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Russland/Universität

Pädagogische Maßnahme

Posted by Sascha Preiß on

Ein junger Student im vierten Studienjahr, nennen wir ihn Sergej, hatte sich als au pair nach Deutschland beworben. Die endgültige Zusage ließ ein wenig auf sich warten, sicherheitshalber hat er sich aber auch schon um ein Visum bemüht. Nach der endgültigen Zusage wird er das Visum abholen und dann sofort einen Flug nach Deutschland buchen. Zusätzlich wird er von der Universität zwei Urlaubssemester erbitten.

In der Nacht zum Donnerstag vergangener Woche klingelte sein Handy, ein etwas nervöser Mensch gratulierte ihm in deutscher Sprache. Wofür, fragte Sergej, außerdem ist es 5 Uhr morgens. Der nervöse Mensch in Westeuropa entschuldigte sich, das sei ihm unangenehm, er habe die Zeitverschiebung nach Sibirien nicht bedacht, aber Sergej könne ab 01.12.2010 als au pair in einem Kinderheim in Jena anfangen.

Ein euphorischer junger Student stürmte zur Universität, ins Dekanat der Fakultät für deutsche Sprache, an der er studiert, um dort alles für ein Akademisches Jahr bzw 2 Urlaubssemester vorzubereiten. Die Dekanin erklärte, dass dazu ein Antrag notwendig sei inclusive Zeugnisskopien und ausführlicher Begründung. Freitag morgen eilte unser junger Student erneut ins Dekanat, um den fertigen Antrag abzugeben. Dort erfuhr er von der Dekanin, dass für die Beantragung eines Akademischen Jahres inzwischen neue Gesetze vorlägen. Darin sei eine Bestimmung enthalten, welche vorsieht, dass nur diejenigen Studierenden, die in sämtlichen Fächern ein „ausgezeichnet“ vorweisen können, überhaupt antragsberechtigt sind. Das, wie sie aus seinen Unterlagen entnehmen könne, träfe auf ihn jedoch nicht zu.

Wie es dem jungen Mann gelungen ist, wissen wir nicht, doch am darauf folgenden Montag hatte er in seiner eigenen Angelegenheit einen Gesprächstermin mit dem Rektor der Universität vereinbart. Entsprechend nervös verließ er den laufenden Unterricht, die gesamte Studienklasse sah ihm fiebrig die Daumen drückend nach. Einige Minuten später kehrte er jedoch sehr geknickt zurück. Der Rektor habe ihm versichert, berichtete er traurig, dass ein au pair-Aufenthalt in Deutschland kein hinreichender Grund für ein Akademisches Jahr sei, selbst für einen Studenten der deutschen Sprache nicht. Er habe ihm daher den einzig möglichen Weg angeboten: sich vollständig von der Universität exmatrikulieren zu lassen und nach Rückkehr das Studium von vorne zu beginnen.

Vier Jahre Lebenszeit standen nun auf dem Spiel, verloren zu gehen. In ökonomischen Werten für die Universität ausgedrückt: 116.000 Rubel Mehreinnahmen, denn 29.000 Rubel / rund 700 kostet ein Jahr Deutschstudium an dieser Universität. Oder aber die Chance auf ein Jahr in Deutschland verstreichen zu lassen.

Die Dozentin bot dem hoffnungslosen Studenten ihre Hilfe an, so gut sie könne. Nach dem Unterricht klopfte sie am Dekanatsbüro und fragte ihre Vorgesetzte, wie es um die Sache ihres Studenten Sergej denn nun bestellt sei und was man tun könne. Die Dekanin erwiderte ihre Frage mit einem außerordentlich breiten Lächeln, nicht ohne Arroganz. Der Student Sergej habe nun einmal keine besonders guten Noten in der Fremdsprache Englisch. Ob das denn für ein au pair-Jahr in Deutschland denn eine Rolle spiele, wollte die Dozentin wissen. Eine grundsätzliche, antwortete die Dekanin. Aber die Kollegin solle sich wirklich keine Sorgen machen, schließlich wisse sie doch, wie man hier solche Fälle verhandelt. Und die Freundlichkeit der Dekanin wuchs mit jedem Wort. Selbstverständlich wird er sein Akademisches Jahr zugesprochen bekommen. Die Universität wollte sich aus guten Gründen ein Bild von ihm machen und nachforschen, warum er nicht vorbildlich lerne. Das sei als pädagogische Maßnahme zu verstehen. Schon morgen wird Sergej ein zweites Treffen beim Rektor haben.

Die Dozentin unterließ es, den jungen Studenten davon in Kenntnis zu setzen.

Universität

Etappen einer Erregung

Posted by Sascha Preiß on

Das russiche Verhältnis Dozent zu Student ist eine klare Sache, nur muss man sich deswegen nicht damit abfinden. Ich brauchte für einen Kollegen, der eine Vorliebe für veraltete Lehrtechnik hat, einen Overhead-Projektor. (In modernen repräsentativen Seminarräumen mancher Universitäten befinden sich inzwischen interaktive Leinwände, quasi iPads im dreifachen A0-Format.) Glücklicherweise fand sich ein sowjetischer Polylux noch in der Ecke eines vergessenen Raumes, auch die Lampen taten wie sie sollten, ich konnte ihn haben. Als ich ihn mitnehmen wollte, hielt mich ein Dozentenkollege zurück, das müsse ich nicht tun, er würde statt dessen einen Studenten beauftragen, ihn zu tragen. Ich protestierte etwas, der auserwählte Student aber tat sofort wie geheißen. Anderntags fragte mich eine Kollegin auf dem Weg zum Seminarraum, warum ich denn eine Tasche mit Laptop und eine Tasche mit Beamer tragen würde. Für so etwas habe sie immer ein paar hilfsbereite Studenten in der Nähe. Ich wollte etwas erwidern, aber noch immer hatte ich nicht genügend Empörung angesammelt. Dann aber die Warteschlange. Vor einem der universitätseigenen Imbissstände stehen Studenten, um sich eine Bulotschka oder eine Piroschka zu kaufen. Von irgendwoher rauscht eine Dozentin direkt auf die Pole-Position und ruft der Bedienung ihre Wünsche zu. Da habe ich Luft geschöpft und sie ein bisschen angebrüllt. Sehr wahrscheinlich, dass sie mein Gesicht auf Lebenszeit gespeichert hat, so erschrocken hat sie sich umgedreht, mit solch intensivem Zorn sah sie mich an. Meine Frage, ob es für sie ein Sonderrecht gäbe, alle anderen würden ebenfalls warten, bis sie dran wären, beantwortete sie jedoch nicht, sie zog ohne Ware ab. Die Bedienung sagte dann, sie habe angenommen, ich sei ebenfalls Student, aber sie sehe das genauso und so weiter. Die Studenten in der Schlange schwiegen verkniffen mit geröteten Wangen.

minimal stories/Universität

minimal story 3

Posted by Sascha Preiß on

Für angehende Erstsemester gibt es in Irkutsk besondere Immatrikulationsrituale. Eines davon ist das kollektive Reinigen der zukünftigen Seminarräume. Fünf junge Studierende, die jemand ohne mein Wissen dazu gebeten hatte, verbrachten ihren Vormittag daher heute in meinem Büro, um es mit vereinten Kräften zu putzen, Fenster, Regale, Tische. Eine meiner Kolleginnen wies sie bei der Arbeit an. Die Studierenden taten bereitwillig, wie ihnen aufgetragen, ohne sich gegen diese Art Einführung in das kommende Studentenleben zu wehren. Immerhin konnten sie so schon einmal einige Lehrmaterialien aus der Nähe betrachten, mit denen sie demnächst arbeiten werden. Noch bis Ende August kann man täglich in allen Gängen des Universitätsgebäudes kleine Erstsemester-Putzkolonnen beobachten, wie sie sich und ihre Umgebung auf das Studium vorbereiten. Die Spuren jahrzehntelangen Subbotnik-Trainings lassen sich nicht ohne weiteres leugnen. Angesichts des tatsächlichen Schmutzes in meinem Büro bin ich meinen zukünftigen Élèven zutiefst dankbar für ihre Arbeit.