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Ästhetik/Kulinarisches

33 Stunden später

Posted by Sascha Preiß on

Gegen 03:45 Uhr war ich zur Überzeugung gelangt, dass es definitiv unmöglich sei, auf mechanischem Weg eine künstliche Intelligenz als Kopie aller Funktionsweisen des menschlichen Gehirns zu erschaffen. Dafür war dieser Nervengewebshaufen im Kopf schlicht zu effektreich.

Wohl gegen 03:15 Uhr war ich in der trockenen Raumluft mit Durst aufgewacht, stand auf, etwas zu trinken, legte mich wieder hin zum Weiterschlafen. Und dann fiel mir die Antwort auf eine Frage von vor 33 Stunden ein. Eine Antwort, die im Fernsehen vielleicht 500.000 Euro wert sein könnte, vollständig belanglos und unnütz: Wie heißt das Sushi, das aus einem fingerdicken Reisblock besteht und mit Fisch, Meeresfrüchten oder Omlette belegt wird (zzgl vier Antwortmöglichkeiten)? Selbstverständlich klang die mir damals gestellte Frage etwas profaner: Wie heißen diese Teile da (zzgl dem Zeigefinger auf die Deko an der Wand)? Dass das Hirn sich 33 Stunden mit derartigem Scheiß beschäftigt, um dann schließlich und unerwartet die Antwort auszuspucken, mitten in die Nacht hinein selbstverständlich, während der Schlafphase plötzlich den Hirnträger mit völlig kontextlosen Wörtern und Erkenntnissen befällt, dass der vom Schlaf abgehalten wird, weil er dieses Stück Geistesblitz irgendwo einsortieren muss, verdammte somnambule Kopfpuzzlelei – das muss man als Hirnforscher und Roboterdesigner erstmal hinkriegen.

Vor 33 Stunden saßen wir in einer kleinen Sushi-Bar, die vom Interieur an Berlin Mitte um 2000 erinnerte. Trocken funktional, Grundfarbe grau, indirektes Licht mit Farbeffekten, erlesen-luftige Speisekarte, das Ganze mehr Design als Charakter. Wenn man gezielt am „Fila-Boom“ vorbei auswählte (Sushi incl. Philadelphia-Frischkäse, sehr eklig, in Irkutsk durchaus häufig), konnte man trotzdem gut essen. Und an der Wand, um den großen Fernseher mit Japan-Werbevideo herum, Plaste-Sushi aus dem Schnick-Schnack-Laden, Lachs, Tunfisch und Krebs. Und ich wusste nicht mehr, wie diese Dinger hießen. Aber mir war das wirklich egal. Doch obwohl wir beim Hinausgehen fanden, dass diese Bar nicht unser beliebtester Laden in der Stadt werden würde, schien sie ausreichend Eindruck hinterlassen zu haben, dass die unbeantwortete Frage in meinem Zentralnervensystem weiter umhergeisterte, „bohrend“. Daran konnten keine wunderbare sowjetische Komödie von 1968, gesehen mit Freunden am gleichen Abend, oder die Zubereitung von Gulasch am folgenden Tag oder stundenlanger Besuch etwas ändern. Und ja, auch beeindruckend wiederum so ein Hirn, ausgeklügelte Effekte wie plötzliches Nicht-Mehr-Wissen, Black-Out und Mir-liegts-auf-der-Zunge, dann aber doch Jetzt-hab-ichs, unerwartetes Erinnern und Geistesblitz, weil irgendwo im Verborgenen und Hintergrundrauschen an irgendwelchen Synapsen still und gemütlich die Transmitter von Axon zu Dendrit wanderten – – – Ich möchte den Roboter sehen, der nachts aufwacht und „Nigiri“ sagt.

(Bildquelle: Wikimedia)

Grenzenlos/Irkutsk

УРА! [UPDATE]

Posted by Sascha Preiß on

Vor Kurzem gab es die Ankündigung, seit heute ist es amtlich: Ab 30. April 2011 wird die russische Fluggesellschaft „Yakutia“ zweimal wöchentlich, mittwochs und samstags, den Direktflug München – Irkutsk betreiben. Die Strecke soll mit einer Boeing 757-200 geflogen werden.  Was das kosten wird, kann man bereits ab Morgen, den 22.12.2010, erfahren, denn dann werden die ersten Tickets angeboten.

Wer also noch kein Weihnachtsgeschenk hat: Wie wärs mit einer Baikal-Reise?

[UPDATE] 24.12.:

Inzwischen ist klar, dass die Flüge in beide Richtungen mittwochs und samstags angeboten werden (15.00 ab München – 5.45 an Irkutsk, Folgetag / 10.00 ab Irkutsk – 11.15 an München, gleicher Tag) und SENSATIONELL für 14.000 Rubel zu haben sind, was beim momentanen Kurs (1:40) gerademal 350 Euro sind! Also: WEITERSAGEN.

Und Fröhliche Weihnachten. 🙂

Das Wetter/Irkutsk/Ulica

Minus Fünfunddreißig Grad

Posted by Sascha Preiß on
Baikal/Fernost/Grenzenlos

Alpen – Baikal

Posted by Sascha Preiß on

Die Gespräche dazu liefen seit einigen Jahren, nun endlich ist die erste offizielle Ankündigung raus: Ab Frühjahr 2011 wird es eine direkte Flugverbindung von München nach Irkutsk geben (bisher war immer nur von Planungen die Rede).  Aufmerksame Russlandkenner wissen, dass so eine Ankündigung nicht unbedingt viel bedeuten muss, aber bleiben wir optimistisch. Für die russische Seite ist die Frage der Beantragung von Schengen-Visa klarerweise von entscheidendem Interesse. Eine deutsche Auslandsvertretung gibt es in Irkutsk nicht. Zwar befindet sich ein polnisches Generalkonsulat in der Stadt, aber auch mit einem polnischen Schengen-Visum kann man nicht direkt über Deutschland in die EU einreisen. Seit Sommer laufen daher die Gespräche zwischen dem deutschen Generalkonsulat im 1600km entfernten Nowosibirsk und dem polnischen GK Irkutsk über die Erteilung deutscher Visa, beide Seiten sind sich einig, dass das Sinn macht und sie zusammenarbeiten wollen. Die deutsche Seite geht von deutlich mehr als tausend Visa aus, die beantragt würden und zu erteilen wären. Die letztendliche Entscheidung über die Visavergabe in Irkutsk haben jedoch das polnische und deutsche Außenministerium in Warschau und Berlin. Wann von dort das OK kommt, war bei meinem letzten Aufenthalt in Nowosibirsk vor einer Woche nicht zu erfahren.
Da sich in Deutschland ausreichend russische Konsulate befinden, etwa auch in München, ist für interessierte deutsche Reisende der Weg an den Baikal relativ offen, abgesehen vom inzwischen dank fehlender Bemühungen des deutschen Außenministers verschärften Antragsprocedere. Ich hoffe inständig, dass die deutsch-polnischen Gespräche besser laufen.

Nun also die Ankündigung für „Frühjahr“. Offen ist, wie häufig die Verbindung angeboten werden soll, mit welcher Fluglinie betrieben wird und was das etwa kosten wird. Die Flugzeit würde vermutlich 7,5h betragen. Bisherige Routen führen sämtlich über Moskau, Reisezeit nach Berlin: 15h, Kosten hin und zurück: rund 600,-. Nur für alle, die fragen, wofür man so einen Flug z.B. braucht: Der Baikal ist Russlands drittgrößtes Tourismusgebiet nach Moskau und St. Petersburg; mit Abstand größte Touristengruppe: Deutsche. Eine Aufwertung Sibiriens als Wirtschaftsregion inclusive. Auch aus russischer Sicht ist eine Direktverbindung aus Ostsibirien nach Westeuropa wichtig, um die wenigen vorhandenen Partnerschaften auszubauen und neue zu schließen. Direktflüge ins Ausland sind von Irkutsk aus bisher nur nach Asien möglich.

Wer jetzt Lust verspürt, ab Frühjahr mal vorbeizufliegen, darf sich ruhig bei mir melden.

Der heilige Felsen auf der Insel Olchon

Interkultur/Irkutsk/Liljana/selbst/Unter Deutschen

Erschöpfungsgrad. Eine kurze Retrospektive

Posted by Sascha Preiß on

Anfangs, als ich Irkutsk zum ersten Mal durch die Scheiben der TU-134 sah, war ich wohl etwas enttäuscht. Ich hatte auf symbolisches Wetter gehofft. Aber es regnete nur. Klima: mangelhaft. Das änderte sich rasch und seither gibt es nichts zu bemängeln.

Wie ist es so in der Stadt? Es lässt sich konsumieren, so viel man möchte, jeden Scheiß, jeden Tag. Ruhetage sind Museen und Behörden vorbehalten, auch die Post arbeitet sonntags. Deutsches Bier, Nutella, Ikea-Kram und iPhones, alles da. Für deutsche Medien gibts schnelles Internet, Bücher schickt Amazon in 10 Tagen, Musik per download. Irgendwo in dieser Stadt, vermute ich, bekommt man wohl auch geröstete Affenärsche. Welcher Mangel?

Reden wir also nicht weiter davon.

Und sonst so? In den vergangenen zweikommafünf Jahren sind mir ein halbes Dutzend Fälle bzw deutsche Personen begegnet, für die Baikaltourismus lebensentscheidend war: und sie kehrten erst verliebt, dann verheiratet und-oder verkindert zurück. Es gibt wohl keinen gradlinigeren Weg, Land und Leute kennenzulernen. Hat man nach Russland geheiratet, umsorgt einen eine enorme Familie. Und die Freunde sowieso. Wenn man nun aber bereits verheiratet ist und als Ausländerpaar nahe des Baikalufers ein Kind in die Welt wirft, dann gibt es wohl keinen gradlinigeren Weg, dass man von Land und Leuten ziemlich in Ruhe gelassen wird. Keiner kommt gratulieren, keiner ruft glückwünschend an oder schickt Blumen: das junge Glück soll sich ungestört erholen. Und da wären wir nun. Zu dritt. Allein.

Die Sache ist: Alle paar Wochen gehen wir uns aus dem Weg oder auf den Geist, mehr Optionen sind da nicht. Allabendlich nach der Arbeit aufeinanderhocken, jeder mit seiner Arbeit beschäftigt und lieber nicht das Kind ins Bett schaukeln. Es fehlt – Zeit. Für uns. Ein Zeitmangel ohne Eile und Hast, sondern ein Mangel an Gemeinsamkeit. Filme haben wir schon monatelang nicht mehr zu zweit gesehen. Der Kinobesuch für dieses Jahr lief so: Samstag sie, Sonntag ich, der andere machte derweil den Hirten. Das letzte Buch, das mir gelang durchzulesen, war Hertha Müller „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“. Für die 120 Seiten benötigte ich 4 Wochen und ich bin mir sicher, nichts mehr davon zu wissen. Meine Frau hat mir neulich Warlam Schalamow „Durch den Schnee – Erzählungen aus Korlyma 1-3“ geschenkt, 1250 Seiten. Ihr unerschütterlicher Optimismus, ein minutiöser Gulag-Bericht als kiloschwere Druchhalteparole. Das gemeinsame Gespräch ist auf symbolische Handlungen reduziert. Weil die Zeit knapp ist. Auf elterliche Unterstützung muss aus geografischen Gründen verzichtet werden. Von den Freunden nicht zu reden, Skype ist kein Ersatz für durchqualmte Kneipenabende. Immerhin haben wir ein Kindermädchen für die Tagesbetreuung, so können wir arbeiten fahren, 30min hin, 60min zurück, Abendstau. Kinderkrippen gibt es keine, Kinderbetreuung in Gruppen so gut wie nicht. Unser Töchterchen sucht Gesellschaft. Sie schaut sich tagtäglich den Schwangerschaftsratgeber von GU an, der hat viele Abbildungen. Wo kleine Kinder zu sehen sind, legt sie ihren Kopf hin und kuschelt mit ihnen. Schnee mag sie nicht so, da steht sie auf der Straße und bewegt sich nicht mehr. Mir wäre der Sinn nach Schneeballschlacht, aber mit wem. Und zu lange bei -15 geht auch nicht: Je tiefer die Temperaturen, umso höher das Schlafbedürfnis. Die Skala zeigt Erschöpfungsgrad an. Inzwischen kann ich locker 12h am Stück durchschlafen. Ich weiß nur nicht wann. Bin ich müde, gehen mir alle gewaltig auf den Geist bzw ich ihnen am liebsten aus dem Weg.

Ach ja, Weihnachten ist auch noch. Meine Frau organisiert einen ganzen Haufen Adventsfeiern. Sie fehlen ihr, weil sie Familie bedeuten. Wärme. Ich kann zu ihrem Unglück darauf verzichten. Unsere Mängel ergänzen sich nicht.

Mit einer Ausnahme: beide wollen wir trotzdem eine Weile hier bleiben. Schließlich haben wir von der Gegend noch kaum etwas gesehen. Die Baikal-Reise ist schon den zweiten Sommer verschoben worden. Im ersten kam das Kind, im zweiten fiel das Schiff aus. Die Herberge auf der Insel hat uns nun solange die Hütte reserviert, bis wir tatsächlich einmal kommen können.

Dort muss es schön sein, die haben offenbar genügend Zeit.

(Der Text entstand im Rahmen einer Tagebuch-Aktion auf jetzt.de.)

Anti-Terror/Baikal

„Wenn sie uns das zeigen, was verheimlichen sie uns dann?“

Posted by Sascha Preiß on

Vom 6. bis 9. Oktober 2010 trafen sich in Irkutsk zehn deutsche und zehn russische Journalisten im Rahmen des Medienforum 2010, um gemeinsam das Thema „Umweltjournalismus in Deutschland und Russland“ zu besprechen. Der Baikalsee mit den vielen dort ansässigen Umweltorganisationen erschien als idealer Ort, sich diesem Thema zu widmen. Auf dem Programm stand auch ein Besuch des umstrittenen Zellulosekraftwerks Baikalsk.

Das Blog des Medienforums veröffentlicht in unregelmäßigen Abständen Artikel deutscher und russischer Journalisten zum Thema. Hervorzuheben ist der Bericht „Der Stoff, aus dem der Zellstoff ist – Ein Besuch in der wieder eröffneten Zelluosefabrik am Baikalsee“ von Diana Laarz, zuerst erschienen in der Moskauer Deutschen Zeitung.

„Ort des Geschehens ist die Zellstofffabrik an der Südspitze des Baikalsees. Genauer gesagt die Kläranlage. Eine Gruppe Menschen balanciert unsicher über vermoderte Holzbrücken, die zwischen die schwimmbadgroßen Wasserbecken  gespannt sind. Knapp sechs Monate nachdem das Werk die Produktion wieder aufgenommen hat, lässt die Geschäftsführung den Schutzschild etwas sinken, öffnet einen Spaltbreit die Tür und lässt Journalisten in ausgewählte Hallen und Bereiche. Wenn man ehrlich ist, sieht es dort meistens schlimmer aus, als man befürchtet hatte.“