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Interkultur/Sprache/Universität

International Office

Posted by Sascha Preiß on

Die Beziehung Russland zu China ist alles andere als freundschaftlich, eher fußt sie auf reichlich Angst und neidvoller Verachtung gegenüber den wirtschaftlichen Errungenschaften des Reiches der Mitte. Manchmal wächst sich das zu Phobien vor einer chinesischen Invasion aus, die in der Literatur fröhlich karikiert werden, um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen.

Tatsächlich herrscht in Russland, nicht ausgelöst aber verstärkt durch die Wirtschaftskrise, eine recht umfassende Stagnation. Die Geburtenraten geben Anlass zur Sorge, Jahr für Jahr verlassen weniger Schüler die Schulen, schreiben sich weniger Studenten in den Hochschulen ein. Seit diesem Jahr steigen die Geburtenzahlen erstmals wieder, doch davon profitieren die Hochschulen in etwa 20 Jahren. Die Mehrzahl der sibirischen Universitäten ist deshalb dazu übergegangen, zu hunderten Studenten aus China anzuwerben und zu immatrikulieren, um so den stetigen Schwund russischer Studenten aufzufangen und gleichzeitig zahlungskräftige Kundschaft zu erhalten, denn die ungeliebten, aber notwendigen Fremdstudenten sind mehrheitlich für teure Wirtschaftsstudiengänge eingeschrieben, bei denen das Semester schon mal 1000 Euro kosten kann. Für die chinesischen Studenten lohnt sich aber das Geschäft, sie bekommen ein russisches Diplom und erstklassigen Zugang zum begehrten russischen Markt, woraus ein stabiler Handel erwächst, der für beide Seiten ertragreich ist. Chinesen aber bleiben in Russland ungern gesehene Gäste, denen mit Höflichkeit nicht grundsätzlich zu begegnen ist.

Der Honorativ ist eine zentrale Kategorie der russischen Sprache. Unbekannte Personen nicht in der höflichen Sie-Form anzureden bedeutet, ihnen ohne Achtung zu begegnen, sie zu beleidigen. Die Mitarbeiterinnen des Akademischen Auslandsamtes (International Office) der TU Irkutsk sind seit Herbst 2009 mit den mehr als 300 chinesischen Studenten, die mühsam russisch lernen und von der Universität betreut werden, sichtlich überfordert. Insbesondere zu Ferienzeiten sinkt daher die Höflichkeitsschwelle enorm, wird keine Energie in überflüssige Formulierungen verschwendet. Den jungen Chinesen, der wegen seiner polizeilichen Registrierung nachfragt, wirft die Beauftragte für Registrierungsfragen die Worte hin: Setz dich, warte bis du drankommst. Den europäischen Gaststudenten, der eine ähnliche Frage hat, schaut sie an: Und was wollen Sie?

Anti-Terror/Das Wetter

Diese Nacht

Posted by Sascha Preiß on

Es ist ein Nebelstreif in der Stadt.
Die Temperatur kaum über Null.
Das offene Fenster zur Straße.
Kaum ein Mensch, der so spät durch die Nacht reitet.
Wind säuselt in dürren Blättern. Gespensterjagd.

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Die Stadt hat währenddessen ein chinesisches Untergrundkasino geschlossen. Das ist illegal, weil es ein Kasino ist (die sind seit 01.07. alle geschlossen worden, um die Verarmung der Bevölkerung zu stoppen) und weil es chinesisch ist (Chinesen werden diesen Sommer bevorzugt ausgewiesen). Und das ist offenbar eine Nachricht wert.
Alles voller Erlkönige. Die Gespenster sind unter uns.

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Fernost/Grenzenlos/Ulica

Komsomolsk-na-Amure: Anton

Posted by Sascha Preiß on

An diesem Abend wird er Vater, zum zweiten Mal. Das Kind dieses Abends wird er erst in ein paar Tagen zu Gesicht bekommen. Er fährt mit dem Auto durch die dunkler werdende Stadt, besucht Freunde, trinkt nicht. Es sei in Ordnung, das Kind nicht sofort sehen zu können, sagt er. Es ist ja ein Mädchen und es ist in den guten Händen seiner Frau, ihrer Mutter, der Oma und der Tante. Er hat schon einen Sohn, sein erstgeborenes Kind, das war ihm viel wichtiger, das hat er damals sofort sehen wollen. Jetzt fährt er halt ein bisschen durch die Stadt.

Er kommt nicht aus Komsomolsk, die Arbeit hat ihn hierher verschlagen, die Frau natürlich auch. Vor sieben Jahren. Das sei schon in Ordnung, er kann ganz gut leben von seinem Verdienst. Offiziell aber arbeitet im Grunde niemand mehr hier. Komsomolsk am Amur, eine ursowjetische Gründung der 30er Jahre, großzügig ans Ufer des breiten Flusses gebaut, ist Wohnort für 350.000 Einwohner, damals wie heute, Stalin- und Chrushchow-Platten und enorm breite, lange Straßen prägen das Bild, großzügig mit Bäumen bepflanzt, die im April noch immer kahl und leblos aussehen. Schmutziger Schnee und riesige Pfützen auf den Wegen. Straßenbahnen drehen wackelige Runden. Wenig Geschäfte, ein rauchender Schornstein am Horizont. Eine arbeitende Stadt sieht anders aus. Es gibt 3 Großbetriebe hier, ein Flugzeugwerk, das kleine Passagiermaschinen, Hubschrauber und Militärmaschinen herstellt, ein Schiffswerk für Atom-U-Boote und ein großes Stahlwerk, Amur-Stahl. Sowjetische Betriebe, wegen denen die Stadt jahrzehntelang für Ausländer gesperrt war, Spionage-Abwehr. Auch heute noch interessieren sich die Behörden stärker als anderswo für nichtrussische Besucher. Obwohl in den Betrieben deutlich weniger produziert wird als früher. Anton kennt keinen, der dort arbeitet. Man bekomme ja sowieso alles, was dort hergestellt wird, 10x billiger in China, dort kaufe im Grunde jeder ein. Qualität ist eh die selbe. Er arbeitet seit langem in einer Autowerkstatt, kleines Grundgehalt, der Chef gibt Prozente. Mit einem Freund hat er vor Jahren etwas Geld zusammengelegt, ist nach China, hat ein Auto gekauft und hier wieder verkauft. Das haben sie ein paar Mal gemacht, Import-Export, nach 4 Jahren konnte er sich eine eigene Wohnung kaufen. Vom Lohn im Stahlwerk wäre das unmöglich gewesen. Sein eigenes Auto, japanisches Modell, bekäme er nirgends so günstig. Jetzt sind die Gesetze geändert worden, die Einfuhrzölle enorm erhöht, um die heimische Produktion anzukurbeln. Der gesamte russische Ferne Osten hat vom Handel mit China, Korea und Japan gelebt. Das gleiche Auto in Russland hergestellt sei 10x teurer und deutlich schlechter in der Qualität, so einen Motor könne niemand in Russland herstellen, den kaufe eh keiner. Wegen der Zollerhöhungen gab es massiv Proteste, vergeblich, jetzt legt sich niemand mehr neue Autos zu und bringt sie in die Werkstatt. Sein Chef hat ihn entlassen müssen, er sucht Arbeit, wie viele hier. Freunde ziehen weg. Er hat eine Eigentumswohnung. Er finde ganz sicher wieder Arbeit, keine Frage, nur nicht den Optimismus verlieren. Alles wird gut. Diese Krise sei die schlimmste, die Russland je erlebt habe. Mit Russland meint er sich, seine Generation, die Jugend. Die Älteren haben sich spätestens seit den 80er Jahren an ein Leben in Krisenzeiten gewöhnen können, die Jüngeren kennen vor allem den rasanten (privat-)wirtschaftlichen Aufschwung nach Jelzin. Der ist nun vorbei, abrupt, ohne Vorwarnung.

China, im übrigen, sei toll. Schmutziger als hier, aber toll. Billig. Ich müsse da unbedingt hinfahren, empfiehlt er mit Begeisterung. Dort kann man wochenlang in Hotels wohnen, die man in Russland nur von außen sieht. Er zeigt mir einen knittrigen Katalog aus dem Handschuhfach, sein Stammhotel. Pool, Sauna, Bar, opulente Räume, alles inclusive für 39 Yuan pro Nacht und Nase. Das sind gerade einmal 200 Rubel, 5 Euro. In Russland wäre das unbezahlbar. Alle fahren nach China, wenn es hier zu kalt wird. Oder zu teuer. Oder zu einsam.

Es ist Nacht geworden, er setzt mich ab, fährt weiter, vielleicht nach hause, vielleicht zu Freunden. Das Auto wackelt, wenn es durch Pfützen und Löcher fährt. Die Straßenbeleuchtung ist ausgeschaltet.

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