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Begraben/Russland/Ulica

Meteore des Alltags

Posted by Sascha Preiß on

Na, sagte sie und schaute dabei betrübt in den verbeulten, zerkratzten, entfärbten und bei wärmerem Wetter ganz sicher stinkenden Mülleimer, wobei ich mir nicht sicher war, was sie dort hätte finden können, denn der Seitenspiegel lag nun einmal direkt auf den Straßenbahngleisen und auch sonst waren die ganzen übrigen Splitter und Bruchstücke ringsumher verteilt, nur eben nicht dort, wo sie gerade hinblickte, so sauber wird das hier ja eben nicht gehandhabt, aber vielleicht erregte gerade das ihr ganzes Mitleid. Denn an dem Auto, das da so wunderschön quer über den Gleisen stand und seit einer Stunde den Vormittagsverkehr ordentlich zum Erliegen brachte, konnte es kaum liegen, so erhaben spiegelte sich die aufgehende Sonne im schwarzen Edellack des hinteren Kotflügels, denn diese Wagenteile sind üblicherweise in dieser besonders schmutzigen Phase dieser Jahreszeit farblich kaum mehr auszumachen, hier aber leuchtete etwas ganz gewaltig und zeigte Besitz und Herrschaft an und ließ uns die Augen übergehen, so dass von Meitleid ganz sicher keine Rede sein konnte, eher Bewunderung, Staunen, Anbetung, irgend so etwas mit offenem Mund und viel Schweigen jedenfalls, und für Schweigen war aller Anlass geboten.

Denn der vordere Teil des herrschaftlichen Autos lag verbeult, zerquetscht und auseinandergebröckelt wie ein frisches Blätterteigcroisson nach einem kräftigen Biss mitten auf der Straße herum, und hineingebissen hatte die Bahn mit der Nummer 5 und hatte wohl auch irgendwas vom herrschaftlichen Fahrer erwischt, oder das regelmäßige Aufscheinen bläulichen Lichts am Mülleimer hatte eine andere Ursache als den Krankenwagen, dem gerade etwas, das wie ein weiß verpackter Riegel aussah, in seinen großen Bauch geschoben wurde, das zweite Frühstück bereits, und wenn das erst das Frühstück war, denn bis um 12 Uhr war noch reichlich Zeit, musste ja etwas Gewaltiges als Mittag und dann Abendessen anstehen, meine Herrschaften.

Aber sie wendete ihren Blick vom Mülleimer nicht ab und fragte, ob ich lieber von einem Meteorit erschlagen werden möchte oder im Straßenverkehr als Herr oder Knecht draufgehen wolle, dabei könnten wir doch im Augenblick von Glück sprechen, denn weder lebten wir in Tschelyabinsk, und wir hatten diese russische Stadt im Ural nie zu Gesicht bekommen oder dies irgendwann vor, noch besäßen wir ein Auto, mit dem wir uns um Kopf und Kragen fahren könnten wie es wohl hier vor mehr als einer Stunde geschehen sei, noch wären wir heute ganz früh am Morgen, was das erste Frühstück zur Folge gehabt hatte, über einen Fußgängerüberweg gegangen, denn dieses wäre hier schließlich eine der sichersten Methoden, nachfolgend überhaupt nicht mehr weiterzugehen bzw einfach nur liegen zu bleiben, wie es dem 15jährigen Mädchen eben passiert sei.

Wollen wir nur hoffen, ergänzte sie nach einer Pause, in der sie ihren Blick vom Mülleimer abwendete und mit ihrem Mobiltelefon den Kotzfleck der Straßenbahnfahrerin anvisierte, den diese wenig später nach dem Zusammenstoß ihres Gefährts mit dem Auto und ihrer Erkenntnis, was genau da also passiert sei, direkt neben ihren Straßenbahnwagen gesetzt hatte und der inzwischen schon fast vollständig gefroren war, wollen wir nur hoffen, dass hier ein Fall besonderer Koinzidenz vorliegt und die Straßenbahn das erste Unglück also gerächt hat, wobei ihr Telefon den schmatzenden Laut der erfolgten Aufnahme von sich gab und bald darauf hatte sich dieses Bild auch schon auf irgendeine Festplatte in der elektronischen Cloud gesetzt, himmelherrgott, was heute alles möglich war, womöglich neben das 15jährige Mädchen und den herrschaftlichen Fahrer, der sich noch im Sterben keiner Unschuld bewusst wurde, schließlich hatte er ja das große glänzende Auto und die anderen mussten Respekt zollen, ob nun Straßenbahn oder Mädchen, und die aufgehende Sonne hatte ja gezeigt, wie es geht, wenn die Wolken erst einmal weg sind und der Himmel frei, so wie die Straßen für die Herrschaften frei zu sein haben, frei von Schuld vor allem, denn der Fahrer des Autos, unter dem das Mädchen für immer liegen geblieben war, war einfach weitergefahren, von sowas lässt man sich doch nicht aufhalten.

Denn so sind sie, die Meteore, die hier täglich aus heiterem Himmel herniedersausen und so ihre tiefen Spuren in die Verkehrsadern fressen, denn kein Stadtkörper verträgt so viele und regelmäßige Speisungen von Unfall- bzw Leichenwagen auf Dauer, irgendwann wird einem ganz gewaltig übel und irgendwie wäre es doch einfach schade drum, wenn vom Großen und Ganzen dieser Siedlung nur das übrig bleiben würde, was die Straßenbahnfahrerin auf dem Asphalt hinterlassen hat oder was in den Mülleimern am Straßenrand so zu finden sei, wenn es wärmer würde. Und was das betrifft, sei mir, sagte ich also, durchaus so ein echter interstellarer Gesteinsbrocken auf dem Kopf lieber als diese wilden Asteroiden des Alltags, aber man hat ja keine große Wahl der Qual, und wenn jetzt gleich die Reste des Autos weggeräumt sind und die Fahrerin was gegessen und ein Tee getrunken hat, können wir vielleicht endlich weiterfahren. Na, sagte sie und schaute betrübt in den Mülleimer, obwohl es da immer noch nichts zu sehen gab, vielleicht.

Baikal/Begraben

Direktflug? Welcher Direktflug? [UPDATE]

Posted by Sascha Preiß on

Eine wahrscheinlich erfreuliche Nachricht, die auch überhaupt nicht mehr verwundern sollte, zwischendurch: Nach den z.T. verheerenden russischen Flugzeugunglücken in diesem Jahr, sind der Fluggesellschaft VIM Avia von der russischen Flugaufsichtsbehörde vorläufig Flüge in die EU verboten worden. Anderen Airlines, darunter die „Yak-Service“, die den Tod des gesamten Eishockeyteams aus Jaroslawl Anfang September zu verantworten hat, wurde die Lizenz vollständig entzogen.

Das etwas Beunruhigende an dieser Nachricht: Auch die Fluglinie „Yakutia“ steht vor dem (wiederholten) Flugverbot in der EU. „Yakutia“ bediente in diesem Jahr ab Ende April bis Anfang Oktober den Direktflug Irkutsk-München. Allerdings war dieser Airline 2007 auf EU-Empfehlung ein Einflugverbot in die EU erteilt worden. Der Direktflug wurde mit einer nicht mehr ganz taufrischen Boing 757-200 absolviert, wovon ich mich als einmaliger Passagier im Juni selbst überzeugen konnte, es gab aber auf keinem der durchgeführten Flüge irgendwelche Zwischenfälle zu melden. Allerdings wurden bei der offiziellen Pressekonferenz zur Inbetriebnahme des Fluges auch keinerlei Fragen von Journalisten (etwa zu den Gründen der Wiederaufhebung des Flugverbotes) zugelassen. Inzwischen ist der Direktflug wieder eingestellt, vorerst aus vermeintlich saisonalen Gründen. Ob er im kommenden Jahr wieder aufgenommen wird, ist sehr fraglich, es laufen Planungen für einen „Yakutia“-Direktflug ins nahegelegene und günstigere Prag. Ob dieser überhaupt angeboten werden kann, darf wegen des drohenden erneuten Flugverbotes in die EU stark bezweifelt werden.

Der Flug selbst, anfänglich 2x wöchentlich angeboten, später wegen unzureichender Nachfrage auf 1x reduziert, erwies sich als finanzielles Desaster. Offensichtlich gab es vorher keinerlei Evaluation eines möglichen Fluggastaufkommens, anders sind die katastrophalen Auslastungen des für 192 Passagiere ausgelegten Flugzeuges nicht zu erklären: Minusrekord Ende Mai – 9 Fluggäste auf einem Rückflug aus München. Weiterhin scheinen sich die Werbebemühungen fast ausschließlich auf Russland bzw Ostsibirien beschränkt zu haben. Von deutschen Reiseunternehmen war des öfteren zu hören, dass sie von diesem Flug keinerlei Kenntnis hätten. Aus diesem Grund entschloss sich eine hochrangig besetzte Delegation (Chefs der Airline, Gouverneur des Irkutsker Gebietes, Bürgermeister Irkutsk, Rektoren verschiedener Unis) Anfang Juni zu einem Werbebesuch in München. Die mitreisenden Uni-Rektoren nutzten die Gelegenheit zu Kurzbesuchen an den bekannten Münchner Hochschulen, mit denen u.a. ich das Besuchsprogramm absprechen sollte. Etwas verwundert rief mich eine Mitarbeiterin im Auslandsamt der Münchner TU auf meinem russischen Mobiltelefon an und wollte wissen, warum denn plötzlich diese ganzen Rektoren kommen. Ich erklärte ihr den Hintergrund des unausgelasteten Flugzeuges, woraufhin sie in schallendes Gelächter ausbrach. „Und dafür der ganze Aufwand?“, war ihre durchaus berechtigte Frage. Ich hatte hingegen festzustellen: Ein Direktflug München – Irkutsk ist eben doch die ungleiche Begegnung von Metropole und hinterer Provinz, auch wenn man das naturgemäß in Irkutsk anders sieht.

Nun also sieht es also so aus, als ob dieser Flug ein singuläres Ereignis geblieben sein wird, eine unbedeutende Anekdote in der Geschichte des internationalen Flugverkehrs. Die Gründe dieser zu erwartenden Verbindungseinstellung sind hingegen wenig unterhaltsam: Die russische Luftfahrt ist im Moment leider alles andere als sicher und wird in den kommenden Jahren radikale Veränderungen erleben. Müssen.

[UPDATE]

Die Pointe lässt nicht lange auf sich warten. Soeben wurde vermeldet, dass auf dem Irkutsker Flughafen, der in der Vergangenheit selbst mehrfach Schauplatz schwerer Flugzeugunglücke war, begonnen wurde, die Flugzeuge der Fluggesellschaft von einem Geistlichen zu weihen. Vater Nikolai, der bereits Kriegsflugzeuge weihte, tat dies nun erstmals mit zwei zivilen Flugzeugen – und gab den beiden Maschinen auch neue Namen: Nikolai, der Wunderbewirkende und Innokent von Irkutsk. Geplant ist nun, die gesamte Flotte der Irkutsker Fluggesellschaft IrAero auf gleiche Weise zu weihen. Man fliegt gleich viel sicherer, wenn tiefempfundenes Gottvertrauen das Flugwesen Russlands vor dem Absturz bewahren wird.

Begraben/Transsib

Der Tote im Zug

Posted by Sascha Preiß on

Da fuhr einmal ein Zug von Wladiwostok nach Pensa und als er zwischendurch in Irkutsk ankam, wurde ein Reisender tot aufgefunden. Das ist leider alles.

Und damit dürfen Sie Ihren Assoziationen freien Lauf lassen: Stellen Sie sich vor, wir befinden uns im tiefsten Russland, unternehmen eine mythische Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Und im Nachbarabteil, unbemerkt von allen Mitreisenden, stirbt ein Mensch. Da kräuselt sich doch alles durch den Kopf: Von Höhepunkten des Kriminalfilms im 20. Jahrhundert zu Tiefpunkten des zeitgenössischen Russlandfilms aus westlicher Sicht. Alles, was mit unbekannten Toten in fahrenden Zügen zu tun hat, soll erlaubt sein. Daraus knüpfen wir uns schon eine mehr oder weniger stringente Geschichte zusammen, keine Angst. Oder vielleicht doch: Womöglich halten Sie es eher mit Horror oder aufregenden übersinnlichen Phänomenen, zudem jeder Menge unfreiwilliger Komik? Oder aber Ihnen steht der Sinn nach Realismus, ein bisschen was mit Psychologie und Sozialdrama, möglicherweise geht es um einen Handlungsreisenden (ein suizidgefährdeter Mann mit tragischer Familiengeschichte) oder Sie mögen es ganz und gar fantastisch: starb der Mann handlungsreisend durch verschiedene Roman/Theater/Filmhandlungen?. Oder aber Sie sehen das Ganze mehr so prosaisch und der Tote ist einfach nur einer von denen, die sich in Russland ja sowieso immer und überall zu Tode saufen. Wie wäre Ihnen die Geschichte am liebsten? Aber auf Fragen zu erfahren, wie die Geschichte wirklich war, darf nur mit Ja oder Nein geantwortet werden.

Poetisch-wundersamer Abspann.

Begraben

Die dampfenden Särge

Posted by Sascha Preiß on

Der evangelische Pfarrer reist durch die Region, betreut vorhandene und neu entstehende, kleine evangelische Gemeinden, hält Gottesdienste, Bibelnachmittage, hin und wieder ist auch ein Gemeindemitglied zu beerdigen. Die Friedhofskapelle ist im Winter für die Zeremonie beheizt, zur Außenluft herrschen je nach Witterung bis zu 60° Temperaturunterschied. Die Sargträger warten vor der Tür, bis die Trauergemeinde versammelt ist, dann tragen sie den Sarg in den warmen Raum und öffnen ihn für einen letzten Gruß an den Toten. Er ist gewaschen, frisiert, angekleidet, mit frischen Blumen geschmückt, die Haut glitzert leicht. In der Kapelle herrscht die übliche trockene Luft des kontinentalen, sibirischen Klimas. Während der Zeremonie entweicht aus dem Sarg die feuchte Kühlhauskälte des Toten als zarter Dampf. Ein physikalisches Phänomen mit supranaturalem Charme.

Aufsteigender Wasserdampf der Angara bei -25° Lufttemperatur

Begraben/Statistik

Schöne Blumen in Storkow

Posted by Sascha Preiß on

November. Im Gang zu ihrem Büro steht eine dunkle, gebeugte Gestalt, ein pelziger Mantel, eine Chapka auf den Kopf, älter. Jemand, der sehr augenscheinlich nicht hier hin gehört. Sie geht an ihm vorbei, er schaut sie kaum an, steht und wartet. Eine Kollegin fragt ein paar Minuten später, ob er vielleicht zu ihnen wolle. Ja, antwortet er und schaut auf eine Uhr am Handgelenk, aber er habe einen Termin erst in 25 Minuten. Exakt zur vereinbarten Stunde klopft es an der Tür und Herr Perebojew tritt ein. Aus einem Beutel holt er einen Pralinenkasten und zwei Gläser mit süß eingelegten Preisel- und Heidelbeeren, als Dank für die Fotos vom Friedhof.

März. Eine etwas entfernte Freundin betritt das Büro und fragt sie, ob es ihr möglich wäre, den Vater eines Bekannten zu finden, genauer: dessen Grab. Er habe bei Berlin gekämpft und sei 1945 gefallen, der genaue Namen sei unsicher, L.G. Peredajew wahrscheinlich. Ob es möglich sei, es zu fotografieren, ihr Bekannter könne selbst nicht mehr nach Deutschland reisen. Eine E-Mail an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit Sitz in Kassel gibt unerwartet schnell, innerhalb von zwei Tagen, Auskunft: „Das Grab von Lukian Grigoriewitsch Peredajew, geboren 1906, liegt auf der Kriegsgräberstätte in Stralendorf bei Schwerin / Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland. Endgrablage: Abteilung 1, Block 3, Reihe 18 bzw 19. Primärer Bestattungsort war Rieplos nördlich Storkow / Mark Brandenburg.“ Ein Aktenvermerk, der gründlicher nicht hätte sein können. Sie verspricht ihrer etwas entfernten Freundin, beim nächsten Deutschlandaufenthalt das Stralendorfer Grab aufzusuchen und zu fotografieren.

Juni. Die Suche in Stralendorf bei Schwerin bleibt erfolglos. Es gibt lediglich den ganz normalen Kirchfriedhof, auf dem sich keine Kriegsgräber befinden. Ein Soldatenfriedhof, der zudem in Abteilungen, Blöcke und Reihen unterteilt wäre, ist weder auf der Landkarte eingezeichnet noch den informierten Damen vom kombinierten Post-Blumenladen in der Hauptstraße bekannt. Auch die freundlichen Mitarbeiterinnen vom Verwaltungsamt Stralendorf kennen keinen größeren sowjetischen Friedhof in der Gegend. Immerhin aber haben sie Kenntnis von sechs Gräbern sowjetischer Kriegstoter im Verwaltungsbereich, von denen sogar in einem Aktenordner über den Zustand der verwalteten Friedhöfe Fotografien aufbewahrt werden. L.G. Peredajew ist jedoch nicht darunter. Die Antwort auf die Nachfrage, wohin die Stralendorfer Toten verschwunden sein können, benötigt zwei Wochen: „Dem Friedhof Stralendorf wurden über 300 russ. Kriegstote zugeordnet, die aber dort nicht ruhen können. In der uns vorliegenden Gräberliste von Stralendorf werden 6 Kriegstote nachgewiesen. Es kann sich bei der Liste, die leider kein ‚Deckblatt‘ hat, evtl. um Stralsund handeln. Wir werden versuchen, eine Klärung durchzuführen. Jedoch wird dies einige Monate dauern.“

August. Unmittelbar nach Rückkehr aus Deutschland erhält sie vom Volksbund folgende Information: „Nunmehr können wir Ihnen mitteilen, dass der Genannte auf dem Friedhof der Stadt Storkow (1-3-18) seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Die uns vorliegende Gräberliste war vollkommen falsch zugeordnet und daher versehentlich für Stralendorf erfasst worden. Hier wird noch eine entsprechende Korrektur erfolgen. Wir hoffen, Ihnen gedient zu haben.“ Ob das derart lokalisierte Grab das tatsächlich gesuchte ist, bleibt bis auf Weiteres unklar.

Oktober. Die etwas entfernte Freundin, von der missglückten Suche etwas enttäuscht, fragt, ob es neue Erkenntnisse in der Sache Peredajew gibt und ein Foto des Grabes nicht irgendwie aufgetrieben werden kann. Sie beauftragt daraufhin eine andere Freundin, die in Berlin lebt, einmal ins südöstlich von Berlin liegende Storkow zu fahren und die Ruhestätte zu fotografieren. Nach einigen Wochen sagt die Freundin aus Zeitgründen ab. Sie fragt daher ihre in Westbrandenburg lebende Mutter, ob sie nicht Zeit und Energie für dieses Foto aufbringen könne. Diese sagt nach einigem Zögern, sie lasse ihren schwerkranken Schwiegervater so ungern allein, zu. Am 14.11. fährt die Mutter nach Storkow und sucht zuerst auf dem Stadtfriedhof, dort liegen jedoch keine sowjetischen Kriegstoten. Der gesuchte Friedhof befindet sich zwischen den Gemeinden Storkow und Rieplos. Während einer Gedenkstunde anlässlich des Volkstrauertages versucht die Mutter, die kyrillischen Buchstaben auf den Grabsteinen zu entziffern. Schließlich macht sie einige Bilder eines Massengrabs, auf dem u.a. auch der Name Peredajew aufgeführt ist, allerdings ohne jegliche Vor- und Vatersnamen sowie Geburts- und Todesdaten, was ihn auf der Tafel zu einem von 10 Unbekannten unter 34 Soldaten dieses Grabes macht.

In Russland ist die etwas entfernte Freundin über das Auffinden des Grabes erfreut. Als sie die Bilder sieht, kann sie jedoch ihre Enttäuschung nicht verbergen: „Das wird ihm ganz sicher nicht gefallen, ein Massengrab.“

Wie Herr Perebojew bei der Dozentin im Büro sitzt, sagt er: „Ich hatte ein bisschen gehofft, sie finden etwas anderes. Von dem Massengrab wusste ich doch. Ich war 1976 selbst dort.“ Er hatte sich seither erfolglos eingesetzt, für seinen Vater ein würdiges Einzelgrab zu erlangen. Denn anders als der Grabstein aussagt, ist der Tote nicht unbekannt, zwar ein einfacher Soldat, ja, aber eben nicht unbekannt. Sein Vater, Lukjan Jegorowitsch Perebojew, am 26. September 1906 geboren und in der handschriftlich verfassten Sterbeanzeige vom 6. Mai 1945 Lukjan Georgiewitsch genannt, starb am 25. April 1945 in Berlin, 13 Tage vor der vollständigen Kapitulation Nazideutschlands, im Alter von 38 Jahren. Der Sohn, noch vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zur Welt gekommen, bemühte sich seit den 60er Jahren, das Grab seines Vaters ausfindig zu machen. Im Juli 1973 wurde ihm von der zuständigen Abteilung des Verteidigungsministeriums mitgeteilt, dass sein Vater, L.G. Perebojew, in einem Massengrab auf einem Friedhof im deutschen Storkow begraben liegt. Bei seinem Besuch des Grabes stellte er jedoch fest, dass alle Daten sowie Vor- und Vatersnamen fehlten, zudem der Familienname falsch geschrieben war: Peredajew. Daraufhin traf er sich mit einem in Frankfurt / Oder stationieren Offizier der sowjetischen Armee und bat diesen, ihm bei seinem Bemühen um ein korrekt beschriftetes Einzelgrab zu helfen, da die sowjetischen Behörden kein Interesse daran zeigten. Die Botschaft etwa antwortete ihm auf seine Anfrage, dass sie mehrere tausend Gräber verwalten würde und daher sich nicht um ein einzelnes Grab kümmern könne. Der Offizier versprach ihm, eine korrekt beschriftete Grabplatte zu besorgen. Der Sohn zahlte dafür eine nicht unbedeutende Summe Geldes, es musste an die Grabplatte und die notwendige Umbettung gedacht werden, außerdem eine Aufwandsentschädigung. Der Offizier verlangte zudem, dass beim Umzug seiner Mutter aus Sibirien nach Kiew geholfen und ihm aus Gründen der Heimatsehnsucht nach Frankfurt ein echter sibirischer Samowar geschickt werden sollte. Der Sohn tat alles. Und wusste seither nicht mehr, was mit dem Grab seines Vaters geschehen war. Nach beinah 35 Jahren Wartens hatte er nun auf den Fotografien erkennen müssen, dass absolut nichts geschehen war.

Sie war sich nicht sicher, ob sie aufgrund der Namens- und Ortsverwechslungen nicht ein falsches Grab gefunden hatte. Ob es nicht auf dem Rieplos-Storkower Friedhof doch ein korrekt beschriftetes Einzelgrab gab, das allerdings ihre Mutter, da sie des Kyrillischen kaum mächtig ist, nicht entdeckt hatte. Oder ob es sich um zwei völlig verschiedene Soldaten handelte, die zufällig sehr ähnliche Namen trugen.

Herr Perebojew dankte nach einer halben Stunde Unterhaltung und wandte sich zum Gehen. Auch wenn es nicht das angemessene Grab seines Vaters wäre, er sei ihr für ihre Hilfe dankbar. Und ihrer Mutter, denn die hatte so schöne Blumen gekauft.