Der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja
Inzwischen ist die Situation wieder unter Kontrolle. Es wurden Schuldige gesucht und gefunden und der Bürgermeister hat mit den zuständigen Polizeiorganen Statements über das Ende der Stadtpanik abgegeben. Außerdem wurde sicherheitshalber ein bekiffter Busfahrer dingfest gemacht und der gestohlene Schal von Maria Wolkonskaja ist endlich auch wieder da.
Mit dem Schal der berühmtesten Dekabristin der Stadt verhält es sich so: In den 1970er Jahren wurde dem Museum der Schal von Marina Perfiljewa übergeben. Nach ihrer Aussage sei dies der Schal, den Maria Wolkonskaja von der Irkutsker Waise Varvara Rodionova als Hochzeitsgeschenk erhielt. Nach fünf Jahren verschwand der Schal aus dem Museum und galt als verschollen. Anfang der 2000er Jahre tauchte ein ähnlicher Schal beim Heimatmuseum des Tschitaer Gebietes auf (19 Bahnstunden von Irkutsk entfernt). Bei einem Fotovergleich des verschwundenen Schals von Frau Wolkonskaja mit dem nun aufgetauchten wurde festgestellt, dass die Schals identisch seien. Aufgrund von Überlegungen zur Berufsethik und eingedenk der Tatsache, dass der Schal als Erinnerungsreliquie unauflösbar mit der Geschichte Irkutsks verbunden ist, wurde im Heimatmuseum Tschita beschlossen, den Schal dem Irkutsker Dekabristenmuseum zurückzugeben. Das geschah schließlich, nach etwa zehn Jahren, vor wenigen Tagen. Morgen wird im Dekabristenmuseum der zurückgekehrte Schal präsentiert, dann bis zum 9. März erstmals wieder gezeigt, bevor er für einige Jahre zur Restauration verschwindet und erst danach endgültig öffentlich zugänglich sein wird.
Man kann anhand des Schals auf jeden Fall feststellen, dass Dinge, die verschwinden, auch wieder auftauchen, es braucht nur ein bisschen Zeit. Was sind schon 19 Bahnstunden oder zehn Jahre, wenn der Schal über 25 Jahre verschollen war und selbst über 150 Jahre alt ist. Auf keinen Fall lohnt es sich, wegen abhanden gekommenen Sachen in Panik zu verfallen. Es ist eine glückliche Fügung, dass just im Moment der Rückkehr des verlorenen Schals nun also auch Polizei und Bürgermeister ein Ende der öffentlichen Unruhe anmahnen.
Auch wenn diese Unruhe durch das Verschwinden von Personen ausgelöst wurde. Üblicherweise werden in den ersten anderthalb Monaten des Jahres mehr als 65 Personen des Irkutsker Gebietes als vermisst gemeldet, in diesem Jahr verschwanden allein 25 Leute aus Irkutsk. An den Haltestellen, Laternenmasten und Häuserwänden kleben Zettel mit Fotos und Beschreibungen der Vermissten. In diesem Jahr nun schien es, als wären deutlich mehr Menschen als üblich abhanden gekommen, es verbreitete sich das Gerücht, eine Bande würde gezielt Personen fangen und sie zu Organspendezwecken obskuren Ärzten übergeben. Offensichtlich sahen sich die Behörden einem gewaltigen Ansturm an Vermisstenmeldungen und Anfragen Verunsicherter gegenüber, so dass schließlich ein Mitarbeiter des Chefarztes für Organtransplantation im Gebietskrankenhaus um offizielle Stellungnahme gebeten wurde: Es gebe aufs ganze Jahr verteilt gerade einmal 20 entsprechende Operationen, ein Anstieg sei unbekannt und unwahrscheinlich. Man bitte also gemeinsam mit der Polizei, den Gerüchten kein Gehör zu schenken. Dieser Schritt an die Öffentlichkeit war von so ausbleibender Wirkung, so dass man sich entschied, noch einmal sehr deutlich nachzulegen: Der Gebietsgouverneur Dmitri Mesenzev, ehemaliger Kandidat für die Präsidentschaftswahl im März, dem inkorrekte Unterschriften als Ausschlussgrund zur Last gelegt wurde, verfügte daher, dass die Verbreitung irreführender Gerüchte als Straftatbestand zur Unruhestiftung wider die öffentliche Ordnung zu werten sei und die Polizei nun also die Gerüchteköche zu verfolgen habe. Schließlich seien von den 65 als vermisst Gemeldeten inzwischen 59 wieder aufgetaucht oder gefunden. Man sollte sich nicht wundern, dass diese Ankündigung durchaus Verwunderung auslöste: Sucht eigentlich auch jemand die Vermissten? Man muss sich nun klar werden, dass das Vertrauen in die Organe öffentlicher Ordnungshütung traditionell nicht das höchste in Russland ist. Ein Freund berichtete mir den Fall seiner verschwundenen Nachbarstochter vom vergangenen Jahr. Die Meldung ihres Verschwindens auf der Polizeidienststelle habe zunächst keinerlei Aktivität ausgelöst, denn erst nach einer Inkubationszeit von mindestens 10 Tagen schalte sich die Polizei ein, da in den überwiegenden Fällen, siehe der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja, kehrten die Vermissten irgendwann von selbst zurück. Tatsächlich wurde das Mädchen gefunden, kurz nach Ablauf der polizeilichen Schonfrist, vergewaltigt, bereits über eine Woche tot, ermordet, um Spuren zu verwischen, mit ihrem Schal. Die Polizei reagierte und konnte den Täter innerhalb eines Tages aufgrund von SMS, die beim Telefonanbieter abrufbar waren, ausfindig machen und festnehmen. Einer der wenigen Fälle, bei dem die Vermisste nicht mehr zurückkehrte. Angesichts der gewöhnlichen Erfolgsquote ist das zweifellos tragisch zu nennen.
Nun also wurden die Gerüchteverbreiter gesucht und in kurzer Zeit, deren Betriebsamkeit man nicht hektisch nennen sollte, auch gefunden. Nun fehlen nur noch 6 aus 65. Es besteht kein ernsthafter Anlass zur Sorge. Eine schriftliche Anfrage nach Tschita wurde bereits versendet, um auch Möglichkeiten außerhalb des Irkutsker Gebietes in Betracht zu ziehen. Es ist also bitte wieder ruhig.