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Interkultur/Kulinarisches

Skepsis

Posted by Sascha Preiß on

Alessandra, eine italienische Freundin, die seit einiger Zeit in Irkutsk lebt und am liebsten hier bleiben möchte, erzählte uns kürzlich von einem neuen Restaurant. Ein wirkliches italienisches Restaurant, schwärmte sie, im Stadtzentrum, das auch der ehemalige Bürgermeister der Stadt unterstützte. Alessandra hatte dessen Sohn dereinst Italienisch-Unterricht erteilt, was dem romanophilen Bürgermeister gefiel, weshalb er sie auch ein wenig unterstützte. Für das neue Restaurant, erzählte sie, habe sie nicht nur bei Ausstattung und Rezepten für die Speisekarte beraten, sondern auch den Namen des Restaurants beigesteuert: Antico Borgo, das alte Dorf. Küche und Einrichtung des Lokals seien daher auch ländlich gehalten, toskanisch, schlicht und ursprünglich, und durchaus nicht immer so, wie man sich italienisches Essen vorstelle. Das beschränkt sich ja im Grunde auf Tiefkühlpizza und Spaghetti Bolognese aus der Dose.

Nun bin ich bereits zwei Mal im Alten Dorf gewesen und reise dort sehr gerne immer wieder hin. In der Tat ein wunderschönes Lokal, in dem man ganz hervorragend essen kann. Beide Male aber war das Restaurant fast vollkommen leer. Die Preise sind vergleichbar mit den „deutschen“ oder sonstigen „nationalen“ Restaurants (empfehlenswert: Mongolisch!), die weit teureren Sushi-Lokale sind ebenfalls deutlich frequentierter. Qualitativ kann kein Pizza-Bäcker der Stadt mithalten, in der populären Fastfood-Kette „MacFood“ wird gern auch mal Pizza mit Majonnaise als Käseersatz angeboten. Auch Reklame ist vorhanden, ein großes Werbebanner ist über die vielbefahrene ulica Karla Marksa gespannt, eine Pappfigur weist den Weg in die ruhige Nebenstraße, in der das Antico Borgo gelegen ist.

Also muss das Verschmähen des vor zwei Monaten eröffneten, einzigartigen Lokals einen anderen Grund haben. Meine Mitarbeiterin aber sagte, das sei völlig normal. Ein neu eröffnetes Restaurant ist in Russland anfangs immer leer. Die Leute seien sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen skeptisch, zwar auch neugierig, aber eben abwartend. Es brauche ein bisschen seine Zeit, bis es sich herumgesprochen hat und mit Gästen füllt. Aber dann kommen die Leute.

– Wenn niemand hingeht, wie soll es sich denn herumsprechen?

– Wir sind doch gerade drin.

– Zu wem gehst du nachher und berichtest?

– Weiß noch nicht. Vielleicht der Familie, Freunden. Geburtstage sind ein guter Anlass für Restaurantbesuche.

– Wissen Kunden eines neuen Lokals um ihren informellen Werbeauftrag?

– Selbstverständlich. Mündliche Weitergabe von Informationen ist unabdingbar für das Bestehen der russischen Gesellschaft. Jeder beteiligt sich daran, wie könnte er nicht?

– Wie kann man abwartend neugierig sein?

– Man könnte sagen, man möchte wohl gern, wartet aber auf einen Anlass mit persönlicher Einladung, mindestens aber auf persönliche mündliche Empfehlung einer vertrauten Person, um endlich ausprobieren zu dürfen.

– Die Information ist also, Zutrauen zu wecken?

– Zutrauen zur Neugier, ja.

– Ich vermute, interkulturelle Forschung ist nicht in Russland erfunden worden?

– Vermutlich nicht, nein.

Womöglich habe ich Alessandra ein paar zukünftige Gäste ins Dorf gelockt. Ein Kritikpunkt aber – und den hatte sie selbst angesprochen – ist das musikalische Ambiente.  Selbst für ein Restaurant, das ein antico im Namen führt, ist Italopop (Ramazzotti, Celentano etc) jenseits aller Atmosphäre.

Interkultur/Sprache/Universität

International Office

Posted by Sascha Preiß on

Die Beziehung Russland zu China ist alles andere als freundschaftlich, eher fußt sie auf reichlich Angst und neidvoller Verachtung gegenüber den wirtschaftlichen Errungenschaften des Reiches der Mitte. Manchmal wächst sich das zu Phobien vor einer chinesischen Invasion aus, die in der Literatur fröhlich karikiert werden, um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen.

Tatsächlich herrscht in Russland, nicht ausgelöst aber verstärkt durch die Wirtschaftskrise, eine recht umfassende Stagnation. Die Geburtenraten geben Anlass zur Sorge, Jahr für Jahr verlassen weniger Schüler die Schulen, schreiben sich weniger Studenten in den Hochschulen ein. Seit diesem Jahr steigen die Geburtenzahlen erstmals wieder, doch davon profitieren die Hochschulen in etwa 20 Jahren. Die Mehrzahl der sibirischen Universitäten ist deshalb dazu übergegangen, zu hunderten Studenten aus China anzuwerben und zu immatrikulieren, um so den stetigen Schwund russischer Studenten aufzufangen und gleichzeitig zahlungskräftige Kundschaft zu erhalten, denn die ungeliebten, aber notwendigen Fremdstudenten sind mehrheitlich für teure Wirtschaftsstudiengänge eingeschrieben, bei denen das Semester schon mal 1000 Euro kosten kann. Für die chinesischen Studenten lohnt sich aber das Geschäft, sie bekommen ein russisches Diplom und erstklassigen Zugang zum begehrten russischen Markt, woraus ein stabiler Handel erwächst, der für beide Seiten ertragreich ist. Chinesen aber bleiben in Russland ungern gesehene Gäste, denen mit Höflichkeit nicht grundsätzlich zu begegnen ist.

Der Honorativ ist eine zentrale Kategorie der russischen Sprache. Unbekannte Personen nicht in der höflichen Sie-Form anzureden bedeutet, ihnen ohne Achtung zu begegnen, sie zu beleidigen. Die Mitarbeiterinnen des Akademischen Auslandsamtes (International Office) der TU Irkutsk sind seit Herbst 2009 mit den mehr als 300 chinesischen Studenten, die mühsam russisch lernen und von der Universität betreut werden, sichtlich überfordert. Insbesondere zu Ferienzeiten sinkt daher die Höflichkeitsschwelle enorm, wird keine Energie in überflüssige Formulierungen verschwendet. Den jungen Chinesen, der wegen seiner polizeilichen Registrierung nachfragt, wirft die Beauftragte für Registrierungsfragen die Worte hin: Setz dich, warte bis du drankommst. Den europäischen Gaststudenten, der eine ähnliche Frage hat, schaut sie an: Und was wollen Sie?

Irkutsk/minimal stories/Russland

minimal story 9

Posted by Sascha Preiß on

Während des Gesprächs klingelt ein Telefon, von den drei auf dem Tisch liegenden gehört Igor das läutende. Ein seriös geführtes Telefonat, es geht um die Aufführung, die er für die Weihnachtszeit vorbereitet. Eine Geschichte mit Djed Moroz, Väterchen Frost, dem russischen Weihnachtsmann, und Snjegurotschka, dem Schneeflöckchen, seiner weiblichen Begleitung, dazu Winnie Pooh und eine ganze Reihe anderer Figuren aus allerlei russischen Märchen (ja, Winnie Pooh zählt auch dazu, denn es existiert eine außerordentlich populäre sowjetische Kopie, Винни-Пух), eine Aufführung für Kinder sei das, aber auch für Erwachsene. Diese Veranstaltung, erzählt er nachher, ist sogar schon von einem Freund für ein Gastspiel in Moskau gebucht. Als das Telefonat zu Ende ist, lacht Igor plötzlich laut los. Das wäre ein sehr russischer Anrufer gewesen. „Ich habe ihm alles zu unserer Aufführung gesagt, er fand das gut und wollte das für sich zu Hause haben. Und er wollte wissen, ob wir dazu auch einen Striptease anbieten.“