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Ästhetik/Kulinarisches

33 Stunden später

Posted by Sascha Preiß on

Gegen 03:45 Uhr war ich zur Überzeugung gelangt, dass es definitiv unmöglich sei, auf mechanischem Weg eine künstliche Intelligenz als Kopie aller Funktionsweisen des menschlichen Gehirns zu erschaffen. Dafür war dieser Nervengewebshaufen im Kopf schlicht zu effektreich.

Wohl gegen 03:15 Uhr war ich in der trockenen Raumluft mit Durst aufgewacht, stand auf, etwas zu trinken, legte mich wieder hin zum Weiterschlafen. Und dann fiel mir die Antwort auf eine Frage von vor 33 Stunden ein. Eine Antwort, die im Fernsehen vielleicht 500.000 Euro wert sein könnte, vollständig belanglos und unnütz: Wie heißt das Sushi, das aus einem fingerdicken Reisblock besteht und mit Fisch, Meeresfrüchten oder Omlette belegt wird (zzgl vier Antwortmöglichkeiten)? Selbstverständlich klang die mir damals gestellte Frage etwas profaner: Wie heißen diese Teile da (zzgl dem Zeigefinger auf die Deko an der Wand)? Dass das Hirn sich 33 Stunden mit derartigem Scheiß beschäftigt, um dann schließlich und unerwartet die Antwort auszuspucken, mitten in die Nacht hinein selbstverständlich, während der Schlafphase plötzlich den Hirnträger mit völlig kontextlosen Wörtern und Erkenntnissen befällt, dass der vom Schlaf abgehalten wird, weil er dieses Stück Geistesblitz irgendwo einsortieren muss, verdammte somnambule Kopfpuzzlelei – das muss man als Hirnforscher und Roboterdesigner erstmal hinkriegen.

Vor 33 Stunden saßen wir in einer kleinen Sushi-Bar, die vom Interieur an Berlin Mitte um 2000 erinnerte. Trocken funktional, Grundfarbe grau, indirektes Licht mit Farbeffekten, erlesen-luftige Speisekarte, das Ganze mehr Design als Charakter. Wenn man gezielt am „Fila-Boom“ vorbei auswählte (Sushi incl. Philadelphia-Frischkäse, sehr eklig, in Irkutsk durchaus häufig), konnte man trotzdem gut essen. Und an der Wand, um den großen Fernseher mit Japan-Werbevideo herum, Plaste-Sushi aus dem Schnick-Schnack-Laden, Lachs, Tunfisch und Krebs. Und ich wusste nicht mehr, wie diese Dinger hießen. Aber mir war das wirklich egal. Doch obwohl wir beim Hinausgehen fanden, dass diese Bar nicht unser beliebtester Laden in der Stadt werden würde, schien sie ausreichend Eindruck hinterlassen zu haben, dass die unbeantwortete Frage in meinem Zentralnervensystem weiter umhergeisterte, „bohrend“. Daran konnten keine wunderbare sowjetische Komödie von 1968, gesehen mit Freunden am gleichen Abend, oder die Zubereitung von Gulasch am folgenden Tag oder stundenlanger Besuch etwas ändern. Und ja, auch beeindruckend wiederum so ein Hirn, ausgeklügelte Effekte wie plötzliches Nicht-Mehr-Wissen, Black-Out und Mir-liegts-auf-der-Zunge, dann aber doch Jetzt-hab-ichs, unerwartetes Erinnern und Geistesblitz, weil irgendwo im Verborgenen und Hintergrundrauschen an irgendwelchen Synapsen still und gemütlich die Transmitter von Axon zu Dendrit wanderten – – – Ich möchte den Roboter sehen, der nachts aufwacht und „Nigiri“ sagt.

(Bildquelle: Wikimedia)

Grenzenlos/Irkutsk

УРА! [UPDATE]

Posted by Sascha Preiß on

Vor Kurzem gab es die Ankündigung, seit heute ist es amtlich: Ab 30. April 2011 wird die russische Fluggesellschaft „Yakutia“ zweimal wöchentlich, mittwochs und samstags, den Direktflug München – Irkutsk betreiben. Die Strecke soll mit einer Boeing 757-200 geflogen werden.  Was das kosten wird, kann man bereits ab Morgen, den 22.12.2010, erfahren, denn dann werden die ersten Tickets angeboten.

Wer also noch kein Weihnachtsgeschenk hat: Wie wärs mit einer Baikal-Reise?

[UPDATE] 24.12.:

Inzwischen ist klar, dass die Flüge in beide Richtungen mittwochs und samstags angeboten werden (15.00 ab München – 5.45 an Irkutsk, Folgetag / 10.00 ab Irkutsk – 11.15 an München, gleicher Tag) und SENSATIONELL für 14.000 Rubel zu haben sind, was beim momentanen Kurs (1:40) gerademal 350 Euro sind! Also: WEITERSAGEN.

Und Fröhliche Weihnachten. 🙂

Das Wetter/Irkutsk/Ulica

Minus Fünfunddreißig Grad

Posted by Sascha Preiß on
Baikal/Fernost/Grenzenlos

Alpen – Baikal

Posted by Sascha Preiß on

Die Gespräche dazu liefen seit einigen Jahren, nun endlich ist die erste offizielle Ankündigung raus: Ab Frühjahr 2011 wird es eine direkte Flugverbindung von München nach Irkutsk geben (bisher war immer nur von Planungen die Rede).  Aufmerksame Russlandkenner wissen, dass so eine Ankündigung nicht unbedingt viel bedeuten muss, aber bleiben wir optimistisch. Für die russische Seite ist die Frage der Beantragung von Schengen-Visa klarerweise von entscheidendem Interesse. Eine deutsche Auslandsvertretung gibt es in Irkutsk nicht. Zwar befindet sich ein polnisches Generalkonsulat in der Stadt, aber auch mit einem polnischen Schengen-Visum kann man nicht direkt über Deutschland in die EU einreisen. Seit Sommer laufen daher die Gespräche zwischen dem deutschen Generalkonsulat im 1600km entfernten Nowosibirsk und dem polnischen GK Irkutsk über die Erteilung deutscher Visa, beide Seiten sind sich einig, dass das Sinn macht und sie zusammenarbeiten wollen. Die deutsche Seite geht von deutlich mehr als tausend Visa aus, die beantragt würden und zu erteilen wären. Die letztendliche Entscheidung über die Visavergabe in Irkutsk haben jedoch das polnische und deutsche Außenministerium in Warschau und Berlin. Wann von dort das OK kommt, war bei meinem letzten Aufenthalt in Nowosibirsk vor einer Woche nicht zu erfahren.
Da sich in Deutschland ausreichend russische Konsulate befinden, etwa auch in München, ist für interessierte deutsche Reisende der Weg an den Baikal relativ offen, abgesehen vom inzwischen dank fehlender Bemühungen des deutschen Außenministers verschärften Antragsprocedere. Ich hoffe inständig, dass die deutsch-polnischen Gespräche besser laufen.

Nun also die Ankündigung für „Frühjahr“. Offen ist, wie häufig die Verbindung angeboten werden soll, mit welcher Fluglinie betrieben wird und was das etwa kosten wird. Die Flugzeit würde vermutlich 7,5h betragen. Bisherige Routen führen sämtlich über Moskau, Reisezeit nach Berlin: 15h, Kosten hin und zurück: rund 600,-. Nur für alle, die fragen, wofür man so einen Flug z.B. braucht: Der Baikal ist Russlands drittgrößtes Tourismusgebiet nach Moskau und St. Petersburg; mit Abstand größte Touristengruppe: Deutsche. Eine Aufwertung Sibiriens als Wirtschaftsregion inclusive. Auch aus russischer Sicht ist eine Direktverbindung aus Ostsibirien nach Westeuropa wichtig, um die wenigen vorhandenen Partnerschaften auszubauen und neue zu schließen. Direktflüge ins Ausland sind von Irkutsk aus bisher nur nach Asien möglich.

Wer jetzt Lust verspürt, ab Frühjahr mal vorbeizufliegen, darf sich ruhig bei mir melden.

Der heilige Felsen auf der Insel Olchon

Interkultur/Irkutsk/Liljana/selbst/Unter Deutschen

Erschöpfungsgrad. Eine kurze Retrospektive

Posted by Sascha Preiß on

Anfangs, als ich Irkutsk zum ersten Mal durch die Scheiben der TU-134 sah, war ich wohl etwas enttäuscht. Ich hatte auf symbolisches Wetter gehofft. Aber es regnete nur. Klima: mangelhaft. Das änderte sich rasch und seither gibt es nichts zu bemängeln.

Wie ist es so in der Stadt? Es lässt sich konsumieren, so viel man möchte, jeden Scheiß, jeden Tag. Ruhetage sind Museen und Behörden vorbehalten, auch die Post arbeitet sonntags. Deutsches Bier, Nutella, Ikea-Kram und iPhones, alles da. Für deutsche Medien gibts schnelles Internet, Bücher schickt Amazon in 10 Tagen, Musik per download. Irgendwo in dieser Stadt, vermute ich, bekommt man wohl auch geröstete Affenärsche. Welcher Mangel?

Reden wir also nicht weiter davon.

Und sonst so? In den vergangenen zweikommafünf Jahren sind mir ein halbes Dutzend Fälle bzw deutsche Personen begegnet, für die Baikaltourismus lebensentscheidend war: und sie kehrten erst verliebt, dann verheiratet und-oder verkindert zurück. Es gibt wohl keinen gradlinigeren Weg, Land und Leute kennenzulernen. Hat man nach Russland geheiratet, umsorgt einen eine enorme Familie. Und die Freunde sowieso. Wenn man nun aber bereits verheiratet ist und als Ausländerpaar nahe des Baikalufers ein Kind in die Welt wirft, dann gibt es wohl keinen gradlinigeren Weg, dass man von Land und Leuten ziemlich in Ruhe gelassen wird. Keiner kommt gratulieren, keiner ruft glückwünschend an oder schickt Blumen: das junge Glück soll sich ungestört erholen. Und da wären wir nun. Zu dritt. Allein.

Die Sache ist: Alle paar Wochen gehen wir uns aus dem Weg oder auf den Geist, mehr Optionen sind da nicht. Allabendlich nach der Arbeit aufeinanderhocken, jeder mit seiner Arbeit beschäftigt und lieber nicht das Kind ins Bett schaukeln. Es fehlt – Zeit. Für uns. Ein Zeitmangel ohne Eile und Hast, sondern ein Mangel an Gemeinsamkeit. Filme haben wir schon monatelang nicht mehr zu zweit gesehen. Der Kinobesuch für dieses Jahr lief so: Samstag sie, Sonntag ich, der andere machte derweil den Hirten. Das letzte Buch, das mir gelang durchzulesen, war Hertha Müller „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“. Für die 120 Seiten benötigte ich 4 Wochen und ich bin mir sicher, nichts mehr davon zu wissen. Meine Frau hat mir neulich Warlam Schalamow „Durch den Schnee – Erzählungen aus Korlyma 1-3“ geschenkt, 1250 Seiten. Ihr unerschütterlicher Optimismus, ein minutiöser Gulag-Bericht als kiloschwere Druchhalteparole. Das gemeinsame Gespräch ist auf symbolische Handlungen reduziert. Weil die Zeit knapp ist. Auf elterliche Unterstützung muss aus geografischen Gründen verzichtet werden. Von den Freunden nicht zu reden, Skype ist kein Ersatz für durchqualmte Kneipenabende. Immerhin haben wir ein Kindermädchen für die Tagesbetreuung, so können wir arbeiten fahren, 30min hin, 60min zurück, Abendstau. Kinderkrippen gibt es keine, Kinderbetreuung in Gruppen so gut wie nicht. Unser Töchterchen sucht Gesellschaft. Sie schaut sich tagtäglich den Schwangerschaftsratgeber von GU an, der hat viele Abbildungen. Wo kleine Kinder zu sehen sind, legt sie ihren Kopf hin und kuschelt mit ihnen. Schnee mag sie nicht so, da steht sie auf der Straße und bewegt sich nicht mehr. Mir wäre der Sinn nach Schneeballschlacht, aber mit wem. Und zu lange bei -15 geht auch nicht: Je tiefer die Temperaturen, umso höher das Schlafbedürfnis. Die Skala zeigt Erschöpfungsgrad an. Inzwischen kann ich locker 12h am Stück durchschlafen. Ich weiß nur nicht wann. Bin ich müde, gehen mir alle gewaltig auf den Geist bzw ich ihnen am liebsten aus dem Weg.

Ach ja, Weihnachten ist auch noch. Meine Frau organisiert einen ganzen Haufen Adventsfeiern. Sie fehlen ihr, weil sie Familie bedeuten. Wärme. Ich kann zu ihrem Unglück darauf verzichten. Unsere Mängel ergänzen sich nicht.

Mit einer Ausnahme: beide wollen wir trotzdem eine Weile hier bleiben. Schließlich haben wir von der Gegend noch kaum etwas gesehen. Die Baikal-Reise ist schon den zweiten Sommer verschoben worden. Im ersten kam das Kind, im zweiten fiel das Schiff aus. Die Herberge auf der Insel hat uns nun solange die Hütte reserviert, bis wir tatsächlich einmal kommen können.

Dort muss es schön sein, die haben offenbar genügend Zeit.

(Der Text entstand im Rahmen einer Tagebuch-Aktion auf jetzt.de.)

Anti-Terror/Baikal

„Wenn sie uns das zeigen, was verheimlichen sie uns dann?“

Posted by Sascha Preiß on

Vom 6. bis 9. Oktober 2010 trafen sich in Irkutsk zehn deutsche und zehn russische Journalisten im Rahmen des Medienforum 2010, um gemeinsam das Thema „Umweltjournalismus in Deutschland und Russland“ zu besprechen. Der Baikalsee mit den vielen dort ansässigen Umweltorganisationen erschien als idealer Ort, sich diesem Thema zu widmen. Auf dem Programm stand auch ein Besuch des umstrittenen Zellulosekraftwerks Baikalsk.

Das Blog des Medienforums veröffentlicht in unregelmäßigen Abständen Artikel deutscher und russischer Journalisten zum Thema. Hervorzuheben ist der Bericht „Der Stoff, aus dem der Zellstoff ist – Ein Besuch in der wieder eröffneten Zelluosefabrik am Baikalsee“ von Diana Laarz, zuerst erschienen in der Moskauer Deutschen Zeitung.

„Ort des Geschehens ist die Zellstofffabrik an der Südspitze des Baikalsees. Genauer gesagt die Kläranlage. Eine Gruppe Menschen balanciert unsicher über vermoderte Holzbrücken, die zwischen die schwimmbadgroßen Wasserbecken  gespannt sind. Knapp sechs Monate nachdem das Werk die Produktion wieder aufgenommen hat, lässt die Geschäftsführung den Schutzschild etwas sinken, öffnet einen Spaltbreit die Tür und lässt Journalisten in ausgewählte Hallen und Bereiche. Wenn man ehrlich ist, sieht es dort meistens schlimmer aus, als man befürchtet hatte.“

Begraben/Statistik

Schöne Blumen in Storkow

Posted by Sascha Preiß on

November. Im Gang zu ihrem Büro steht eine dunkle, gebeugte Gestalt, ein pelziger Mantel, eine Chapka auf den Kopf, älter. Jemand, der sehr augenscheinlich nicht hier hin gehört. Sie geht an ihm vorbei, er schaut sie kaum an, steht und wartet. Eine Kollegin fragt ein paar Minuten später, ob er vielleicht zu ihnen wolle. Ja, antwortet er und schaut auf eine Uhr am Handgelenk, aber er habe einen Termin erst in 25 Minuten. Exakt zur vereinbarten Stunde klopft es an der Tür und Herr Perebojew tritt ein. Aus einem Beutel holt er einen Pralinenkasten und zwei Gläser mit süß eingelegten Preisel- und Heidelbeeren, als Dank für die Fotos vom Friedhof.

März. Eine etwas entfernte Freundin betritt das Büro und fragt sie, ob es ihr möglich wäre, den Vater eines Bekannten zu finden, genauer: dessen Grab. Er habe bei Berlin gekämpft und sei 1945 gefallen, der genaue Namen sei unsicher, L.G. Peredajew wahrscheinlich. Ob es möglich sei, es zu fotografieren, ihr Bekannter könne selbst nicht mehr nach Deutschland reisen. Eine E-Mail an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit Sitz in Kassel gibt unerwartet schnell, innerhalb von zwei Tagen, Auskunft: „Das Grab von Lukian Grigoriewitsch Peredajew, geboren 1906, liegt auf der Kriegsgräberstätte in Stralendorf bei Schwerin / Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland. Endgrablage: Abteilung 1, Block 3, Reihe 18 bzw 19. Primärer Bestattungsort war Rieplos nördlich Storkow / Mark Brandenburg.“ Ein Aktenvermerk, der gründlicher nicht hätte sein können. Sie verspricht ihrer etwas entfernten Freundin, beim nächsten Deutschlandaufenthalt das Stralendorfer Grab aufzusuchen und zu fotografieren.

Juni. Die Suche in Stralendorf bei Schwerin bleibt erfolglos. Es gibt lediglich den ganz normalen Kirchfriedhof, auf dem sich keine Kriegsgräber befinden. Ein Soldatenfriedhof, der zudem in Abteilungen, Blöcke und Reihen unterteilt wäre, ist weder auf der Landkarte eingezeichnet noch den informierten Damen vom kombinierten Post-Blumenladen in der Hauptstraße bekannt. Auch die freundlichen Mitarbeiterinnen vom Verwaltungsamt Stralendorf kennen keinen größeren sowjetischen Friedhof in der Gegend. Immerhin aber haben sie Kenntnis von sechs Gräbern sowjetischer Kriegstoter im Verwaltungsbereich, von denen sogar in einem Aktenordner über den Zustand der verwalteten Friedhöfe Fotografien aufbewahrt werden. L.G. Peredajew ist jedoch nicht darunter. Die Antwort auf die Nachfrage, wohin die Stralendorfer Toten verschwunden sein können, benötigt zwei Wochen: „Dem Friedhof Stralendorf wurden über 300 russ. Kriegstote zugeordnet, die aber dort nicht ruhen können. In der uns vorliegenden Gräberliste von Stralendorf werden 6 Kriegstote nachgewiesen. Es kann sich bei der Liste, die leider kein ‚Deckblatt‘ hat, evtl. um Stralsund handeln. Wir werden versuchen, eine Klärung durchzuführen. Jedoch wird dies einige Monate dauern.“

August. Unmittelbar nach Rückkehr aus Deutschland erhält sie vom Volksbund folgende Information: „Nunmehr können wir Ihnen mitteilen, dass der Genannte auf dem Friedhof der Stadt Storkow (1-3-18) seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Die uns vorliegende Gräberliste war vollkommen falsch zugeordnet und daher versehentlich für Stralendorf erfasst worden. Hier wird noch eine entsprechende Korrektur erfolgen. Wir hoffen, Ihnen gedient zu haben.“ Ob das derart lokalisierte Grab das tatsächlich gesuchte ist, bleibt bis auf Weiteres unklar.

Oktober. Die etwas entfernte Freundin, von der missglückten Suche etwas enttäuscht, fragt, ob es neue Erkenntnisse in der Sache Peredajew gibt und ein Foto des Grabes nicht irgendwie aufgetrieben werden kann. Sie beauftragt daraufhin eine andere Freundin, die in Berlin lebt, einmal ins südöstlich von Berlin liegende Storkow zu fahren und die Ruhestätte zu fotografieren. Nach einigen Wochen sagt die Freundin aus Zeitgründen ab. Sie fragt daher ihre in Westbrandenburg lebende Mutter, ob sie nicht Zeit und Energie für dieses Foto aufbringen könne. Diese sagt nach einigem Zögern, sie lasse ihren schwerkranken Schwiegervater so ungern allein, zu. Am 14.11. fährt die Mutter nach Storkow und sucht zuerst auf dem Stadtfriedhof, dort liegen jedoch keine sowjetischen Kriegstoten. Der gesuchte Friedhof befindet sich zwischen den Gemeinden Storkow und Rieplos. Während einer Gedenkstunde anlässlich des Volkstrauertages versucht die Mutter, die kyrillischen Buchstaben auf den Grabsteinen zu entziffern. Schließlich macht sie einige Bilder eines Massengrabs, auf dem u.a. auch der Name Peredajew aufgeführt ist, allerdings ohne jegliche Vor- und Vatersnamen sowie Geburts- und Todesdaten, was ihn auf der Tafel zu einem von 10 Unbekannten unter 34 Soldaten dieses Grabes macht.

In Russland ist die etwas entfernte Freundin über das Auffinden des Grabes erfreut. Als sie die Bilder sieht, kann sie jedoch ihre Enttäuschung nicht verbergen: „Das wird ihm ganz sicher nicht gefallen, ein Massengrab.“

Wie Herr Perebojew bei der Dozentin im Büro sitzt, sagt er: „Ich hatte ein bisschen gehofft, sie finden etwas anderes. Von dem Massengrab wusste ich doch. Ich war 1976 selbst dort.“ Er hatte sich seither erfolglos eingesetzt, für seinen Vater ein würdiges Einzelgrab zu erlangen. Denn anders als der Grabstein aussagt, ist der Tote nicht unbekannt, zwar ein einfacher Soldat, ja, aber eben nicht unbekannt. Sein Vater, Lukjan Jegorowitsch Perebojew, am 26. September 1906 geboren und in der handschriftlich verfassten Sterbeanzeige vom 6. Mai 1945 Lukjan Georgiewitsch genannt, starb am 25. April 1945 in Berlin, 13 Tage vor der vollständigen Kapitulation Nazideutschlands, im Alter von 38 Jahren. Der Sohn, noch vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zur Welt gekommen, bemühte sich seit den 60er Jahren, das Grab seines Vaters ausfindig zu machen. Im Juli 1973 wurde ihm von der zuständigen Abteilung des Verteidigungsministeriums mitgeteilt, dass sein Vater, L.G. Perebojew, in einem Massengrab auf einem Friedhof im deutschen Storkow begraben liegt. Bei seinem Besuch des Grabes stellte er jedoch fest, dass alle Daten sowie Vor- und Vatersnamen fehlten, zudem der Familienname falsch geschrieben war: Peredajew. Daraufhin traf er sich mit einem in Frankfurt / Oder stationieren Offizier der sowjetischen Armee und bat diesen, ihm bei seinem Bemühen um ein korrekt beschriftetes Einzelgrab zu helfen, da die sowjetischen Behörden kein Interesse daran zeigten. Die Botschaft etwa antwortete ihm auf seine Anfrage, dass sie mehrere tausend Gräber verwalten würde und daher sich nicht um ein einzelnes Grab kümmern könne. Der Offizier versprach ihm, eine korrekt beschriftete Grabplatte zu besorgen. Der Sohn zahlte dafür eine nicht unbedeutende Summe Geldes, es musste an die Grabplatte und die notwendige Umbettung gedacht werden, außerdem eine Aufwandsentschädigung. Der Offizier verlangte zudem, dass beim Umzug seiner Mutter aus Sibirien nach Kiew geholfen und ihm aus Gründen der Heimatsehnsucht nach Frankfurt ein echter sibirischer Samowar geschickt werden sollte. Der Sohn tat alles. Und wusste seither nicht mehr, was mit dem Grab seines Vaters geschehen war. Nach beinah 35 Jahren Wartens hatte er nun auf den Fotografien erkennen müssen, dass absolut nichts geschehen war.

Sie war sich nicht sicher, ob sie aufgrund der Namens- und Ortsverwechslungen nicht ein falsches Grab gefunden hatte. Ob es nicht auf dem Rieplos-Storkower Friedhof doch ein korrekt beschriftetes Einzelgrab gab, das allerdings ihre Mutter, da sie des Kyrillischen kaum mächtig ist, nicht entdeckt hatte. Oder ob es sich um zwei völlig verschiedene Soldaten handelte, die zufällig sehr ähnliche Namen trugen.

Herr Perebojew dankte nach einer halben Stunde Unterhaltung und wandte sich zum Gehen. Auch wenn es nicht das angemessene Grab seines Vaters wäre, er sei ihr für ihre Hilfe dankbar. Und ihrer Mutter, denn die hatte so schöne Blumen gekauft.

Russland/Universität

Pädagogische Maßnahme

Posted by Sascha Preiß on

Ein junger Student im vierten Studienjahr, nennen wir ihn Sergej, hatte sich als au pair nach Deutschland beworben. Die endgültige Zusage ließ ein wenig auf sich warten, sicherheitshalber hat er sich aber auch schon um ein Visum bemüht. Nach der endgültigen Zusage wird er das Visum abholen und dann sofort einen Flug nach Deutschland buchen. Zusätzlich wird er von der Universität zwei Urlaubssemester erbitten.

In der Nacht zum Donnerstag vergangener Woche klingelte sein Handy, ein etwas nervöser Mensch gratulierte ihm in deutscher Sprache. Wofür, fragte Sergej, außerdem ist es 5 Uhr morgens. Der nervöse Mensch in Westeuropa entschuldigte sich, das sei ihm unangenehm, er habe die Zeitverschiebung nach Sibirien nicht bedacht, aber Sergej könne ab 01.12.2010 als au pair in einem Kinderheim in Jena anfangen.

Ein euphorischer junger Student stürmte zur Universität, ins Dekanat der Fakultät für deutsche Sprache, an der er studiert, um dort alles für ein Akademisches Jahr bzw 2 Urlaubssemester vorzubereiten. Die Dekanin erklärte, dass dazu ein Antrag notwendig sei inclusive Zeugnisskopien und ausführlicher Begründung. Freitag morgen eilte unser junger Student erneut ins Dekanat, um den fertigen Antrag abzugeben. Dort erfuhr er von der Dekanin, dass für die Beantragung eines Akademischen Jahres inzwischen neue Gesetze vorlägen. Darin sei eine Bestimmung enthalten, welche vorsieht, dass nur diejenigen Studierenden, die in sämtlichen Fächern ein „ausgezeichnet“ vorweisen können, überhaupt antragsberechtigt sind. Das, wie sie aus seinen Unterlagen entnehmen könne, träfe auf ihn jedoch nicht zu.

Wie es dem jungen Mann gelungen ist, wissen wir nicht, doch am darauf folgenden Montag hatte er in seiner eigenen Angelegenheit einen Gesprächstermin mit dem Rektor der Universität vereinbart. Entsprechend nervös verließ er den laufenden Unterricht, die gesamte Studienklasse sah ihm fiebrig die Daumen drückend nach. Einige Minuten später kehrte er jedoch sehr geknickt zurück. Der Rektor habe ihm versichert, berichtete er traurig, dass ein au pair-Aufenthalt in Deutschland kein hinreichender Grund für ein Akademisches Jahr sei, selbst für einen Studenten der deutschen Sprache nicht. Er habe ihm daher den einzig möglichen Weg angeboten: sich vollständig von der Universität exmatrikulieren zu lassen und nach Rückkehr das Studium von vorne zu beginnen.

Vier Jahre Lebenszeit standen nun auf dem Spiel, verloren zu gehen. In ökonomischen Werten für die Universität ausgedrückt: 116.000 Rubel Mehreinnahmen, denn 29.000 Rubel / rund 700 kostet ein Jahr Deutschstudium an dieser Universität. Oder aber die Chance auf ein Jahr in Deutschland verstreichen zu lassen.

Die Dozentin bot dem hoffnungslosen Studenten ihre Hilfe an, so gut sie könne. Nach dem Unterricht klopfte sie am Dekanatsbüro und fragte ihre Vorgesetzte, wie es um die Sache ihres Studenten Sergej denn nun bestellt sei und was man tun könne. Die Dekanin erwiderte ihre Frage mit einem außerordentlich breiten Lächeln, nicht ohne Arroganz. Der Student Sergej habe nun einmal keine besonders guten Noten in der Fremdsprache Englisch. Ob das denn für ein au pair-Jahr in Deutschland denn eine Rolle spiele, wollte die Dozentin wissen. Eine grundsätzliche, antwortete die Dekanin. Aber die Kollegin solle sich wirklich keine Sorgen machen, schließlich wisse sie doch, wie man hier solche Fälle verhandelt. Und die Freundlichkeit der Dekanin wuchs mit jedem Wort. Selbstverständlich wird er sein Akademisches Jahr zugesprochen bekommen. Die Universität wollte sich aus guten Gründen ein Bild von ihm machen und nachforschen, warum er nicht vorbildlich lerne. Das sei als pädagogische Maßnahme zu verstehen. Schon morgen wird Sergej ein zweites Treffen beim Rektor haben.

Die Dozentin unterließ es, den jungen Studenten davon in Kenntnis zu setzen.

Anti-Terror/Irkutsk/Russland/Statistik/Ulica

Die Verschiebung des Baikal

Posted by Sascha Preiß on

Aus den Nachrichten der letzten Tage sticht eine besonders hervor: Der Baikal könnte im kommenden Jahr ein bisschen näher an Europa heranrücken, vielleicht aber auch nur sein östliches Ufer. Grund ist kein geografisches Wunder, sondern lediglich ein paar Entscheidungen mancher Parlamente, etwa des Irkutsker Gebietes, und der letztlichen Genehmigung des Regierungschefs Putin. Dem liegt nämlich ein Vorschlag aus Irkutsk vor, das Irkutsker Gebiet am westlichen Baikalufer um eine Zeitzone in eben den Westen zu verschieben. Man würde dann den Zeitunterschied zu Moskau auf 4 Stunden verringern können, was eine Reihe Arbeitserleichterungen insbesondere mit der russischen Hauptstadt zur Folge hätte. Der Vorschlag knüpft an die Zeitzonenreform des Präsidenten an, nach der mit Beginn der Sommerzeit 2010 die russischen Zonen von 11 auf 9 reduziert wurden. Dass von vielen Seiten eine noch radikalere Zeitkur für möglich gehalten wird, scheint nun auch Irkutsk zu einem geänderten Zeitplan getrieben zu haben. Denn ganz freiwillig ist der Vorschlag nicht entstanden.

Eine überaus radikale Zeitkur wurde am Ostufer des Baikal, in der Republik Burjatien, angeregt, in der normalerweise die Uhren gleich wie am Westbaikal ticken. Eine Abstimmung des burjatischen Nationalparlamentes in Ulan-Ude hätte aber zu einer paradoxen Situation geführt: Während das östliche Burjatien im März 2011 auf die Sommerzeitumstellung verzichten und somit eine Stunde an Moskau heranrücken würde, hätte das westliche Irkutsker Gebiet seine Zeitzone beibehalten – und der wohl einmalige Fall einer entgegengesetzten Zeitverschiebung innerhalb eines Landes wäre eingetreten. Damit selbst in Russland nicht alles möglich ist, kam nun die Gebietsverwaltung Irkutsk dem zu erwartenden Zeitparadox zuvor. Eigentlich ein bisschen schade.

Eine Moskauer Entscheidung über die Verschiebung des Baikal steht bislang aus.

Russland/Sprache

Auf der Weihnachtsfeier

Posted by Sascha Preiß on

Die Weihnachtsfeier wurde begleitet von einem umfangreichen Kulturprogramm. Schüler, Studenten und Lehrer verschiedener Schulen und Universitäten der Stadt, die sich auf irgendeine Weise mit Deutsch beschäftigten, waren gekommen und präsentierten ihre Fähigkeiten in der Fremdsprache. Die Darbietungen waren bunt gemischt, Gedichtvorträge, Tanzeinlagen, Theateraufführungen, Gesang, und  hatten insgesamt Varieté-Charakter. Der Ablaufplan sah vor, dass der etwa 10jährige Junge, Schüler der vierten Klasse, in der zweiten Hälfte des Abends sein Gedicht vortragen sollte. Nach über einer Stunde Wartens und Zuschauens, gestiegener Nervosität und Erregung vor so viel Publikum, überhörte er den Aufruf seines Namens. Seine etwa 40 Jahre alte Lehrerin schob ihn ermunternd und bestimmt aus der Bankreihe, in den Empfangsapplaus, den sie genoss. Der Junge trat auf die kleine Bühne, blickte in den stiller werdenden Saal, den Zettel mit dem Gedicht schwitzig zerknüllt in seinen Händen. Dann formulierte er stotternd den Titel und ein wenig der ersten Zeile, mechanisch, undeutlich, leise, gesenkten Blickes. Die Lehrerin an ihrem Platz formte mit den Lippen überdeutlich den Gedichttext, machte weite, unterstützende Handbewegungen im Metrum der Verse. Der Junge bemerkte die pädagogischen Gesten nicht. Er stolperte durch die Silben, die sich ihm als Anhäufung bedeutungsloser Geräusche darboten. Vertauschte Vokale, Konsonanten, wiederholte sich korrigierend, verwirrte sich erneut. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was er da aufsagte. Hilfesuchend blickte er den Zettel an, fand sich noch immer am Anfang einer lyrischen Odyssee durch einen immer endloser werdenden Text. Blickte auf, der gesamte Saal bedachte ihn mit Aufmerksamkeit. Die Lehrerin rief ihm etwas zu. Er begann die erste Strophe erneut, brachte unzusammenhängende Laute hervor, in die sich Panik und Verzweiflung mischten. Er hatte zugestimmt, mit seiner Lehrerin, die ihn als besten Schüler seiner Klasse für den Auftritt erwählt hatte, das Gedicht auswendig zu lernen und vorzutragen. Während ihm die Worte zu bloßen Geräuschen zerfielen, ahnte er kaum, wie sehr sie sich öffentliche Anerkennung für ihre Arbeit wünschte. Als er wegrannte, weinte er bereits. Den Rest des Programms erlebte er im Nebenraum in den Armen der Lehrerin, die am schluchzenden Körper sich selbst zu trösten versuchte.