Seiten fast ausschließlich an Frauen richten. Nicht nur, dass die jungen Frauen die Risiken eines Schwangerschaftsabbruches beinah allein zu tragen hätten – ihnen wird in der Regel auch die Verantwortung für eine Schwangerschaft zugesprochen. Über Verantwortung des Mannes beim Sex wird mehrheitlich, etwa im russischen Wikipedia-Eintrag zu Problemen rund um Schwangerschaftsabbrüche, geschwiegen.

Insofern ist fraglich, ob aus den Statistiken sinnvolle Schlüsse gezogen werden oder ob das glitzernde Irkutsk im kommenden Jubiläumsjahr nicht doch auch den Aufstieg an die Spitze der russischen HIV-Charts „feiern“ wird.