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Das Wetter/Irkutsk

„Unser Schnee lässt sich schlecht zu Bällen verarbeiten“

Posted by Sascha Preiß on

In Deutschland wird seit einigen Tagen über die angekündigte sibirische Kältewelle gesprochen. Mit Peter Wagner, Redakteur bei jetzt.de, dem Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, war ich gestern Abend zu einem Skype-Chat verabredet. Nachfolgend das dort erstveröffentlichte vollständige Interview über gefriergetrocknete Kleidung, eingecremte Gelenke und verrückte deutsche Radfahrer.

Seit dreieinhalb Jahren lebt Sascha Preiß, 35, in Sibirien. Er arbeitet dort als Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Technischen Universität von Irkutsk. Aufmerksame jetzt.de-Leser kennen ihn unter dem Usernamen ruebezahl und verfolgen vielleicht auch seinen Irkutskblog, in dem er sein Leben in Russland beschreibt und fotografiert. (Die Bilder im Text unten entstammen dem Blog.) Im Skype-Chat mit jetzt.de erzählt Sascha vom Leben in der Kälte – als Einstimmung auf Hoch „Cooper“, das Deutschland bis Ende der Woche tiefgefroren haben soll.   

jetzt.de: Sascha, bei mir in München ist es jetzt 10 Uhr, bei dir 18 Uhr. Wie kalt ist es?
Sascha:
Minus 27 Grad. Es ist also etwas wärmer geworden.

Wie kalt war es gestern?
Minus 41 Grad.

War es dein Wunsch, in diese Ecke der Welt zu ziehen, um dort zu arbeiten?
Ja, ich wollte schon immer mal in Russland leben und arbeiten. Ich habe zuvor ein Jahr in Kasachstan gearbeitet, später zwei Jahre in Kroatien. Und als sich die Möglichkeit bot, in Baikal-Nähe zu leben, habe ich mich beworben und die Stelle bekommen.

Zu welcher Jahreszeit bist du damals angekommen?
Damals war es früher Herbst und als wir mit dem Flugzeug, einer alten TU-134, von Nowosibirsk aus ankamen, hat es ziemlich geregnet. Wenig erfreulich im ersten Moment, weil dadurch von der Stadt absolut nichts zu sehen war. Aber das hat sich schnell gebessert. Die Stadt empfand ich damals im Herbst als wirklich sehr schön. Und auch im Winter!

Interkultur/Irkutsk/Liljana/selbst/Unter Deutschen

Erschöpfungsgrad. Eine kurze Retrospektive

Posted by Sascha Preiß on

Anfangs, als ich Irkutsk zum ersten Mal durch die Scheiben der TU-134 sah, war ich wohl etwas enttäuscht. Ich hatte auf symbolisches Wetter gehofft. Aber es regnete nur. Klima: mangelhaft. Das änderte sich rasch und seither gibt es nichts zu bemängeln.

Wie ist es so in der Stadt? Es lässt sich konsumieren, so viel man möchte, jeden Scheiß, jeden Tag. Ruhetage sind Museen und Behörden vorbehalten, auch die Post arbeitet sonntags. Deutsches Bier, Nutella, Ikea-Kram und iPhones, alles da. Für deutsche Medien gibts schnelles Internet, Bücher schickt Amazon in 10 Tagen, Musik per download. Irgendwo in dieser Stadt, vermute ich, bekommt man wohl auch geröstete Affenärsche. Welcher Mangel?

Reden wir also nicht weiter davon.

Und sonst so? In den vergangenen zweikommafünf Jahren sind mir ein halbes Dutzend Fälle bzw deutsche Personen begegnet, für die Baikaltourismus lebensentscheidend war: und sie kehrten erst verliebt, dann verheiratet und-oder verkindert zurück. Es gibt wohl keinen gradlinigeren Weg, Land und Leute kennenzulernen. Hat man nach Russland geheiratet, umsorgt einen eine enorme Familie. Und die Freunde sowieso. Wenn man nun aber bereits verheiratet ist und als Ausländerpaar nahe des Baikalufers ein Kind in die Welt wirft, dann gibt es wohl keinen gradlinigeren Weg, dass man von Land und Leuten ziemlich in Ruhe gelassen wird. Keiner kommt gratulieren, keiner ruft glückwünschend an oder schickt Blumen: das junge Glück soll sich ungestört erholen. Und da wären wir nun. Zu dritt. Allein.

Die Sache ist: Alle paar Wochen gehen wir uns aus dem Weg oder auf den Geist, mehr Optionen sind da nicht. Allabendlich nach der Arbeit aufeinanderhocken, jeder mit seiner Arbeit beschäftigt und lieber nicht das Kind ins Bett schaukeln. Es fehlt – Zeit. Für uns. Ein Zeitmangel ohne Eile und Hast, sondern ein Mangel an Gemeinsamkeit. Filme haben wir schon monatelang nicht mehr zu zweit gesehen. Der Kinobesuch für dieses Jahr lief so: Samstag sie, Sonntag ich, der andere machte derweil den Hirten. Das letzte Buch, das mir gelang durchzulesen, war Hertha Müller „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“. Für die 120 Seiten benötigte ich 4 Wochen und ich bin mir sicher, nichts mehr davon zu wissen. Meine Frau hat mir neulich Warlam Schalamow „Durch den Schnee – Erzählungen aus Korlyma 1-3“ geschenkt, 1250 Seiten. Ihr unerschütterlicher Optimismus, ein minutiöser Gulag-Bericht als kiloschwere Druchhalteparole. Das gemeinsame Gespräch ist auf symbolische Handlungen reduziert. Weil die Zeit knapp ist. Auf elterliche Unterstützung muss aus geografischen Gründen verzichtet werden. Von den Freunden nicht zu reden, Skype ist kein Ersatz für durchqualmte Kneipenabende. Immerhin haben wir ein Kindermädchen für die Tagesbetreuung, so können wir arbeiten fahren, 30min hin, 60min zurück, Abendstau. Kinderkrippen gibt es keine, Kinderbetreuung in Gruppen so gut wie nicht. Unser Töchterchen sucht Gesellschaft. Sie schaut sich tagtäglich den Schwangerschaftsratgeber von GU an, der hat viele Abbildungen. Wo kleine Kinder zu sehen sind, legt sie ihren Kopf hin und kuschelt mit ihnen. Schnee mag sie nicht so, da steht sie auf der Straße und bewegt sich nicht mehr. Mir wäre der Sinn nach Schneeballschlacht, aber mit wem. Und zu lange bei -15 geht auch nicht: Je tiefer die Temperaturen, umso höher das Schlafbedürfnis. Die Skala zeigt Erschöpfungsgrad an. Inzwischen kann ich locker 12h am Stück durchschlafen. Ich weiß nur nicht wann. Bin ich müde, gehen mir alle gewaltig auf den Geist bzw ich ihnen am liebsten aus dem Weg.

Ach ja, Weihnachten ist auch noch. Meine Frau organisiert einen ganzen Haufen Adventsfeiern. Sie fehlen ihr, weil sie Familie bedeuten. Wärme. Ich kann zu ihrem Unglück darauf verzichten. Unsere Mängel ergänzen sich nicht.

Mit einer Ausnahme: beide wollen wir trotzdem eine Weile hier bleiben. Schließlich haben wir von der Gegend noch kaum etwas gesehen. Die Baikal-Reise ist schon den zweiten Sommer verschoben worden. Im ersten kam das Kind, im zweiten fiel das Schiff aus. Die Herberge auf der Insel hat uns nun solange die Hütte reserviert, bis wir tatsächlich einmal kommen können.

Dort muss es schön sein, die haben offenbar genügend Zeit.

(Der Text entstand im Rahmen einer Tagebuch-Aktion auf jetzt.de.)

selbst/Universität

Sechszeiler des Monats

Posted by Sascha Preiß on
Grenzenlos/selbst

Die letzten Tage meines Bruders

Posted by Sascha Preiß on

I

Zwei Wochen lang hatte ich eine Katze zu hüten.

Meine Eltern fuhren voll quälender Ungeduld, Furcht nach Frankreich.

Zwei Wochen vorher hatte mein Vater nach Gera telefoniert, sein Sohn und er stritten sich erneut, brüllten sich durch die Hörer an, ergebnislos. Wenige Tage später hatte die Geraer Ärztin mit meinem Vater telefoniert, sehr ruhig. Sein Sohn habe gestern das Heim verlassen und sei nicht zurückgekehrt. Er habe sein Zimmer gekündigt und die Auszahlung seiner noch verbliebenen finanziellen Mittel für diesen Monat verlangt. Sie sah keinerlei Handhabe, sich seinen Forderungen zu widersetzen, sie könne ihn nicht anbinden. Der Sohn sei seit gestern mit einem Freund, ein ehemaliges Heimmitglied, unangenehmer Zeitgenosse, aus dem Haus, gemeinsam wären sie die Straße in Richtung Bahnhof gegangen bzw der Sohn im Rollstuhl gefahren. Einen Aufenthaltsort hätten sie nicht angegeben.

Meine Eltern verfielen in eine Panik, die sich als strenge Pragmatik äußert. Sollten sie dem Sohn, 3 Tage nach seinem Weggang, folgen? Wenn ja, wohin? Sollten sie den geplanten Urlaub absagen und in ihrer Wohnung warten, ob er wieder eintreffen würde? Sie waren sich beide im Klaren, dass es vergebenes Warten wäre. Mein Vater telefonierte mit mir, erklärte ruhig die Situation, teilte mir den Entschluss mit. Sie fuhren ab, hinterließen mir Telefonnummern für den Fall einer Entwicklung. Sie wussten, dass nur eine Entwicklung anzunehmen war. Mein Vater sagte, dass mit allem zu rechnen sei. Was bedeutete, nur mit diesem einzigen. Meine Eltern warteten darauf in Frankreich, ich im Beisein einer Katze.

Ich begab mich in die Wohnung des ebenfalls verreisten Freundes und betrachtete das schwarze Tier. Es hatte bei meinen gelegentlichen Besuchen auf meiner Schulter gesessen und den salzigen Schweiß meiner Achseln aus meinem Hemd geleckt. Jetzt beobachtete es mich aus sicherer Entfernung.

II

Aus den wenigen Dokumenten geht hervor, dass mein Bruder mit der Bahn von Dessau nach Magdeburg gefahren und ohne gültigen Fahrausweis angetroffen worden war. Der Leitung des Geraer Heimes lag eine Zahlungsaufforderung der Bahn an meinen Bruder vor, die offenen Transportkosten zzgl Straf- und Bearbeitungsgebühren in Höhe von … zu begleichen. Bei Verlassen des Heimes betrug sein Barvermögen zwischen 120 und 80 Euro, den Großteil hatte die Heimleiterin ihm aufgrund seiner Forderung ausgezahlt, hinzu kam wohl noch ein wenig in bar Gespartes. Die Bahnreise durch Sachsen-Anhalt hatte eine Woche nach seiner Flucht stattgefunden.

Desweiteren konnte nachgewiesen werden, dass ihm das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland in Richtung Niederlande von den deutschen Grenzbehörden an einem Grenzübergang bei Münster untersagt wurde. Er war mit seinem Begleiter, dem ehemaligen Heiminsassen, als Fußgänger am Grenzposten erschienen, lediglich der Begleiter durfte weiterreisen. Mein Bruder wurde trotz gültigen Passes abgewiesen und musste im Land verbleiben, die Gründe der Abweisung sind unbekannt. Daraufhin trennten sich die Reisenden. Mein Bruder hatte kurz darauf einige Tage Quartier in einem Hotel in Münster bezogen. Während des dreitägigen Aufenthaltes im Hotel leerte er die im Zimmer befindliche Minibar und verwüstete das Zimmer. Für die aus den Schäden resultierenden Kosten zzgl der hohen unbeglichenen Rechnung versuchte die Hotelleitung, meine Eltern haftbar zu machen. Allerdings erfolglos, da das Hotel den Gast nicht hätte aufnehmen müssen und er soweit mündig war, für seine Taten selbst verantwortlich zu sein. Während des Aufenthaltes im Hotel hatte sich ein fachkundiger Gast um die ärztliche Versorgung meines Bruders gekümmert. Er gab an, dass die Füße verletzt waren, Abschürfungen aufwiesen, entzündet waren, glücklicherweise ohne ernsthafte Schäden. Er hatte die Füße mit Salben und Pflastern behandelt. Der Gast nannte meinen Bruder einen ruhigen Mann, der die ihm gebotene Hilfe dankend und freundlich angenommen habe. Dass mein Bruder medikamentös behandelt wurde, sei ihm nicht aufgefallen.

Einige Tage später, nachmittags, wurde mein Bruder im Tal unter einer Brücke in Düsseldorf tot aufgefunden. Aus Passantenbefragungen ging hervor, dass mein Bruder, allein und im Rollstuhl, lediglich mit sauberer Unterwäsche bekleidet – so war er entdeckt worden – auf der Brücke gesehen wurde. Er habe über das Geländer geblickt und sich kaum bewegt. Am Rollstuhl hingen T-Shirt und andere Kleidungsstücke. Etwa eine Stunde später muss er sich über das Geländer gezogen und ins Tal gestürzt haben. Dennoch ermittelte die Polizei in alle Richtungen. Meinen Eltern wurde angeboten, Fotos zur Identifizierung zu sehen. Sie lehnten ab und versicherten, dass weitere Ermittlungen überflüssig wären. Die Beamten sagten, mein Bruder habe sich wetterbedingt seiner Kleidung entledigt, den ganzen Tag habe in Düsseldorf die Sonne geschienen.

Mein Vater informierte mich in der Katzenwohnung telefonisch.

III

Die gesamte letzte Reise, eine Art Flucht, meines Bruder dauerte etwas über 4 Wochen. Das meiste ist vollständig unbekannt und es ist ungewiss, ob ich es je in Erfahrung bringen kann. Wo hat er außer in Münster übernachtet? Wie hat er sich ernährt? Wovon hat er gelebt? Aufgrund seiner schizophrenen Depressionen und Selbstmordversuche bedeuten diese letzten Tage eine ungeheure Anstrengung und Willensleistung, den Willen zu leben, eine ungewisse Zeitlang frei und ohne elterlichen Vormund und Heimaufsicht zu leben – immer mit dem konkreten Ziel zu sterben. Seltsam genug: Diese Reise verdient Bewunderung.