HIV in der Stadt
Irkutsk, das Paris des Ostens! Touristen, Nachtclubs mit Schaumpartys, Hotels mit Frauenservice für alleinreisende Männer, Vergnügungscenter und so weiter. Die Innenstadtfassaden leuchten, die Gehwege, Straßen und Grünanlagen werden alljährlich erneuert, auf dass die ostsibirische Metropole zum 350jährigen Stadtjubiläum 2011 glänzen und strahlen möge.
Nur ein bisschen stört die neueste offizielle Statistik über HIV-Infektionen der vergangenen 5 Jahre, die für den 2,5Mio Einwohner fassenden Oblast erstellt wurde. Danach ist Irkutsk zum zweitinfektiösesten Oblast ganz Russlands aufgestiegen. Zu Beginn des Jahres 2010 wurden 29.359 Personen mit HIV-Infektion registriert, also 1,2% der Gesamtbevölkerung. Vor Beginn des von der Regierung entwickelten Anti-AIDS-Projektes 2006 waren 19.429 Menschen als infiziert bekannt. Jährlich kommen also etwa 2.000 neue Infektionen hinzu, das sind 5,5 pro Tag. Weiterhin wurden im erhobenen Zeitraum 4.307 Kinder von infizierten Müttern zur Welt gebracht, allein 733 im Jahr 2009.
Nicht genannt werden die Orte, in denen die Infektionsrate am höchsten liegt. Ebensowenig, welche möglichen Gründe zu dieser katastrophalen Lage geführt haben und wie sich das auf die Sterberate in Irkutsk auswirkt. Aber vor allem: wie hoch der Anteil unter den jungen Menschen des Oblastes, aber auch ganz Russlands ist, da die höchste Ansteckungsgefahr vorrangig in der Bevölkerungsgruppe 16 bis 35 Jahre liegt.
Behauptungen, dass etwa wilder Klo-Sex Minderjähriger in Nachtclubs zu solchen Zahlen führt, sind wohl eher porno-fantastischer Unsinn. Resoluter ist da schon der Vorschlag, man solle doch einfach alle „diese Mädchen“, die auf Parkplätzen und Straßen herumstehen, gemeinsam mit den Drogenabhängigen einsperren. Erstaunlich selten hingegen wird das Thema Verhütung angesprochen.
Tatsächlich wird lieber einmal mehr abgetrieben als zum Kondom gegriffen. Seiten wie www.aborti.ru geben umfangreich Auskunft über Abtreibungsarten und was alles zu tun und zu beachten ist, auch wenn grundsätzlich für das ungeborene Leben plädiert wird. Über Verhütung ist allerdings nichts zu erfahren. Interessanter ist, dass sich diese und andere Seiten fast ausschließlich an Frauen richten. Nicht nur, dass die jungen Frauen die Risiken eines Schwangerschaftsabbruches beinah allein zu tragen hätten – ihnen wird in der Regel auch die Verantwortung für eine Schwangerschaft zugesprochen. Über Verantwortung des Mannes beim Sex wird mehrheitlich, etwa im russischen Wikipedia-Eintrag zu Problemen rund um Schwangerschaftsabbrüche, geschwiegen.
Insofern ist fraglich, ob aus den Statistiken sinnvolle Schlüsse gezogen werden oder ob das glitzernde Irkutsk im kommenden Jubiläumsjahr nicht doch auch den Aufstieg an die Spitze der russischen HIV-Charts „feiern“ wird.