Stadtentwicklung, zweiter Teil
Kurz nachdem ich in Irkutsk meine Arbeit begonnen hatte, fragte mich eine deutsche Kollegin aus dem ostsibirischen Omsk, ob auch in Irkutsk neuer Baugrund entsteht, indem Holzhäuser einfach abgebrannt würden. Damals konnte ich dies aus eigener Anschauung nicht bestätigen. Während der vergangenen drei Jahre, die ich mittlerweile hier lebe und arbeite, hat sich die Stadt z.T. massiv verändert, insbesondere im Zuge der Feierlichkeiten zum 350jährigen Stadtjubiläum. Das Stadtbild hat sich an manchen Stellen radikal verändert und auf ehemaligen Standorten eben jener alten Holzhäuser, die aus Mangel an Geld und politischem Erhaltungswillen tatsächlich sehr heruntergekommen waren oder noch immer sind, entstehen und entstanden moderne, wenig effektiv gebaute Neubausiedlungen. Die unabhängige Irkutsker Zeitung „Vostochnaya Sibirskaya Pravda“ spricht im Zusammenhang mit Verdrängung sibirischer Holzarchitektur durch Brände auch von einem „Friedhof der verbrannten Häuser“ und fragt nach der Verantwortung des Irkutsker Bürgermeisters.
Auf studentische Initiative und in Kooperation der TU Irkutsk mit der TU Dresden waren im Frühjahr/Sommer zwei Architekten, die in Dresden Architektur bzw Architekturtheorie unterrichten, fünf Monate in Irkutsk zu Gast. Ihre Eindrücke von der Stadt an der Angara, deren zahlreich vorhandene, jedoch so gut wie nie genutzte oder umgesetzte städtebauliche Möglichkeiten, haben sie zu einem Artikel für die Irkutsker Deutsche Zeitung zusammengefasst (auch in russischer Übersetzung erschienen). Der Irkutskblog veröffentlicht diesen Text seinerseits, da in ihm exemplarisch der Zustand sehr vieler sibirischer Städte abgebildet ist, ebenso auch die (noch?) nicht ergriffenen Chancen, diese alten Städte für sich selbst und mit ihnen das ganze Land deutlich lebenswerter zu gestalten.
Zum Stadtbild von Irkutsk
Deutschland hat in den 60er/70er Jahren große Fehler in der Stadtplanung gemacht – Irkutsk könnte daraus lernen.
Irkutsk liegt in einem einzigartigen Natur- und Landschaftsraum und die Stadt verfügt über ein außergewöhnliches bauliches Erbe vor allem traditioneller Holzarchitektur, welche den Titel UNESCO-Weltkulturerbe verdienen würde. Das Zusammenspiel von Flusslandschaft und Stadt, aber auch die geographische Lage von Irkutsk bieten große Potentiale für zukünftige städtebauliche und wirtschaftliche Entwicklungen. Es gilt jedoch die historischen und natürlichen Schätze zu bewahren und stärker als Lebensqualität für seine Bürger und Besucher zu nutzen.
Die bauliche Geschichte und Identität von Irkutsk, der so genannte „Geist des Ortes“ prägen die Unverwechselbarkeit der Stadt. Um diese zu erhalten, muss die historische Bausubstanz bewahrt werden und neue Architektur sich angemessen auf das Bestehende beziehen. Das heißt zukünftige Bauvorhaben sollten sich in ihrer Formensprache, Maßstäblichkeit und einer für Sibirien klimagerechten Konstruktionsweise sensibel in den städtebaulichen, landschaftlichen und kulturellen Kontext integrieren. Formal willkürliche Neubauten wie beispielsweise große rosafarbene Shoppingcenter im Stadtzentrum bzw. entlang des Flusses, oder der mehrstöckige Geschosswohnungsbau bewahren das Besondere von Irkutsk ebenso wenig wie das Verstellen und Zerstören der historischen Gebäude. Oftmals beeinträchtigen erste Hochhäuser innerhalb eines Quartiers die Identität der gesamten Umgebung. Bespiele dieser Art finden sich in der ganzen Stadt. Die traditionelle Holzarchitektur stellt jedoch einen entscheidenden Beitrag zur wertvollen Irkutsker Baukultur dar. Die Bedeutung der Holztradition wird erkannt, wie sich bei neuen Projekten wie dem Quartier 130 zeigt. Die dortige Verfahrensweise ist jedoch sehr aufwendig und nicht stilgerecht. Zum Erhalt der Holzarchitektur gehört die Sanierung nach heutigen Wohnstandards sowie der teilweise Erhalt der innerstädtischen Wohnnutzung und der zu den Gebäuden gehörenden Nutzgärten. Durch die Zerstörung der Holzhäuser durch Brände oder gar Brandstiftungen, sowie das scheinbar ungebremste Ausdehnen kleiner Containerläden südlich des zentralen Marktes mit ihren dazugehörigen abweisend wirkenden Stahlzäunen, entsteht der Eindruck, dass die Holzbebauung bewusst vernichtet werden soll.
Besondere Sensibilität sollte neben dem historischen Zentrum vor allem an den Flussufern gelten, denn der innerstädtische Landschaftsraum in Irkutsk hat ebenfalls mehr zu bieten. Die derzeitige Betonfassung des Flusses wirkt sehr abweisend. Die sauberen kristallklaren Flüsse Angara und Irkut, ihre Inseln und Ufer sollten intensiver und vielfältiger genutzt werden. Öffentliche Räume könnten durchgehend entlang der Ufer erschlossen und für verschiedene Zielgruppen wie beispielsweise Radfahrer, Spaziergänger, Skater, Skilangläufer, Angler gestaltet werden. Grundsätzlich sind Plätze und Denkmäler oft sehr aufwändig mit Blumen bepflanzt, aber diese in erster Linie repräsentativen Räume bieten wenig Nutzungsspielraum. Man kann Flanieren oder auf einer Bank sitzen, andere Gestaltungstypen und alternative Nutzungen sind kaum zu finden. Es fehlen öffentliche Angebote für verschiedene Sportarten. Statt neuer Denkmäler und Blumenbeete (wie z.B. am Prospekt Marschala Schukowa in Solnezneij) könnte man Aktivitätsräume für Jugendliche schaffen beziehungsweise diese auch mit jungen Leuten oder Vereinen gemeinsam errichten. Beteiligt man bestimmte Gruppen bei der Gestaltung „ihrer“ Plätze, bleibt Vandalismus oftmals aus. Auch das Thema Wohnen am Wasser könnte stärker entfaltet werden. Dabei sollten am Fluss weniger beliebig aussehende Hochhäuser, sondern gestaffelte Bebauungen und öffentliche Zugänge zur Flusslandschaft geschaffen werden. Eine Bebauung könnte sich sensibel mit natürlichen Materialen wie Holzstegen und Holzliegeflächen sowie unversiegelten Wiesen dem Fluss nähern.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Irkutsker schätzt Eure Geschichte und stärkt Eure bauliche Identität, statt austauschbare postmoderne Glashochhäuser zu bauen! Ihr könntet heute von den Fehlern der 1960 und 70er Jahre deutscher Städte lernen. Wir rissen alte Fachwerkhäuser in den Innenstädten ab, wir ersetzten unsere Altstädte mit Neubauten und Schnellstraßen. Seit den 1990er Jahren verfolgen viele deutsche Städte den historischen Wiederaufbau und den Rückbau von Verkehrsbauten. Die Stadt Frankfurt am Main reist ihr Stahlbetonrathaus wieder ab und baut an selber Stelle die früheren Fachwerkhäuser wieder auf. Vielleicht müssen die Fehler der Stadtentwicklung selbst erfahren werden, um zu einer Haltung zu kommen, die die Geschichte und Tradition würdigt und bewahrt. Doch könnte Irkutsk aus den Fehlern anderer Städte lernen, würde viel Mühe gespart, authentische Geschichte erhalten und damit die städtische Identität gestärkt werden. Dafür bedürfte es jedoch nicht nur gut gemeinter Reden oder Schriften einzelner Fachleute, sondern verantwortungsbewusste Politiker und Investoren, die eine nachhaltige Stadtentwicklung und eine steigende Lebensqualität ihrer Einwohner statt unreflektiertes Bauen und kurzfristige Gewinne verfolgen.
Irkutsk, den 30. August 2011
Dr. Katja Friedrich und Andreas Dörrhöfer, Architekten aus Dresden