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Das Wetter/Interkultur

Frühlings Erwarten

Posted by Sascha Preiß on

Die junge Journalistin, nach dem Genuss von zwei Tassen Kaffee, blieb auf ihrem Stuhl sitzen. Seit einigen Tagen sei sie auffällig müde, unangenehm schlaff und antriebslos, vielen ihrer Kollegen ginge es ähnlich. Der Chefredakteur erkläre dies im Übrigen nicht mit der anstehenden Wahl und der ihr folgenden, inoffiziell wenig optimistisch genannten Zukunft, wohingegen sie in den Artikeln ihrer Zeitung stets Stabilität, Entwicklung und positive Einflussnahme auf die Leserschaft verkündeten; er erkläre es sich persönlich und der gesamten Redaktion zur Kenntnisnahme rein kosmologisch, mit einer besonderen Konstellation von Sonnenwinden und dem Magnetfeld der Erde. Sie hingegen halte Astrologie und vergleichbare äußere Einflüsse für Hokus-Pokus und vermute etwas anderes, aber wie könne sie das beschreiben:

Voriges Jahr war sie zu dieser Zeit in Europa und erlebte den Übergang vom Winter zum Frühling zwei Mal, zuerst dort, dann hier. Wie die Krokusse sich aus dem Boden reckten und die ersten Knospen an den Bäumen ans Licht wuchsen, so schnell und augenscheinlich hatte sie diese Befreiung noch nie erfahren. Hier jedoch benötige die Natur etwa anderthalb Monate länger für den Beginn eines neuen Lebenszyklus, und wochenlang schmelze Schnee, taue Eis und gefriere wieder, und vermenge sich mit Schmutz und Erde, kreiere Schlamm und hinterließe einen graubraunen klebrigen Film überall in der Stadt und kahle, trübe Baumgerippe. Sie aber, in diesem Jahr sei ihr das also bewusst geworden, erwarte bereits jetzt sehnsüchtig den Anblick von Grün und den spezifischen Geruch frischer Blätter, sie sehne den Frühling herbei, dass er so früh eintreffe wie ein Jahr zuvor. Und dies, da vergeblich, ermüde.

Sie konstatiere bei sich eine fehlende Übereinstimmung ihrer inneren biologischen Uhr mit der realen sibirischen Lebenswelt, woraus eine grundsätzliche Enttäuschung resultiere und sich als Vorfrühjahrsmüdigkeit äußere. Da sei eine Hoffnung in ihr, ein Urverlangen nach Farbe, vermutlich in der ganzen Gattung Mensch, vor vielen Jahrtausenden von der Evolution in ihnen hinterlassen, die gegen die unverbrauchten Reste eines Winterschlafs der Gene nicht ankomme. Sibirien sei daher im März eigentlich nicht zu ertragen, eine hoffnungsfeindliche Umgebung, ein riesiger depressiver Landstrich. Um sich über die Enttäuschung hinweg zu trösten, wähle sie übermäßigen Kaffeegenuss, ihr Chefredakteur kosmische Strahlung. Vielleicht sei es sinnvoll, ein blühendes Veilchen bei sich zu tragen, die Möhre vor dem Eselskarren, ein Taschenspielertrick zwar, aber irgendwas müsse sie sich einfallen lassen. Wahrscheinlich aber, sagte sie nach einer Pause, sei in einer Woche, nach Verkündung des Ergebnisses, auch dies hinfällig. Dann erhob sie sich schweren Herzens, zog sich langsam an, Schal, Mütze, dicke Jacke, wünschte alles Gute und ging.

Anti-Terror/Irkutsk/Statistik/Ulica

Der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja

Posted by Sascha Preiß on

Inzwischen ist die Situation wieder unter Kontrolle. Es wurden Schuldige gesucht und gefunden und der Bürgermeister hat mit den zuständigen Polizeiorganen Statements über das Ende der Stadtpanik abgegeben. Außerdem wurde sicherheitshalber ein bekiffter Busfahrer dingfest gemacht und der gestohlene Schal von Maria Wolkonskaja ist endlich auch wieder da.

Mit dem Schal der berühmtesten Dekabristin der Stadt verhält es sich so: In den 1970er Jahren wurde dem Museum der Schal von Marina Perfiljewa übergeben. Nach ihrer Aussage sei dies der Schal, den Maria Wolkonskaja von der Irkutsker Waise Varvara Rodionova als Hochzeitsgeschenk erhielt. Nach fünf Jahren verschwand der Schal aus dem Museum und galt als verschollen. Anfang der 2000er Jahre tauchte ein ähnlicher Schal beim Heimatmuseum des Tschitaer Gebietes auf (19 Bahnstunden von Irkutsk entfernt). Bei einem Fotovergleich des verschwundenen Schals von Frau Wolkonskaja mit dem nun aufgetauchten wurde festgestellt, dass die Schals identisch seien. Aufgrund von Überlegungen zur Berufsethik und eingedenk der Tatsache, dass der Schal als Erinnerungsreliquie unauflösbar mit der Geschichte Irkutsks verbunden ist, wurde im Heimatmuseum Tschita beschlossen, den Schal dem Irkutsker Dekabristenmuseum zurückzugeben. Das geschah schließlich, nach etwa zehn Jahren, vor wenigen Tagen. Morgen wird im Dekabristenmuseum der zurückgekehrte Schal präsentiert, dann bis zum 9. März erstmals wieder gezeigt, bevor er für einige Jahre zur Restauration verschwindet und erst danach endgültig öffentlich zugänglich sein wird.

Man kann anhand des Schals auf jeden Fall feststellen, dass Dinge, die verschwinden, auch wieder auftauchen, es braucht nur ein bisschen Zeit. Was sind schon 19 Bahnstunden oder zehn Jahre, wenn der Schal über 25 Jahre verschollen war und selbst über 150 Jahre alt ist. Auf keinen Fall lohnt es sich, wegen abhanden gekommenen Sachen in Panik zu verfallen. Es ist eine glückliche Fügung, dass just im Moment der Rückkehr des verlorenen Schals nun also auch Polizei und Bürgermeister ein Ende der öffentlichen Unruhe anmahnen.

Auch wenn diese Unruhe durch das Verschwinden von Personen ausgelöst wurde. Üblicherweise werden in den ersten anderthalb Monaten des Jahres mehr als 65 Personen des Irkutsker Gebietes als vermisst gemeldet, in diesem Jahr verschwanden allein 25 Leute aus Irkutsk. An den Haltestellen, Laternenmasten und Häuserwänden kleben Zettel mit Fotos und Beschreibungen der Vermissten. In diesem Jahr nun schien es, als wären deutlich mehr Menschen als üblich abhanden gekommen, es verbreitete sich das Gerücht, eine Bande würde gezielt Personen fangen und sie zu Organspendezwecken obskuren Ärzten übergeben. Offensichtlich sahen sich die Behörden einem gewaltigen Ansturm an Vermisstenmeldungen und Anfragen Verunsicherter gegenüber, so dass schließlich ein Mitarbeiter des Chefarztes für Organtransplantation im Gebietskrankenhaus um offizielle Stellungnahme gebeten wurde: Es gebe aufs ganze Jahr verteilt gerade einmal 20 entsprechende Operationen, ein Anstieg sei unbekannt und unwahrscheinlich. Man bitte also gemeinsam mit der Polizei, den Gerüchten kein Gehör zu schenken. Dieser Schritt an die Öffentlichkeit war von so ausbleibender Wirkung, so dass man sich entschied, noch einmal sehr deutlich nachzulegen: Der Gebietsgouverneur Dmitri Mesenzev, ehemaliger Kandidat für die Präsidentschaftswahl im März, dem inkorrekte Unterschriften als Ausschlussgrund zur Last gelegt wurde, verfügte daher, dass die Verbreitung irreführender Gerüchte als Straftatbestand zur Unruhestiftung wider die öffentliche Ordnung zu werten sei und die Polizei nun also die Gerüchteköche zu verfolgen habe. Schließlich seien von den 65 als vermisst Gemeldeten inzwischen 59 wieder aufgetaucht oder gefunden. Man sollte sich nicht wundern, dass diese Ankündigung durchaus Verwunderung auslöste: Sucht eigentlich auch jemand die Vermissten? Man muss sich nun klar werden, dass das Vertrauen in die Organe öffentlicher Ordnungshütung traditionell nicht das höchste in Russland ist. Ein Freund berichtete mir den Fall seiner verschwundenen Nachbarstochter vom vergangenen Jahr. Die Meldung ihres Verschwindens auf der Polizeidienststelle habe zunächst keinerlei Aktivität ausgelöst, denn erst nach einer Inkubationszeit von mindestens 10 Tagen schalte sich die Polizei ein, da in den überwiegenden Fällen, siehe der verschwundene Schal der Maria Wolkonskaja, kehrten die Vermissten irgendwann von selbst zurück. Tatsächlich wurde das Mädchen gefunden, kurz nach Ablauf der polizeilichen Schonfrist, vergewaltigt, bereits über eine Woche tot, ermordet, um Spuren zu verwischen, mit ihrem Schal. Die Polizei reagierte und konnte den Täter innerhalb eines Tages aufgrund von SMS, die beim Telefonanbieter abrufbar waren, ausfindig machen und festnehmen. Einer der wenigen Fälle, bei dem die Vermisste nicht mehr zurückkehrte. Angesichts der gewöhnlichen Erfolgsquote ist das zweifellos tragisch zu nennen.

Nun also wurden die Gerüchteverbreiter gesucht und in kurzer Zeit, deren Betriebsamkeit man nicht hektisch nennen sollte, auch gefunden. Nun fehlen nur noch 6 aus 65. Es besteht kein ernsthafter Anlass zur Sorge. Eine schriftliche Anfrage nach Tschita wurde bereits versendet, um auch Möglichkeiten außerhalb des Irkutsker Gebietes in Betracht zu ziehen. Es ist also bitte wieder ruhig.

Ästhetik/Das Wetter/Universität

Beglückender Frost

Posted by Sascha Preiß on

(Alexander Kluge zum 80.Geburtstag)

Die alte Biologin wusste aus ihrem Leben vorrangig die Winter zu berichten, als im Tropenhaus des Botanischen Gartens ein Großteil der Pflanzen erfroren. Bei anhaltenden Außentemperaturen von unter -40° hielt die Gebäudeisolierung nicht stand und die Heizanlagen konnten die notwendige Luftinnentemperatur von rund 50° nicht mehr gewährleisten.

– Der Frost ist nicht außergewöhnlich, solche Kälteperioden sind normal im Winter. Auch die Materialermüdung etwa alle 10 Jahre ist normal.

– Sie waren darauf vorbereitet, dass ein Teil Ihrer Forschungsgrundlage regelmäßig vernichtet wird?

– Selbstverständlich. Wobei es uns mit jedem Mal besser gelang, das Sterben aufzuhalten, wenn auch nie ganz zu verhindern. Vielleicht wollten wir das auch gar nicht.

– Sie hatten Interesse am Massensterben?

– Ein emotionales. Es ging um Betreuung.

– Und um den Einsatz für die Wiederbelebung?

– Eher um soziales Verhalten. Aufbau und Erhalt eines botanischen Gartens in diesen Breitengraden ist schön für die Forschung. Starb ein Teil oder war ein großer Teil davon bedroht, konnte ich eine ansteckende Begeisterung bei mir und den Kollegen beobachten, das Aufwallen des Schutz- und Fürsorgeinstinktes, gesellschaftliche Wärme. War der Garten gerettet und verteidigt, nahm das innerkollegiale Interesse ab, die gemeinschaftliche Aufgabe war getan. Die intensiven Tage empfand ich, auch angesichts der Außentemperaturen, als beglückend.

– Die Katastrophe als Katalysator – aber Sie haben nie den Prozess beschleunigt?

– Ich hätte die Heizung abstellen können, ja. Doch Glück kann man nicht verschulden, es muss eintreffen.

– Warum braucht man in einer Region mit mindestens sechs Monaten unter 0° einen tropischen Garten?

– Wer braucht schon Glück, meinen Sie? Es ist ja nicht so, dass strenge Frosteinwirkung automatisch zu gesellschaftlicher Wärme führt. Es kommt auf die glücklichen Umstände an. Ein Ausschnitt aus dem tropischen Klima wirkt wie ein unterhaltsamer Science-Fiction-Film. Die Besucherzahlen sind in den letzten Dekaden stark gestiegen.

– Hat sich der Frosteinbruch in die Tropenhäuser auch gewinnbringend auf Ihre Forschungsarbeiten ausgewirkt?

– Aus wissenschaftlicher Sicht spielt die Beglückung des Forschungspersonals eine zu vernachlässigende Rolle. Wäre ich nicht primär an der Fauna interessiert, wüsste ich es aber sicher besser.

 

Wesentliche Eigenschaften, ohne welche die Menschheit nicht überlebt hätte, stammen aus der Eiszeit. So z.B. die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt: Grundlage aller GEFÜHLE. Insofern kann man sagen, dass wir Menschen aus der Kälte stammen. Zugleich wird man aber beobachten können, dass Herzenskälte dauerhaft nicht zu ertragen ist. – A.K.

 

Kulinarisches/selbst

Die Sache mit dem Eis

Posted by Sascha Preiß on

Hin und wieder muss ich dann auch mal Lebensmittel einkaufen gehen. Vorgestern z.B. war so ein Tag, und gestern auch. Mit dem Kindergarten ist vereinbart, dass die Eltern einmal im Monat für die Verpflegung der lieben Kleinen aufkommen, heute morgen war ich mit der Pitanje an der Reihe, also bin ich spät abends noch in den nahen, fast rund um die Uhr geöffneten Supermarkt. Als jahrelanger Kunde erlebt man da so einiges. Die Belegschaft kommt und geht, manche Kassiererin grüßt mich bereits, manche ehedem Grüßende hat die Kassiererei für einen besseren Job aufgegeben, und manchmal vergesse ich auch mein Geld zu Hause, so dass die an der Kasse auf meinen Sachen sitzen bleiben. Meist ist aber alles ganz gewöhnlich. Gestern benötigte ich laut Einkaufsliste des Kindergartens mehrere Liter Milch, verschiedene Brote, Butter, reichlich Obst und anderthalb Kilo Quark. Für den eigenen Kühlschrank habe ich dann noch ein paar Eis in den Korb gelegt, bei den hohen Raumtemperaturen hat man regelmäßig Appetit auf eine Abkühlung. Gerade eben bin ich aber doch noch einmal losgezogen, weil neben dem Eis von gestern irgendetwas anderes zu Hause notwendig wurde. Der diensthabende Wachmann begrüßte mich sogleich freundlich, fast wollte ich ihn umarmen und ihn zu einem Wodka einladen. Er aber fragte nur, ob ich nicht von gestern ein Eis vermissen würde. Aber ja, erinnerte ich mich augenblicklich, von den vier in den Korb gelegten waren daheim nur noch drei in den Tüten auffindbar. Da reichte der freundliche Mann das verloren gegangene Stück und ich bedankte mich, ehrlich glücklich. Die Kassiererin, bei der ich bislang grußlos gezahlt hatte, schaute mich skeptisch an, weil ich das Eis unbezahlt in die Tüte steckte. Der Wachmann habe es mir gegeben, verteidigte ich mich, ohne angegriffen worden zu sein. Ich würde ziemlich regelmäßig hier etwas liegen lassen, klang sie doch ein wenig nach Vorwurf. Neinnein, das sei bestimmt das erste Mal gewesen, sagte ich und gab ihr meine Rabattkarte. Soso, aha, zog sie das Ding durchs Lesegerät, augenblicklich schrumpfte der Betrag. Schweigend zahlte ich und grußlos schieden wir voneinander. Vielleicht, dass ich unverdient ein Geschenk erhalten hatte. Doch tatsächlich halte ich mich nicht der Demenz verdächtig. Tüte, Eis und Portemonnaie habe ich auf jeden Fall eben noch in der Wohnung gesehen.

Das Wetter/Irkutsk

„Unser Schnee lässt sich schlecht zu Bällen verarbeiten“

Posted by Sascha Preiß on

In Deutschland wird seit einigen Tagen über die angekündigte sibirische Kältewelle gesprochen. Mit Peter Wagner, Redakteur bei jetzt.de, dem Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, war ich gestern Abend zu einem Skype-Chat verabredet. Nachfolgend das dort erstveröffentlichte vollständige Interview über gefriergetrocknete Kleidung, eingecremte Gelenke und verrückte deutsche Radfahrer.

Seit dreieinhalb Jahren lebt Sascha Preiß, 35, in Sibirien. Er arbeitet dort als Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Technischen Universität von Irkutsk. Aufmerksame jetzt.de-Leser kennen ihn unter dem Usernamen ruebezahl und verfolgen vielleicht auch seinen Irkutskblog, in dem er sein Leben in Russland beschreibt und fotografiert. (Die Bilder im Text unten entstammen dem Blog.) Im Skype-Chat mit jetzt.de erzählt Sascha vom Leben in der Kälte – als Einstimmung auf Hoch „Cooper“, das Deutschland bis Ende der Woche tiefgefroren haben soll.   

jetzt.de: Sascha, bei mir in München ist es jetzt 10 Uhr, bei dir 18 Uhr. Wie kalt ist es?
Sascha:
Minus 27 Grad. Es ist also etwas wärmer geworden.

Wie kalt war es gestern?
Minus 41 Grad.

War es dein Wunsch, in diese Ecke der Welt zu ziehen, um dort zu arbeiten?
Ja, ich wollte schon immer mal in Russland leben und arbeiten. Ich habe zuvor ein Jahr in Kasachstan gearbeitet, später zwei Jahre in Kroatien. Und als sich die Möglichkeit bot, in Baikal-Nähe zu leben, habe ich mich beworben und die Stelle bekommen.

Zu welcher Jahreszeit bist du damals angekommen?
Damals war es früher Herbst und als wir mit dem Flugzeug, einer alten TU-134, von Nowosibirsk aus ankamen, hat es ziemlich geregnet. Wenig erfreulich im ersten Moment, weil dadurch von der Stadt absolut nichts zu sehen war. Aber das hat sich schnell gebessert. Die Stadt empfand ich damals im Herbst als wirklich sehr schön. Und auch im Winter!