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Architektur/Ästhetik/Irkutsk

Novostrojki

Posted by Sascha Preiß on

Wohnt ihr eigentlich in einem Plattenbau?, fragte mich jemand, den ich nicht kannte und der sehr weit weg wohnte, ungeheuer weit hinter dem Horizont, den ich von hier aus sehen kann, wenn die Fenster nicht vereist sind, aber im Internet spielt das ja nur bedingt eine Rolle.

Vermutlich existierte im Fragenden, da er wusste, dass ich in Russland, und zwar ziemlich tief in der finsteren sibirischen Provinz lebte, ein dunkles Imago vom sowjetischen Sozialismus, wie er einem feurigen, dröhnenden, omnipotenten Dämon gleich mit gewaltiger Energie und energischer Gewalt über das riesige Reich gezogen war, sich von den Kremlmauern erhebend, von der Zentrale sich ausbreitend, begleitet von wütenden Propheten und grimmigen Aposteln in allerlei Uniformen, fliegend bis in die trübsten, schlafendsten, totesten Winkel seines Imperiums, und gen Osten entlang der eisernen Ader TransSib rauschend, kreischend, fauchend, ein giftiger Cherub in eiserner Rüstung, und überall, wo es ihm möglich, notwendig oder zu Versuchszwecken angebracht scheint, errichtet er etwas, monströse Werke seines die Natur unterwerfenden Geistes, Industrie, Staudämme, Kraftwerke, umgeben von ins unwürdige Nichts gerammte Plattenbauten als Wohneinheiten, Batterien zur Versorgung der Anlagen mit menschlicher Arbeitskraft. Diese Funktionsbauten prägen den Anblick der sowjetischen Städte bis heute, eine Epoche des maschinellen Fortschritts, erdacht mit der Euphorie technisch zu errichtenden Heils, eine Chimäre der Jahrhundertwende, ausgeführt nach Stalins lang ersehntem Tod, nachdem dieser als Erzengel des Kommunismus tiefe Spuren ins Land furchte, mit Palästen vom Moskauer Erdreich und bis zum Himmel, mit einem blutigen Netz aus Mülldeponien für die Widerspenstigen im restlichen Land. Chrushchows Paläste jedoch sind glanzlos, zwergenwüchsig, grau, trocken, funktional, rational, hässlich, doch belebten sie das Reich und illustrierten den Ausbruch aus dem Frost ins Tauende, Warme, halbwegs Moderne – eine Vision, die sich in den führenden Köpfen des Riesenreiches fast bis zum Schluss hielt als Wandbild, uralte, verschrumpelnde, schimmelnde, halbblinde, taube Köpfe, deren innere Mechanik sich nur unter Umständen bewegte, vielleicht nur mit der tröstenden Kraft des Wässerchens, doch eigentlich lahmte und oft genug still stand wie der ganze verdammte Fortschritt und die scheiß schlechten Autos auf den miserablen Straßen und die rostigen Turbinen in den schon wieder einstürzenden Hallen und zum Schluss nicht mal mehr die Raketen richtig Bock hatten, irgendwohin aufzubrechen, geschweige denn der wegdämmernde, eisern zugehängte, irgendwann einmal neu gewesene Mensch.

Ob wir in so etwas wohnten, wollte der also hinterm Horizont wissen, aber dennoch war ich der Ansicht, die Frage sei irgendwie freundlich gestellt und ernst gemeint, also sah ich einen Anlass, sie zu beantworten: nein. Nicht mehr. Auch wenn wir die längste Zeit unseres sibirischen Lebens in solchen, heute ganz ohne jede nostalgische Verklärung als Viehsilos, Schlafställen benannten Steinquadern verbrachten. Und davor, so wie es auch vor Geburt der Chrushchowkas gewesen ist, lebten wir in einer sibirischen Hütte, ein Babajaga-Häuschen im Stadtzentrum, hölzern, knorrig, mit krummnasigem Charakter, für uns wie für den gar nicht schrumpeligen Alten, der darin hauste, furchtbar liebenswert, eine zu kurze Zeit brachten wir darin zu, als Gäste, und eines dieser meist ungepflegten Schlösschen verbrennt jeden Tag, denn mit dem Geruch von Märchen und Freiluftkloake ködert man heute niemanden, sie verkörpern das Alte, Überkommene, Matschige, Hygienelose, Vorzivilisatorische, Eingeborene, Höhlenhafte, Eiszeitliche, Verachtenswerte, auch wenn sie, sollten sie gepflegt sein oder gänzlich neu errichtet, Schönheit besitzen. Doch meist stehen sie im Weg.

Und damals, zur Zeit der metallischen Visionen, versprachen die aus platten Einzelteilen und im ganzen Land völlig identisch, humorlos, planmäßig errichteten Bauten gegenüber dem sibirischen Holzgehäuse einen wesentlichen Aufstieg, Ansehen, Komfort, Elektrizität und fließend Wasser. Dabei blieb es. Doch die in ihnen lebenden Familien wuchsen und es wurde nicht mehr gebaut, denn die Räder in den Hirnen der Uralten, die an den Hebeln saßen und kaum mehr sprechen konnten, standen still. Also blieben die Familien zusammengepresst in die immer enger werdenden Platten, die einfach nicht aus ihren Nähten platzen wollten, weil sie zu massiv errichtet waren. Erst ganz spät, nachdem das Riesenreich zusammengebrochen war und es wirklich unübersichtlich wurde ringsum, machte es plopp und wer konnte, rette sich irgendwo hin oder machte sinnlos viel Geld mit irgendwas, wahlweise auch sein Unglück oder was auch immer grad greifbar war, erst dann entstanden neue Häuser, die sprossen so hektisch aus dem Boden wie sonst nur die Blumen und Blätter im sibirischen Frühling, und fraßen dabei die Holzhüttchens weg wie warme Semmeln, als gäbe es in Kürze nichts mehr, und neulich stand ein noch nicht alter Mann in dieser Wohnung in der quasi hundertneunzehnten Etage und schaute ganz nach unten und sagte, in dem Haus, das noch bis vor wenigen Jahren da stand, wo jetzt unser ebenso hochaufragendes Nachbarhaus steht, in dem sei er geboren worden und habe sprechen gelernt, aber er empfinde nichts deswegen, er hat auch kein Foto davon und ist schon ganz gut so, wie es ist.

Und wir haben also in der knappen Zeit unserer Anwesenheit alle Stufen sibirischer Zivilisation des 20. Jahrhunderts durchlaufen und können, wenn es Sommer wird und die Flora der Stadt vor Glück explodiert wie sonst nur Immobilienpreise und Feuerwerk, beruhigt ausziehen und das Weite suchen.

Architektur/Irkutsk

Stadtentwicklung, zweiter Teil

Posted by Sascha Preiß on

Kurz nachdem ich in Irkutsk meine Arbeit begonnen hatte, fragte mich eine deutsche Kollegin aus dem ostsibirischen Omsk, ob auch in Irkutsk neuer Baugrund entsteht, indem Holzhäuser einfach abgebrannt würden. Damals konnte ich dies aus eigener Anschauung nicht bestätigen. Während der vergangenen drei Jahre, die ich mittlerweile hier lebe und arbeite, hat sich die Stadt z.T. massiv verändert, insbesondere im Zuge der Feierlichkeiten zum 350jährigen Stadtjubiläum. Das Stadtbild hat sich an manchen Stellen radikal verändert und auf ehemaligen Standorten eben jener alten Holzhäuser, die aus Mangel an Geld und politischem Erhaltungswillen tatsächlich sehr heruntergekommen waren oder noch immer sind, entstehen und entstanden moderne, wenig effektiv gebaute Neubausiedlungen. Die unabhängige Irkutsker Zeitung „Vostochnaya Sibirskaya Pravda“ spricht im Zusammenhang mit Verdrängung sibirischer Holzarchitektur durch Brände auch von einem „Friedhof der verbrannten Häuser“ und fragt nach der Verantwortung des Irkutsker Bürgermeisters. 

Auf studentische Initiative und in Kooperation der TU Irkutsk mit der TU Dresden waren im Frühjahr/Sommer zwei Architekten, die in Dresden Architektur bzw Architekturtheorie unterrichten, fünf Monate in Irkutsk zu Gast. Ihre Eindrücke von der Stadt an der Angara, deren zahlreich vorhandene, jedoch so gut wie nie genutzte oder umgesetzte städtebauliche Möglichkeiten, haben sie zu einem Artikel für die Irkutsker Deutsche Zeitung zusammengefasst (auch in russischer Übersetzung erschienen). Der Irkutskblog veröffentlicht diesen Text seinerseits, da in ihm exemplarisch der Zustand sehr vieler sibirischer Städte abgebildet ist, ebenso auch die (noch?) nicht ergriffenen Chancen, diese alten Städte für sich selbst und mit ihnen das ganze Land deutlich lebenswerter zu gestalten.

Zum Stadtbild von Irkutsk

Deutschland hat in den 60er/70er Jahren große Fehler in der Stadtplanung gemacht – Irkutsk könnte daraus lernen.

Irkutsk liegt in einem einzigartigen Natur- und Landschaftsraum und die Stadt verfügt über ein außergewöhnliches bauliches Erbe vor allem traditioneller Holzarchitektur, welche den Titel UNESCO-Weltkulturerbe verdienen würde. Das Zusammenspiel von Flusslandschaft und Stadt, aber auch die geographische Lage von Irkutsk bieten große Potentiale für zukünftige städtebauliche und wirtschaftliche Entwicklungen. Es gilt jedoch die historischen und natürlichen Schätze zu bewahren und stärker als Lebensqualität für seine Bürger und Besucher zu nutzen.

Intaktes Holzhaus

Die bauliche Geschichte und Identität von Irkutsk, der so genannte „Geist des Ortes“ prägen die Unverwechselbarkeit der Stadt. Um diese zu erhalten, muss die historische Bausubstanz bewahrt werden und neue Architektur sich angemessen auf das Bestehende beziehen. Das heißt zukünftige Bauvorhaben sollten sich in ihrer Formensprache, Maßstäblichkeit und einer für Sibirien klimagerechten Konstruktionsweise sensibel in den städtebaulichen, landschaftlichen und kulturellen Kontext integrieren. Formal willkürliche Neubauten wie beispielsweise große rosafarbene Shoppingcenter im Stadtzentrum bzw. entlang des Flusses, oder der mehrstöckige Geschosswohnungsbau bewahren das Besondere von Irkutsk ebenso wenig wie das Verstellen und Zerstören der historischen Gebäude. Oftmals beeinträchtigen erste Hochhäuser innerhalb eines Quartiers die Identität der gesamten Umgebung. Bespiele dieser Art finden sich in der ganzen Stadt. Die traditionelle Holzarchitektur stellt jedoch einen entscheidenden Beitrag zur wertvollen Irkutsker Baukultur dar. Die Bedeutung der Holztradition wird erkannt, wie sich bei neuen Projekten wie dem Quartier 130 zeigt. Die dortige Verfahrensweise ist jedoch sehr aufwendig und nicht stilgerecht. Zum Erhalt der Holzarchitektur gehört die Sanierung nach heutigen Wohnstandards sowie der teilweise Erhalt der innerstädtischen Wohnnutzung und der zu den Gebäuden gehörenden Nutzgärten. Durch die Zerstörung der Holzhäuser durch Brände oder gar Brandstiftungen, sowie das scheinbar ungebremste Ausdehnen kleiner Containerläden südlich des zentralen Marktes mit ihren dazugehörigen abweisend wirkenden Stahlzäunen, entsteht der Eindruck, dass die Holzbebauung bewusst vernichtet werden soll.

Besondere Sensibilität sollte neben dem historischen Zentrum vor allem an den Flussufern gelten, denn der innerstädtische Landschaftsraum in Irkutsk hat ebenfalls mehr zu bieten. Die derzeitige Betonfassung des Flusses wirkt sehr abweisend. Die sauberen kristallklaren Flüsse Angara und Irkut, ihre Inseln und Ufer sollten intensiver und vielfältiger genutzt werden. Öffentliche Räume könnten durchgehend entlang der Ufer erschlossen und für verschiedene Zielgruppen wie beispielsweise Radfahrer, Spaziergänger, Skater, Skilangläufer, Angler gestaltet werden. Grundsätzlich sind Plätze und Denkmäler oft sehr aufwändig mit Blumen bepflanzt, aber diese in erster Linie repräsentativen Räume bieten wenig Nutzungsspielraum. Man kann Flanieren oder auf einer Bank sitzen, andere Gestaltungstypen und alternative Nutzungen sind kaum zu finden. Es fehlen öffentliche Angebote für verschiedene Sportarten. Statt neuer Denkmäler und Blumenbeete (wie z.B. am Prospekt Marschala Schukowa in Solnezneij) könnte man Aktivitätsräume für Jugendliche schaffen beziehungsweise diese auch mit jungen Leuten oder Vereinen gemeinsam errichten. Beteiligt man bestimmte Gruppen bei der Gestaltung „ihrer“ Plätze, bleibt Vandalismus oftmals aus. Auch das Thema Wohnen am Wasser könnte stärker entfaltet werden. Dabei sollten am Fluss weniger beliebig aussehende Hochhäuser, sondern gestaffelte Bebauungen und öffentliche Zugänge zur Flusslandschaft geschaffen werden. Eine Bebauung könnte sich sensibel mit natürlichen Materialen wie Holzstegen und Holzliegeflächen sowie unversiegelten Wiesen dem Fluss nähern.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Irkutsker schätzt Eure Geschichte und stärkt Eure bauliche Identität, statt austauschbare postmoderne Glashochhäuser zu bauen! Ihr könntet heute von den Fehlern der 1960 und 70er Jahre deutscher Städte lernen. Wir rissen alte Fachwerkhäuser in den Innenstädten ab, wir ersetzten unsere Altstädte mit Neubauten und Schnellstraßen. Seit den 1990er Jahren verfolgen viele deutsche Städte den historischen Wiederaufbau und den Rückbau von Verkehrsbauten. Die Stadt Frankfurt am Main reist ihr Stahlbetonrathaus wieder ab und baut an selber Stelle die früheren Fachwerkhäuser wieder auf. Vielleicht müssen die Fehler der Stadtentwicklung selbst erfahren werden, um zu einer Haltung zu kommen, die die Geschichte und Tradition würdigt und bewahrt. Doch könnte Irkutsk aus den Fehlern anderer Städte lernen, würde viel Mühe gespart, authentische Geschichte erhalten und damit die städtische Identität gestärkt werden. Dafür bedürfte es jedoch nicht nur gut gemeinter Reden oder Schriften einzelner Fachleute, sondern verantwortungsbewusste Politiker und Investoren, die eine nachhaltige Stadtentwicklung und eine steigende Lebensqualität ihrer Einwohner statt unreflektiertes Bauen und kurzfristige Gewinne verfolgen.

Irkutsk, den 30. August 2011

Dr. Katja Friedrich und Andreas Dörrhöfer, Architekten aus Dresden

Architektur/Ästhetik/Irkutsk/Ulica

Stadtentwicklung

Posted by Sascha Preiß on