Geografie und Skandal
Hin und wieder kommt es vor, dass mich bei Studierenden der deutschen Sprache die geografischen Kenntnisse über das Land ihrer Fremdsprache und was so drumherum ist interessieren. Sehr oft treffe ich hierbei auf ein ziemliches Defizit, die räumliche Vorstellung über die mitteleuropäischen Verhältnisse ist angesichts der enormen Größe des eigenen Landes bei vielen leider wenig ausgeprägt. Na und, was weiß man denn in Deutschland schon über Sibirien?, fragen manche Deutschstudenten dann trotzig zurück. Ja, was kann man da schon wissen. Wenn selbst jahrelang in Russland lebende Deutsche über den eigentlich berühmten Baikalsee und seine Umgebung außergewöhnlich wenig wissen.
Am 25. April 2012 ereignete sich am Fluss Angara ca. 200km westlich des Baikals eine der größten ökologischen Tragödien der vergangenen Jahrzehnte im Irkutsker Gebiet: Aus anfangs unbekannter Ursache wurden mehr als 300 Tonnen Schweröl in den Fluss in Höhe der Stadt Tscheremchowo eingeleitet. Ein Ölteppich von etwa 10km Länge bildete sich auf dem Fluss. Mit chinesischer Hilfe und Aktivkohle wird bis heute versucht, die unmittelbaren Folgen erst einmal für die Bevölkerung zu lindern. Eine der Folgen für die in der Region lebenden Menschen war es, seither ohne jegliches fließendes Wasser auskommen zu müssen und ausschließlich auf Wasserkanister aus den Märkten angewiesen zu sein. Die ökologischen Folgen sind bislang noch überhaupt nicht ins Blickfeld geraten. Nach wenigen Tagen wurden erste Tatverdächtigte verhaftet.
Diese an sich schon wenig erfreulichen Nachrichten aus einem bis dahin als sehr sauber bekannten Flussgebiet können aber noch weitaus dramatischer klingen, stellte man in Moskau fest. Denn was sind schließlich 200km im russischen Maßstab, zumal aus Moskauer Sicht. Der Redakteur André Ballin der Internetzeitung Russland Aktuell, Nachrichtenportal der deutsch-russischen Nachrichtenagentur RUFO, verlegte den Ölteppich in unmittelbare Nähe zum Baikal und schreibt heute in seinem Artikel „Erste Festnahmen wegen Umweltverschmutzung am Baikal“:
„Durch das Anschneiden der Pipeline schwimmt ein Ölteppich auf den Baikal zu. […] Anwohner entdeckten einen zehn Kilometer langen Ölteppich auf der Angara, dem Zufluss zum Baikalsee.“
Das ist so jedoch nicht ganz richtig bzw ganz und gar unmöglich. Erst einmal ist die Angara der einzige Fluss des Sees, der aus ihm abfließt (den Flussteil Obere Angara ganz im Norden des Sees kann man hierbei ignorieren, denn die Angara verlässt den Baikal 600km südlich). Womit sich bereits die Fließrichtung ergibt: vom Baikal weg. Dass nun ein Ölteppich entgegen der Fließrichtung sich den Flusslauf hinaufarbeiten würde, ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Doch selbst wenn ihm dies gelänge, stellte sich etwa 70km vor Erreichen des Sees ein unüberwindbares Hindernis in den Weg: der Irkutsker Stausee mit dem dazugehörenden Wasserkraftwerk. Nicht allein, dass es für einen gegen den Strom schwimmenden Ölteppich nahezu unwahrscheinlich ist, dass er gegen die Fließgeschwindigkeit der Angara bei Irkutsk ankommt – denn diese ist so hoch, dass der Fluss selbst bei sibirischsten Winterfrösten kilometerlang nicht zufriert. Als ausgeschlossen jedoch kann es gelten, dass der Ölteppich sich eine etwa 40m hohe Staumauer emporzukämpfen in der Lage ist.
Insofern ist der Artikel bei Russland Aktuell eine journalistische Meisterleistung in Sachen künstlicher Skandalisierung, denn „Ölkatastrophe am Baikal“ klingt nunmal aufregender als „Ölteppich auf ostsibirischem Fluss“. Zudem ist zugunsten des Skandals auf geografische Recherche oder, bei einem jahrelang in Russland lebenden Journalisten sollte man das vorraussetzen dürfen, entsprechende Grundkenntnisse der sibirischen Geografie vollständig verzichtet worden. An sich könnte man einen kleinen Text einer mittelmäßig beachteten Internetzeitung weitestgehend ignorierend. Leider aber hat RUFO ganze Arbeit geleistet: Der Artikel ist mit dem gleichen Blödsinn, leicht bearbeitet und sogar gleich zwei Mal, zuerst um 10:54 Uhr und dann mit Verlinkung zum Artikel bei RA um 16:37 Uhr, bei DRadio Wissen erschienen.
Was die Frage meiner Deutschstudenten hinreichend beantwortet haben dürfte: Leider nicht viel weiß man, gar nicht viel.