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Anti-Terror/Unter Deutschen

Einfach den Finger draufhalten

Posted by Sascha Preiß on

Heute erhielt ich aus Nowosibirsk die Information, die an alle potentiellen Stipendiaten weitergegeben werden soll, dass sich in Kürze die Visabeantragung nach Deutschland für Bürger der Russischen Föderation grundlegend ändern wird. Die zwei wichtigsten Punkte sind:

1. Vor allem für Personen, die aus entfernteren Regionen nach Deutschland reisen möchten, wird die Antragstellung [durch die Ausgliederung der Annahme von Visaanträgen] einfacher, weil im Bereich der kurzen Aufenthalte bis 3 Monate die persönliche Vorsprache in Nowosibirsk wegfällt. […]

2. Ab dem 1. Februar werden […] für nationale Visa, also Aufenthalte über 3 Monate, die Fingerabdrücke der Antragsteller erfasst. Da diese Erfassung ausnahmslos erfolgen muss, kann das Generalkonsulat die bisher eingeräumten Erleichterungen für Stipendiaten leider nicht mehr gewähren. Sie müssen in Zukunft persönlich im Generalkonsulat erscheinen. Die Bearbeitungszeit für Anträge wird sich dadurch jedoch nicht verlängern.

Bedeutet: Für ein Visum bis maximal 3 Monaten Aufenthalt in Deutschland („Schengen-Visum“) kann man den Antrag per Post in Nowosibirsk einreichen. (Und es steht zu hoffen, dass man das Visum dann auch auf dem Postweg zurück erhält.) Alle längerfristigen nationalen Visa sind nur mit umfangreichen biometrischen Daten gültig. Ausnahmen von dieser Regel wird es nur in sehr wenigen Fällen geben, wie etwa auf der Webseite der Deutschen Botschaft in Tripolis / Libyen zu lesen ist (wobei die konkreten Ausnahmeregelungen für Russland noch nicht bekannt sind, aber allzu stark werden sie nicht abweichen).

Im Klartext: Jetzt darf jeder Russe, der mehr als 3 Monate nach Europa fährt und sonst noch nicht im Knast war, endlich auch das Verbrecherstempelkissen anfassen. Einfach den Finger draufhalten, und Europa öffnet sich.

Hintergrund dieser Neuregelung sind das in der europäischen Öffentlichkeit eher unbekannte Visa-Informationssystem VIS, und das Schengen-Informationssystem SIS. Beides sind Regelungen der Europäischen Union zur Vereinheitlichung der europäischen Visapolitik, die bereits seit 26. März 1995 (SIS) bzw 11. Oktober 2011 (VIS) in Kraft sind. Während das VIS die Visa-Vergabe in die EU und den Schengen-Raum vereinfachen soll, sind doch beide Systeme miteinander verknüpft: Denn das SIS ist ein Schengen-weites polizeiliches Fahndungssystem, und das VIS setzt auf das SIS auf, denn es soll vor Visa-Missbrauch schützen, „illegale Migration“ entdecken und „Bedrohungen der inneren Sicherheit der Mitgliedsstaaten“ verhindern. Damit sind SIS und VIS inhaltlich nicht nur verwandt – tatsächlich ist es ein einziges System zur Beobachtung und Kontrolle der EU-Außen- und Binnengrenzen.

Bei SIS und VIS handelt es sich um mehrere aufeinander bezogene Datenbanken, wobei die zentralen Datenbanken in Straßburg / Frankreich angelegt sind. Da das VIS vorrangig an den biometrischen Daten und Fingerabdrücke der in den Schengenraum Einreisenden interessiert ist, gibt es für die Fingerabdrücke eine eigene Datenbank: EURODAC. In ihr werden sämtliche Fingerabdrücke und weitere Daten aller Asylbewerber und sog. Drittausländer, die mind. 14 Jahre alt sind, aufgenommen. Beide Systemen, das ältere SIS und das jüngere VIS, sind immer wieder und sehr deutlich kritisiert worden. Insbesondere der mangelnde Datenschutz und die wenig aussagekräftigen Formulierungen zum Schutz von Persönlichkeitsrechten der erfassten Personen sind hierbei zu nennen. Denn erstens haben sehr viele Behörden und damit Personen Zugriff auf diese Datenbanken (Visumsbehörden, Asylbehörden, Einwanderungsbehörden, Europol, nationale Sicherheitsbehörden), zweitens ist die Abfragebegründung außerordentlich schwammig gehalten (Zugriffe werden gestattet bei Erwartung eines „wesentlichen Beitrags“ zur Arbeit der Sicherheitsbehörden), und drittens gibt es keinerlei rechtliche Grundlage, auf der „sich ein Visa-Reisender über die Abfrage seiner Daten und deren Weiterverarbeitung informieren kann“. Der Europäische Datenschutzbeauftrage Peter Hustinx nennt in seiner ausführlichen Kritik am VIS dieses „die größte grenzüberschreitende Datenbank Europas“ – erhoben werden pro Jahr bis zu 20 Mio Datensätze. Die unabhängige Plattform von Medienorganisationen und Journalisten indymedia.org nennt SIS und VIS und weitere Datenerfassungen durch die Europäische Union das „panoptische Gedächtnis der Festung Europa“ – wobei sich die „Festung Europa“ als Politik- und Wirtschaftsraum nicht nur an der Grenzgestaltung USA-Mexico orientiert.

Mit der nun angekündigten nächsten Stufe des VIS (begonnen im Oktober 2011 für Nordafrika, nachfolgend Naher Osten und Golf-Region, zudem Ostasien) und der Ausweitung der Datensammlung auf Russland, geraten damit also vorerst alle längerfristig nach Deutschland Einreisenden der Russischen Föderation in den Blick der Sicherheitsbehörden und werden polizeilich relevant erfasst. Und weil das natürlich nicht ausreicht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Erfassung in einigen Jahren auf sämtliche Visaanträge ausgedehnt.

Soviel also zur albernen Hoffnung eines visafreien Reiseverkehrs zwischen Russland und der EU.

Falls sich nun aber irgendwelche rundum abgesicherten EU-Bürger zurücklehnen sollten, weil sie das ja alles nicht betrifft und nur der Sicherheit dient: Laden Sie mal ein paar Freunde aus dem visapflichtigen Ausland ein – und schon sind sie in einer „Visa-Warndatei“ drin. Sicher ist sicher: so einfach handelt man sich den Friedensnobelpreis ein.

Und ganz ehrlich: Verglichen mit Europa stellt sich Russland bei seinen Migrationserfassungsmethoden und Grenzsicherungen (Migrationskarte, Registrierung, FSB) wirklich dilettantisch an.

Anatol/Liljana/Unter Deutschen

Der 800€-Pass oder Wie man ein mit Formularen und Anträgen erfülltes Leben führen kann

Posted by Sascha Preiß on

Auch nach Anatols Geburt haben, wie schon bei Lili, wieder jede Menge Freunde, Kollegen, Verwandte und allgemein Interessierte gefragt, ob denn unsere Kinder auch die russische Staatsbürgerschaft hätten oder bekommen würden oder beantragen könnten, sie seien doch beide in Russland zur Welt gekommen. Letzteres ist eindeutig unstrittig, doch sowohl Russland als auch Deutschland sind nicht als Staaten bekannt, die allzu freigiebig mit der Vergabe ihrer staatlichen Zugehörigkeit umgehen. Während das in Deutschland seit 1914 geltende und erst 2000 reformierte Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz inzwischen das Konzept doppelte Staatsbürgerschaft kennt, spielt dieses in Russland keine Rolle. Grundsätzlich gilt für beide Länder das Abstammungsprinzip, bedeutet: Es ist unerheblich, wo jemand geboren wird, sondern welchen Pass die Eltern, vorrangig die Mutter hat. (Mit der Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland wurde das Geburtsortsprinzip für in Deutschland Geborene wieder eingeführt.) Für uns Migranten gilt daher: Biologie kommt vor Geografie, und weil wir beide deutsche Staatsbürger sind, sind es in jedem Fall auch unsere Kinder und das russische Recht sieht das absolut genauso.

Viele Fragenden nehmen das mit einer gewissen Enttäuschung zur Kenntnis, eine doppelte Staatsbürgerschaft wäre doch etwas Interessantes gewesen und beantragen lässt sich so nur noch ein Wechsel, aber wozu das. Meinen russischen Kollegen ist dieser rechtliche Quark aber schon lange egal, Hauptsache gesund und munter und gültig ist sowieso nur das gefühlte Geburtsortsprinzip: Unsere Kleinen sind schließlich „echte Sibiriaken“ – und wenn sie das sagen, mit einem sehr großen Lächeln, klingt es wie eine ganz besondere Ehre…..

Um nun aber sich durchs russische Riesenreich bewegen zu können, benötigt man ein gültiges Staatsbürgerdokument. Innerhalb Russlands genügt im ersten Jahr die offizielle Geburtsurkunde. Die zu bekommen ist gar nicht so schwierig, man nimmt die weißen, grünen und rosa Zertifikate, die man bei der Entlassung aus der Geburtsklinik bekommen hat (oder auch zwei-drei Wochen später, wann sie eben fertig sind), geht zu dem Einwohnermeldeamt, das für den Stadtbezirk zuständig ist, in welchem das Kind geboren wurde, und erhält innerhalb von 1-2 Stunden die grüne Svidetel’stvo o Rozhdenii, nur echt mit rundem Stempel. So einfach kann russische Bürokratie sein, hätte jetzt auch niemand erwartet, oder? Aber ach, für eine Reise außer Landes, etwa zu Oma & Opa, braucht das Kind einen Pass. Und das geht so:

Weil wir als gute Arbeitsmigranten über keinen eigenen Wohnsitz mehr in Deutschland verfügen und daher ins Ausland abgemeldet sind, ist die in allen administrativen Fragen für uns zuständige deutsche Behörde das Generalkonsulat Nowosibirsk. Es wird zur allgemeinen Beeindruckung immer wieder hinzugefügt, dass dieses Konsulat dasjenige mit dem weltweit größten Amtsbezirk ist, nämlich vom Omsker Gebiet bis nach Wladiwostok bzw nach Kamtschatka und zur Beringstraße. (Sollten Sie mit diesen geografischen Angaben überfordert sein, schauen Sie einfach selbst in den Atlas, ich habe jetzt wirklich keine Lust, zu recherchieren und einzeln zu verlinken, wo das alles so liegt.) Rechtlich ist es so, dass jede passausstellende Behörde Deutschlands zur Passbeantragung den Antragssteller persönlich sehen muss, bei Kindern die beiden Eltern dazu. Es entstand folgende Situation: Anatol wurde am 21. März geboren, Frühlingsanfang, Internationaler Tag des Waldes, Welttag der Poesie und Welt-Down-Syndrom-Tag. Am 28. Juni lief Jennys Visum ab, das nach unserem Kenntnisstand nicht um ein weiteres Jahr verlängert werden und daher in Berlin mit Einladung der Universität neu beantragt werden musste. Da uns nicht allzu viel Zeit blieb, buchte ich einen Flug für den 28.06. nach Berlin und am 18.08. zurück nach Irkutsk, im Büro der Airline hieß es, die Nachbuchung des Kleinkindes mit dem Reisepass ist problemlos gegen geringe Gebühr möglich. Aber so einen Pass erstmal haben: Wenn Antragssteller und Eltern in Nowosibirsk erscheinen müssen, bedeutete das eine innerrussische Reise von 2×34 Zugstunden oder 2×1600 Flugkilometer für 4 Personen, denn Lili würden wir selbstverständlich mitnehmen müssen – alles in allem eine wenig angenehme Fahrt, die sich aufgrund der schlechten und teuren innerrussischen Flugverbindungen, die sich preislich bei 500,- € hin-und-zurück pro Erwachsenem und ähnlich auch bei der Bahn bewegen, zzgl Hotelübernachtungen auf mindestens 4 Tage und etwa 1500-2000 € erstrecken würde – für einen Kinderreisepass von max. 6 Jahren Gültigkeit. Unsere Anfrage ans Generalkonsulat um Erleichterung der Prozedur, bei der Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis stünden, schließlich wären wir jahrelang in Russland tätige Kulturmittler und daher auch einigermaßen offiziell und bei Lili vor drei Jahren konnte auf ihr persönliches Erscheinen auch verzichtet werden, wurde abschlägig beschieden, so seien die Regeln und die gelten eben auch für alle. Dass die Existenz des Kindes, wie aus den 38-seitigen Richtlinien zur Passbeantragung, die uns der zuständige Mitarbeiter des GK mitschickte, von einem vor Ort lebenden Deutschen offiziell bestätigt werden oder gar ein Konsulatsmitarbeiter selbst anreisen und nach dem Kinde schauen könnte, wurde großzügig ignoriert. Die Sache verkomplizierte sich im Mai, als Jenny in die Notaufnahme musste, da Hebammen, Chefärztinnen und sonstige Würdenträger unserer Geburtsklinik irgendwie die gesamte Nachgeburt übersehen hatten. Die eigentlich schon geplante Nowosibirsk-Reise, terminlich bestätigt aber aus allzu großem Widerwillen noch nicht gebucht, musste also abgesagt werden. Die Ärzte verordneten Jenny und Anatol umfangreiche Bettruhe und Vermeidung von Reisestrapazen, was der zuständige Konsulatsmitarbeiter am Telefon damit kommentierte, er verstünde nicht, wieso Frau und Kind derzeit nicht reisen könnten, einen Monat später, wenn das Visum abläuft, dann aber doch. Auf ein, und sei es nur aus rein formalen Gründen in den Hörer oder in eine Mail gerotztes „Gute Besserung“ wartete man ebenso vergebens, wie zuvor nicht auch nur der Hauch einer Andeutung von „Herzlichen Glückwunsch zur Geburt“ o.ä. zu vernehmen gewesen war. Es handelt sich ja um eine Behörde. Das Kind hatte für einen voll gültigen Reisepass zu erscheinen, oder aber, wenn nur ich ihn mit entsprechenden Vollmachten meiner Frau und Attesten der Ärzte ausgestattet allein beantragen würde, könne der Pass maximal ein Jahr gültig sein, dies würde auch eine Anfrage an die „Zentrale“ in Berlin in unserem Fall ergeben haben, obwohl die nur antworteten, Ausstellungsprocedere und Passdauer lägen im Ermessen des Konsulates. Und es ermaß strikt. Selbst der direkt angeschriebene Konsul, dem ein Kollege in Nowosibirsk persönlich auf unsere Bitte hin den Fall zur Unterstützung vortrug und mündlich auch entsprechendes formuliert zu haben schien, schwieg sich auf unsere dreifache Anfrage bzw Bitte um Prozedurerleichterung hin aus. Lieber kommentierte er eine Mail bezüglich der Visaanträge von Studierenden mit den Worten: „A lack of planing on your side does not contribute an emergency on our side.“ Ich kann Ihnen heute wirklich nicht mehr sagen, warum wir diesen ziemlich arroganten Satz als sehr persönliche Unverschämtheit empfanden, formuliert von einer Person, die sich sonst Würde anmaßt. Als ich schließlich allein mit jeder Menge Papier, beglaubigt, übersetzt, mit Apostille versehen und ebenfalls beglaubigt und übersetzt etc, in Nowosibirsk aufschlug, war selbstverständlich von den mit unserem „Vorgang“ beschäftigten männlichen Mitarbeitern bzw Leitern des Konsulates und deren zuständigen Abteilungen niemand sichtbar. Den Papa im direkten Sicht- und Gesprächskontakt ein bisschen beruhigen durften die stets freundlichen weiblichen Konsulatsmitarbeiterinnen.

Und so erhielt ich innerhalb von vier Stunden einen Pass, der mit Antragsgebühren, Flug- und Hotelkosten und Gebühren für Übersetzungen und Beglaubigungen 800,- € gekostet hat, nur ein Jahr gültig ist und also nächstes Jahr neu beantragt hätte werden müssen, selbstverständlich nur mit versammelter Familie vor dem Schalter und 2000 € Reisegeld. Schwierigkeit dabei: Um wieder nach Russland einreisen zu können, musste ich für Anatol ein Visum in Berlin beantragen, das an mein ebenfalls neu zu beantragendes Arbeitsvisum gekoppelt ist – wobei diese Arbeitsvisa für ein Jahr gültig sind, aber erst einmal nur für 3 Monate vergeben werden, um sie dann in Russland verlängern zu lassen. Spätestens diese Verlängerung aber hätte Tolja nicht mehr bekommen, denn der Reisepass muss mindestens noch 6 Monate nach Ablauf des Visums gültig sein, so dass wir spätestens im Oktober einen neuen Pass hätten beantragen müssen, und ich weiß nicht, ob Arbeitsvisa und ihre Verlängerungen von einem auf den anderen Pass übertragbar sein können, oder ob wir nicht mit dem neuen Pass gleich nochmal in Berlin ein neues Visum hätten beantragen dürfen.

Sind Sie noch dran?

Hier: So sah der schöne teure Pass aus. Denn die Lösung, mehrfach angeboten von der freundlichen Mitarbeiterin des Konsulates, die meinen Antrag vor meinen Augen bearbeitete, geht so: Jede deutsche Passbehörde in Deutschland kann uns einen Pass ausstellen, wenn sie einen Ermächtigungsantrag an die für uns zuständige Behörde (Nowosibirsk) stellt. Die Mitarbeiterin des Bürgeramtes der Stadt Brandenburg an der Havel wusste darum und tat das, und nach zwei Wochen, in denen die Brandenburger Kollegin schriftlich Nowosibirsk glaubhaft versichern musste, dass wir auch wirklich als komplette Familie bei ihr vorsprechen und nicht wieder so krumme Dinger drehen mit Vollmacht etc, konnte sie uns nun also einen 6jährigen Reisepass für Tolja ausstellen und den alten, teuren, ungültig machen. (Und weil wir schon dabei waren, haben wir gleich noch einen neuen für Lili mit dazu genommen, denn mit drei Jahren sah sie ihrem alten Passbild von 4 Monaten nicht mehr wirklich ähnlich.)

Aber soweit waren wir eigentlich noch gar nicht, denn ich befand mich immer noch irgendwo in Sibirien. Zwar hatte ich nun, Anfang Juni, einen Pass für Tolja, aber so einfach kommt man damit nicht aus Russland raus. Man braucht weiterhin ein gültiges Ausreiseticket und, das wichtigste, ein Transitvisum. Letzteres ist eine russische Spezialität: Jeder Ausländer, der Russland betritt, muss eine Migrationskarte ausfüllen, doppelt (seit diesem Sommer wird das nicht mehr per Hand im Flugzeug gemacht, sondern die Passbeamtin übernimmt das per Computer, sehr angenehm), eine Hälfte behält die Passkontrolle bei der Einreise, die andere muss bis zur Ausreise aufbewahrt werden und wird bei der Passkontrolle abgegeben – es ist eines der wichtigsten Dokumente, über die man als Ausländer in Russland verfügen kann. Tolja nun aber, gebürtiger Ausländer, war ja selbst nie nach Russland eingereist, woher sollte er also seine Migrationskarte haben? Für solche Fälle gibt es das Transitvisum, das spätestens 10 Arbeitstage vor Ausreise bei der Migrationsbehörde beantragt werden muss, das ist ein grünes Papier, kostet 200,- Rubel und drei schwarz-weiß-Passfotos. Man braucht lediglich einen Pass (vorhanden) und das Ausreiseticket.

Und damit kommt endlich Herr Wowereit ins Spiel. Genauer: die Sache mit dem Flughafen. Ich hatte ja damals, im April, Flugtickets gebucht, hin und zurück. Und jetzt wollte ich eben den kleinen Tolja mit dazubuchen. Das ging aber nicht so ohne Weiteres, weil auf den Tickets das Ziel BER vermerkt war, inzwischen hatte sich aber herausgestellt, dass BER auf unabsehbare Zeit nicht existieren würde, was ich einfach mal pauschal dem Berliner Bürgermeister zur Last lege. Und wegen ihm verbrachte ich einige Stunden und Akkufüllungen am Mobiltelefon in sehr ausführlichen Gesprächen mit der Moskauer Zentrale der Fluggesellschaft, über die die Flüge gebucht waren – und jeder neue Mitarbeiter hat klarerweise keine Ahnung von meinem Problem und ich darf alles von vorne erzählen. Aber ich bin doch nachhaltig beeindruckt und möchte den Kolleginnen dort auch einmal wirklich danken, dass innerhalb von zwei Tagen doch alles ganz wunderbar funktioniert hat und ich nur meine Kreditkartendaten am Telefon aufsagen brauchte, um für ca 75,- Euro ein Ticket für unser Söhnchen zu kaufen, mit dem auch fristgerecht das Transitvisum beantragt werden konnte – kurz: Alles war bis dahin gut.

In Deutschland dann stand fast als allererstes der Besuch beim Brandenburger Bürgeramt an zwecks Passneubeantragung, wie erwähnt. Denn so der Ablaufplan für den Sommer: Die neuen Pässe bzw ein Foto von ihnen mussten dann nach Irkutsk an meine Uni, damit diese Einladungen ausstellen kann, die von der Migrationsbehörde in Kopie an das russische Konsulat in Berlin geschickt werden, wo ich die Visa beantragen wollte. Die Einladungen sollten per Kurier – wir hatten es bereits nach Mitte Juli, etwa eine Woche Postversand, dazu noch 14 Tage Visabearbeitung im russ. Konsulat, unser Rückflugtermin Mitte August war noch nicht in großer Gefahr – nach Brandenburg geschickt werden, allerdings macht das Leben ja nur halb so viel Freude, wenn alles nach Plan läuft. Also vergaß ich eine Kontakttelefonnummer anzugeben, ohne die kein Kurier verschickt. Das bemerkte ich erst zwei Wochen später, weshalb sich der Versand doch sehr verzögerte und eine Umbuchung des Rückfluges drohte. Anfang August wurde per Mail zwar der vorhandene Rückflug bestätigt, aber das war vorerst unwichtig. Schließlich trafen die Einladungen doch zu spät für eine rechtzeitige Visabeantragung ein, und ich rief erneut die Moskauer Zentrale an bzw versuchte mein Glück erst einmal in einem Kontaktbüro in Berlin, das auf der Website der Airline angegeben ist. Eine freundliche Frau meldete sich, wollte partout nicht auf deutsch mit mir reden und auf die Schilderung meines Problems der späten Einladungen und Flugumbuchung erklärte sie mir Einzelheiten des Visaantragsverfahrens im russischen Konsulat Berlin. Denn dort arbeitete sie und nicht im Büro der Airline, diese habe nämlich falsche Kontaktdaten auf der Website angegeben, doch die richtigen wusste die Frau am Telefon auch nicht. Also probierte ich das Büro in Frankfurt. Das immerhin hatte die richtige Nummer aufgeschrieben, aber helfen konnte mir der Mitarbeiter dort auch nicht, denn die Tickets hatte ich ja in Russland und zudem im Internet gekauft, da bleibe mir nur die Moskauer Zentrale. Außerdem sehe er gerade, dass unsere Rückflugtickets storniert seien, am 9.August. Das war der Tag, an dem ich schriftlich die Flugbestätigungen erhalten hatte. Den Grund für die Stornierung konnte er nicht nennen, ich müsse mich für alle weiteren Fragen ohnehin, sowieso, wie gesagt. Also tat ich das. Und wieder einmal war ich schwer von dieser Moskauer Zentrale beeindruckt, denn innerhalb von einer halben Stunde hatte ich die aus unbekannten Gründen stornierten Tickets wiederbelebt, dazu eine neue Buchungsnummer, mit der ich nach Erhalt der Visa die neuen Tickets buchen könne. Die Visa selbst bekam ich innerhalb von zwei Tagen, zwei Wochen hätte es gedauert, wenn ich voll gültige Jahresvisa mit Mehrfacheinreise beantragt hätte. Ich fragte nicht nach; der Mitarbeiter im vergangenen Jahr hatte behauptet, diese Jahresvisa würden überhaupt nicht ausgestellt, nachdem er eben jene ein weiteres Jahr zuvor selbst bereits ausgestellt hatte…. Egal. Die Visa waren da, jetzt umbuchen. Und auch das ging wieder ganz problemlos per Anruf nach Moskau. Für die Bezahlung wurde ich unter meiner deutsche Nummer angerufen, zuerst für die eigentliche Gebühr, dann noch einmal, weil 37,- Rubel (80 Cent) für Anatols Ticket in der ersten Rechnung vergessen worden waren. Und am Nachmittag hatte ich neue Flugtickets. Und es war ein verdammtes Glück: Selbst wenn die Einladungen rechtzeitig gekommen wären, hätten wir doch am 18. August ziemlich blöd im Flughafen rumgestanden, weil die alten Flüge noch mit den alten Pässen der Kinder gebucht waren, und mit den neuen hätten wir dann einfach nicht fliegen können.

So aber hatten wir diese ganze Reisescheiße noch ziemlich gut überstanden, Pässe, Visa und Flugtickets. Und zwischendrin gab es dann auch mal Momente, an denen Formulare und Konsulate keine Rolle spielten. Und das ist es doch allemal wert.

UPDATE 28.04.2020

8 Jahre später (!) hat der Flughafen BER nun endlich seine Baufreigabe und kann mit dem Probebetrieb beginnen, evtl sogar Ende Oktober regulär eingeweiht werden. Beeindruckende Ingenieursleistung.

Baikal/Unter Deutschen

Geografie und Skandal

Posted by Sascha Preiß on

Hin und wieder kommt es vor, dass mich bei Studierenden der deutschen Sprache die geografischen Kenntnisse über das Land ihrer Fremdsprache und was so drumherum ist interessieren. Sehr oft treffe ich hierbei auf ein ziemliches Defizit, die räumliche Vorstellung über die mitteleuropäischen Verhältnisse ist angesichts der enormen Größe des eigenen Landes bei vielen leider wenig ausgeprägt. Na und, was weiß man denn in Deutschland schon über Sibirien?, fragen manche Deutschstudenten dann trotzig zurück. Ja, was kann man da schon wissen. Wenn selbst jahrelang in Russland lebende Deutsche über den eigentlich berühmten Baikalsee und seine Umgebung außergewöhnlich wenig wissen.

Am 25. April 2012 ereignete sich am Fluss Angara ca. 200km westlich des Baikals eine der größten ökologischen Tragödien der vergangenen Jahrzehnte im Irkutsker Gebiet: Aus anfangs unbekannter Ursache wurden mehr als 300 Tonnen Schweröl in den Fluss in Höhe der Stadt Tscheremchowo eingeleitet. Ein Ölteppich von etwa 10km Länge bildete sich auf dem Fluss. Mit chinesischer Hilfe und Aktivkohle wird bis heute versucht, die unmittelbaren Folgen erst einmal für die Bevölkerung zu lindern. Eine der Folgen für die in der Region lebenden Menschen war es, seither ohne jegliches fließendes Wasser auskommen zu müssen und ausschließlich auf Wasserkanister aus den Märkten angewiesen zu sein. Die ökologischen Folgen sind bislang noch überhaupt nicht ins Blickfeld geraten. Nach wenigen Tagen wurden erste Tatverdächtigte verhaftet.

Diese an sich schon wenig erfreulichen Nachrichten aus einem bis dahin als sehr sauber bekannten Flussgebiet können aber noch weitaus dramatischer klingen, stellte man in Moskau fest. Denn was sind schließlich 200km im russischen Maßstab, zumal aus Moskauer Sicht. Der Redakteur André Ballin der Internetzeitung Russland Aktuell, Nachrichtenportal der deutsch-russischen Nachrichtenagentur RUFO, verlegte den Ölteppich in unmittelbare Nähe zum Baikal und schreibt heute in seinem Artikel „Erste Festnahmen wegen Umweltverschmutzung am Baikal“:

„Durch das Anschneiden der Pipeline schwimmt ein Ölteppich auf den Baikal zu. […] Anwohner entdeckten einen zehn Kilometer langen Ölteppich auf der Angara, dem Zufluss zum Baikalsee.“

Das ist so jedoch nicht ganz richtig bzw ganz und gar unmöglich. Erst einmal ist die Angara der einzige Fluss des Sees, der aus ihm abfließt (den Flussteil Obere Angara ganz im Norden des Sees kann man hierbei ignorieren, denn die Angara verlässt den Baikal 600km südlich). Womit sich bereits die Fließrichtung ergibt: vom Baikal weg. Dass nun ein Ölteppich entgegen der Fließrichtung sich den Flusslauf hinaufarbeiten würde, ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Doch selbst wenn ihm dies gelänge, stellte sich etwa 70km vor Erreichen des Sees ein unüberwindbares Hindernis in den Weg: der Irkutsker Stausee mit dem dazugehörenden Wasserkraftwerk. Nicht allein, dass es für einen gegen den Strom schwimmenden Ölteppich nahezu unwahrscheinlich ist, dass er gegen die Fließgeschwindigkeit der Angara bei Irkutsk ankommt – denn diese ist so hoch, dass der Fluss selbst bei sibirischsten Winterfrösten kilometerlang nicht zufriert. Als ausgeschlossen jedoch kann es gelten, dass der Ölteppich sich eine etwa 40m hohe Staumauer emporzukämpfen in der Lage ist.

Insofern ist der Artikel bei Russland Aktuell eine journalistische Meisterleistung in Sachen künstlicher Skandalisierung, denn „Ölkatastrophe am Baikal“ klingt nunmal aufregender als „Ölteppich auf ostsibirischem Fluss“. Zudem ist zugunsten des Skandals auf geografische Recherche oder, bei einem jahrelang in Russland lebenden Journalisten sollte man das vorraussetzen dürfen, entsprechende Grundkenntnisse der sibirischen Geografie vollständig verzichtet worden. An sich könnte man einen kleinen Text einer mittelmäßig beachteten Internetzeitung weitestgehend ignorierend. Leider aber hat RUFO ganze Arbeit geleistet: Der Artikel ist mit dem gleichen Blödsinn, leicht bearbeitet und sogar gleich zwei Mal, zuerst um 10:54 Uhr und dann mit Verlinkung zum Artikel bei RA um 16:37 Uhr, bei DRadio Wissen erschienen.

Was die Frage meiner Deutschstudenten hinreichend beantwortet haben dürfte: Leider nicht viel weiß man, gar nicht viel.

Interkultur/Irkutsk/Liljana/selbst/Unter Deutschen

Erschöpfungsgrad. Eine kurze Retrospektive

Posted by Sascha Preiß on

Anfangs, als ich Irkutsk zum ersten Mal durch die Scheiben der TU-134 sah, war ich wohl etwas enttäuscht. Ich hatte auf symbolisches Wetter gehofft. Aber es regnete nur. Klima: mangelhaft. Das änderte sich rasch und seither gibt es nichts zu bemängeln.

Wie ist es so in der Stadt? Es lässt sich konsumieren, so viel man möchte, jeden Scheiß, jeden Tag. Ruhetage sind Museen und Behörden vorbehalten, auch die Post arbeitet sonntags. Deutsches Bier, Nutella, Ikea-Kram und iPhones, alles da. Für deutsche Medien gibts schnelles Internet, Bücher schickt Amazon in 10 Tagen, Musik per download. Irgendwo in dieser Stadt, vermute ich, bekommt man wohl auch geröstete Affenärsche. Welcher Mangel?

Reden wir also nicht weiter davon.

Und sonst so? In den vergangenen zweikommafünf Jahren sind mir ein halbes Dutzend Fälle bzw deutsche Personen begegnet, für die Baikaltourismus lebensentscheidend war: und sie kehrten erst verliebt, dann verheiratet und-oder verkindert zurück. Es gibt wohl keinen gradlinigeren Weg, Land und Leute kennenzulernen. Hat man nach Russland geheiratet, umsorgt einen eine enorme Familie. Und die Freunde sowieso. Wenn man nun aber bereits verheiratet ist und als Ausländerpaar nahe des Baikalufers ein Kind in die Welt wirft, dann gibt es wohl keinen gradlinigeren Weg, dass man von Land und Leuten ziemlich in Ruhe gelassen wird. Keiner kommt gratulieren, keiner ruft glückwünschend an oder schickt Blumen: das junge Glück soll sich ungestört erholen. Und da wären wir nun. Zu dritt. Allein.

Die Sache ist: Alle paar Wochen gehen wir uns aus dem Weg oder auf den Geist, mehr Optionen sind da nicht. Allabendlich nach der Arbeit aufeinanderhocken, jeder mit seiner Arbeit beschäftigt und lieber nicht das Kind ins Bett schaukeln. Es fehlt – Zeit. Für uns. Ein Zeitmangel ohne Eile und Hast, sondern ein Mangel an Gemeinsamkeit. Filme haben wir schon monatelang nicht mehr zu zweit gesehen. Der Kinobesuch für dieses Jahr lief so: Samstag sie, Sonntag ich, der andere machte derweil den Hirten. Das letzte Buch, das mir gelang durchzulesen, war Hertha Müller „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“. Für die 120 Seiten benötigte ich 4 Wochen und ich bin mir sicher, nichts mehr davon zu wissen. Meine Frau hat mir neulich Warlam Schalamow „Durch den Schnee – Erzählungen aus Korlyma 1-3“ geschenkt, 1250 Seiten. Ihr unerschütterlicher Optimismus, ein minutiöser Gulag-Bericht als kiloschwere Druchhalteparole. Das gemeinsame Gespräch ist auf symbolische Handlungen reduziert. Weil die Zeit knapp ist. Auf elterliche Unterstützung muss aus geografischen Gründen verzichtet werden. Von den Freunden nicht zu reden, Skype ist kein Ersatz für durchqualmte Kneipenabende. Immerhin haben wir ein Kindermädchen für die Tagesbetreuung, so können wir arbeiten fahren, 30min hin, 60min zurück, Abendstau. Kinderkrippen gibt es keine, Kinderbetreuung in Gruppen so gut wie nicht. Unser Töchterchen sucht Gesellschaft. Sie schaut sich tagtäglich den Schwangerschaftsratgeber von GU an, der hat viele Abbildungen. Wo kleine Kinder zu sehen sind, legt sie ihren Kopf hin und kuschelt mit ihnen. Schnee mag sie nicht so, da steht sie auf der Straße und bewegt sich nicht mehr. Mir wäre der Sinn nach Schneeballschlacht, aber mit wem. Und zu lange bei -15 geht auch nicht: Je tiefer die Temperaturen, umso höher das Schlafbedürfnis. Die Skala zeigt Erschöpfungsgrad an. Inzwischen kann ich locker 12h am Stück durchschlafen. Ich weiß nur nicht wann. Bin ich müde, gehen mir alle gewaltig auf den Geist bzw ich ihnen am liebsten aus dem Weg.

Ach ja, Weihnachten ist auch noch. Meine Frau organisiert einen ganzen Haufen Adventsfeiern. Sie fehlen ihr, weil sie Familie bedeuten. Wärme. Ich kann zu ihrem Unglück darauf verzichten. Unsere Mängel ergänzen sich nicht.

Mit einer Ausnahme: beide wollen wir trotzdem eine Weile hier bleiben. Schließlich haben wir von der Gegend noch kaum etwas gesehen. Die Baikal-Reise ist schon den zweiten Sommer verschoben worden. Im ersten kam das Kind, im zweiten fiel das Schiff aus. Die Herberge auf der Insel hat uns nun solange die Hütte reserviert, bis wir tatsächlich einmal kommen können.

Dort muss es schön sein, die haben offenbar genügend Zeit.

(Der Text entstand im Rahmen einer Tagebuch-Aktion auf jetzt.de.)

Ulica/Unter Deutschen

Frühjahrsputz

Posted by Sascha Preiß on

Auch wenn warme Tage noch auf sich warten lassen, ab -5°, heißt es, beginnt der sibirische Frühling, ab +5° bereits der Sommer. Durch die Sonneneinstrahlung, den andauernden Minusgraden zum trotz, taut die Stadt tatsächlich auf, auf dem Markt kann man junge Weidenkätzchen (Osterbrauch) und erste Frühblüher kaufen. Was romantisch klingt, wird von den Einwohnern wenig geliebt. Der zum Vorschein kommende Unrat, eine breiige Mischung aus Plaste, Glas, Hundekot, zu Schlamm geschmolzenen Seitenwegen und Undefinierbarem, beseelt die Irkutsker Straßen mit einem unverwechselbaren Lebensgefühl, das sich an Schuhsohlen, Hosen, Mantelsäumen festsetzt und sich über Busse, Taxis und Straßenbahnen bis in die Geschäfte und Wohnungen verbreitet. Putztücher für Schuhe sollten jederzeit griffbereit sein, an sauberen Schuhen erkennt man gepflegte Leute. Das Reinigungspersonal in den Läden und Restaurants hat reichlich zu wischen.

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Noch am Wochenende diskutierten ein paar Deutsche über den Schmutz in der Stadt und das vermeintlich fehlende Sauberkeitsempfinden der russischen Bevölkerung. Das könne man insbesondere am Zustand der sanitären Einrichtungen und den Scheißhäusern von Schulen und Gaststätten ablesen, sagte ein empörter Pensionär, der mit seiner Frau seit einem halben Jahr in Irkutsk lebt. Jedes Restaurant und Hotel, das ein ordentliches Klo vorzuweisen habe, erhalte unabhängig von der Qualität der Speisen von ihm bereits einen Stern. Was er hingegen nicht begreife, sei diese russische Gleichgültigkeit, ja eigentlich Resignation, mit der die Verhältnisse akzeptiert würden, was sich im russischen normal’no manifestiere. Dieses Wort wäre ihm unerträglich geworden. Nun sei es wohl einzusehen, dass nicht allerorts weltweit deutsche oder gar norwegische Verhältnisse, die seine Frau explizit lobte, herrschen könnten, doch an dieser Stadt zeige sich nach seinem Verständnis ein gesellschaftliches Versagen in puncto Sauberkeitsempfinden. Gegenargumente dergestalt, dass weltweit alle Staaten mit den überbordend produzierten Verpackungsgebirgen aus Plaste ein grundsätzliches Problem haben, dass sinnvolle Lösungsansätze reichlich Geduld und Überzeugungsarbeit erforderten und stets teurer sind, als das Zeug einfach wegzuwerfen, und dass insbesondere Gesellschaften, die ökonomisch weit unter europäischem Niveau lägen, daher auch bedeutendere soziale Konflikte auszutragen hätten, Arbeitslosigkeit, Drogen etc, bei denen es ganz sicher nicht in erster Linie um Sauberkeit auf den Straßen ginge, fruchteten nicht recht. Man einigte sich darauf, dass Reinheit wohl bei einem selber anfange, aber auch eines öffentlichen politischen Willens und Anreizes bedürfe.

Eine intensive Diskussion über Sauberkeit auf russischen Straßen gelingt wohl nur preußisch geschulten Europäern derart vorbildlich. Ein russischer Nachwuchswissenschaftler aus Irkutsk sagte dazu, er habe das eigentlich nie als Problem gesehen, für ihn sah die Stadt schon immer so aus wie jetzt und damit völlig normal’no, wenn es taut, wäre es ein bisschen anstrengend, aber dann käme ja auch schon bald der Sommer und wenn es blühe, sähe alles wieder ganz anders aus und alle führen sowieso aufs Land. Umgedreht sei es ebenso selbstverständlich wie lächerlich, dass die Straßen deutscher Städte im Kino grundsätzlich in übertrieben gutem und sauberem Zustand gezeigt würden. Das wäre doch aber auch kein Grund zur Aufregung. Um etwas zu verändern, fügte er noch an und zählte Niederlagen seines Wissenschaftlerlebens auf, könne man in Russland sowieso nichts initiieren, was dem Kerl in der Chefetage widerstrebt. Bürgerliches Engagement habe eigentlich kaum Chancen. Russische Probleme erforderten russische Lösungen.

Eine solche wartet nun auf die Irkutsker während des gesamten April: Ab morgen beginnt der Monat des Frühjahrsputzes und der gründlichen Stadtreinigung. Eine ganze Menge Geld wird zur Säuberung der Straßen, Parks, Brücken, Märkte und Fassaden ausgegeben, am meisten für die Verschönerung des Zentrums. Nachdem reichlich Schnee und Eis von Dächern und Straßen geklopft worden war, mehr als 110 Tonnen, sah man nun erste junge Männer mit Plastesäcken durch die Straßen laufen und Flaschen unter Bäumen einsammeln. Höhepunkt der Aktion wird der 24. April sein, dann gibt es einen landesweiten Subbotnik. Damit der Frühjahrsputz gelingt, werden die Straßen aus der Stadt gesondert bewacht, damit niemand auf die Idee kommt, den gesammelten Müll einfach irgendwo ins Grüne zu verlagern.

Damit wäre dann auch wieder für Stoff zu ausgiebigen Diskussionen gesorgt.

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Quelle: http://commons.wikimedia.org

Anti-Terror/Universität/Unter Deutschen

Immunität

Posted by Sascha Preiß on

Eines schönen Junitages, erzählte meine Kollegin, als sie neulich bei uns zu Besuch war, erhielt sie auf ihrem Mobiltelefon einen Anruf:

Schönen guten Tag, Frau R., sagte eine Frauenstimme, hier ist das Generalkonsulat Nowosibirsk. Sie arbeiten doch in Ulan-Ude. – Ja. – Und Sie sind auch gerade dort. – Ja. – Und sie wissen doch, wie lange der Zug von Nowosibirsk nach Ulan-Ude fährt. – Ja, das weiß ich, 40 Stunden. – Aha, ja. Und Sie wissen auch, dass man nicht so ohne weiteres mit dem Flugzeug von hier nach Ulan-Ude kommt, weil es keine Direktflüge gibt. – Ja, auch das weiß ich in der Tat. – Ja, sehen Sie. Das deutsche Außenministerium hat nämlich 2 für den Einsatz in Afghanistan bestimmte Hubschrauber gekauft. – So. – Und die sind nun fertig für den Transport und stehen auf dem Gelände der Hubschrauberfabrik in Ulan-Ude. – Schön. – Und da Sie die Schwierigkeiten bei der Anreise kennen und bereits vor Ort sind, wollte ich Sie fragen, ob Sie in unserem Auftrag diese beiden Hubschrauber besichtigen und fotografieren könnten. – Sie glauben, dass ich einfach so auf das Gelände komme und Fotos machen darf? – Sie erhalten von uns ein offizielles Schreiben mit Erlaubnis und Stempel etc, Sie tun uns einen großen Gefallen. – Das möchte ich mir aber noch in aller Ruhe überlegen.

Damit war das Gespräch beendet und meine Kollegin überlegte. Dass sie als Ausländerin trotz Brief und Siegel wohl nicht einfach so auf das Gelände einer russischen Fabrik für Militärtechnik gelassen wird. Und falls doch, dass das Fotografieren auf diesem Gelände für irgendeinen Mitarbeiter des Geheimdienstes wohl durchaus verdächtig erscheinen könnte. Dass dies ausreicht, um des Landes verwiesen zu werden. Dass sie ein Kind erwartet, dass ihr Mann hier lebt, dass sie mit ihrer Familie in Russland leben möchte und dass sie eine Arbeitserlaubnis für die Universität beantragt hat, wofür es insgesamt von Vorteil wäre, frei vom Verdacht der internationalen Militärspionage zu sein. Tags darauf klingelte erneut das Telefon.

Schönen guten Tag, Frau R., sagte eine andere Stimme, hier ist das Auswärtige Amt in Berlin, vielen herzlichen Dank, dass Sie die beiden Hubschrauber begutachten möchten, das erspart uns viel Arbeit. – Einen Augenblick, aber ich möchte das gar nicht. – Warum denn nicht, Sie erhalten doch von uns offizielle Papiere. – Das mag wohl sein, aber: Meine Kollegin erklärte ihre Bedenken. – Aber welchen Repressionen können Sie denn ausgesetzt sein, Sie genießen doch Immunität! – Nein, das tue ich nicht, ich bin eine normale Mitarbeiterin an der Universität und besitze einen normalen deutschen Pass. – Aber in Afghanistan genießen alle von Deutschland Entsandten Immunität. – Wir sind aber in Russland und ich bin nicht entsandt. – Sie könnten in der Moskauer Botschaft die Immunität beantragen! – Sie könnten einen immunen Mitarbeiter entsenden, der sich die millionenteuren Hubschrauber anschaut, das kostet auf dem Luftweg von Berlin 600 Euro.

Meine Kollegin hatte dann leider das Interesse an der Sache verloren und wusste nicht zu sagen, wie es mit den zwei in Burjatien wartenden Hubschraubern weitergegangen ist. Die Anti-Terror-Verteidigung Deutschlands am Hindukush scheint ihr nicht so wichtig zu sein. Ich selbst bin jedenfalls froh, dass die deutsche Armee dort bislang keine Flugzeuge benötigt, die irgendwann abstürzen könnten und in Russland nachbestellt werden müssten. Das zu Afghanistan nächstgelegene Militärflugzeugwerk befindet sich nämlich in Irkutsk. Und irgendein Außenamtsmitarbeiter hätte dann sicher wieder keine Lust, sich selbst ein Bild vom Stand der Dinge zu machen und würde vielleicht mich anrufen. Ich müsste dann aber ebenfalls absagen – schließlich habe ich schon einmal den Militärdienst verweigert.