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Begraben/Transsib

Der Tote im Zug

Posted by Sascha Preiß on

Da fuhr einmal ein Zug von Wladiwostok nach Pensa und als er zwischendurch in Irkutsk ankam, wurde ein Reisender tot aufgefunden. Das ist leider alles.

Und damit dürfen Sie Ihren Assoziationen freien Lauf lassen: Stellen Sie sich vor, wir befinden uns im tiefsten Russland, unternehmen eine mythische Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Und im Nachbarabteil, unbemerkt von allen Mitreisenden, stirbt ein Mensch. Da kräuselt sich doch alles durch den Kopf: Von Höhepunkten des Kriminalfilms im 20. Jahrhundert zu Tiefpunkten des zeitgenössischen Russlandfilms aus westlicher Sicht. Alles, was mit unbekannten Toten in fahrenden Zügen zu tun hat, soll erlaubt sein. Daraus knüpfen wir uns schon eine mehr oder weniger stringente Geschichte zusammen, keine Angst. Oder vielleicht doch: Womöglich halten Sie es eher mit Horror oder aufregenden übersinnlichen Phänomenen, zudem jeder Menge unfreiwilliger Komik? Oder aber Ihnen steht der Sinn nach Realismus, ein bisschen was mit Psychologie und Sozialdrama, möglicherweise geht es um einen Handlungsreisenden (ein suizidgefährdeter Mann mit tragischer Familiengeschichte) oder Sie mögen es ganz und gar fantastisch: starb der Mann handlungsreisend durch verschiedene Roman/Theater/Filmhandlungen?. Oder aber Sie sehen das Ganze mehr so prosaisch und der Tote ist einfach nur einer von denen, die sich in Russland ja sowieso immer und überall zu Tode saufen. Wie wäre Ihnen die Geschichte am liebsten? Aber auf Fragen zu erfahren, wie die Geschichte wirklich war, darf nur mit Ja oder Nein geantwortet werden.

Poetisch-wundersamer Abspann.

Ulica

An der Haltestelle

Posted by Sascha Preiß on

In der Griboedov-Straße wurde nun endlich der staubige Sandweg geteert. Die Straßenbahn hielt an der Haltestelle Zhukovskovo, direkt vor dem Holzhaus Nr. 38. Die mittlere Wagentür öffnete sich, eine schlanke Frau mit zwei Plastebeuteln vom Markt stieg aus, stolperte und fiel von der zweiten Stufe ungebremst und volles Rohr auf die Fresse, direkt mit ihrem von Schreck geöffnetem Mund auf den noch dampfenden schwarzen Asphalt. Ein paar Minuten blieb sie reglos so liegen, dann rappelte sie sich auf und ging fort, im Asphalt steckte ein abgebrochener fauliger Schneidezahn. Die nächste Straßenbahn hielt und erneut stolperte beim Ausstieg aus der Mitteltür eine hochgewachsene schlanke Frau mit zwei Beuteln voll Gemüse vom Markt und krachte volles Rohr mit der Fresse auf den dampfenden frischen Asphalt. Nach einigen Minuten hatte sie sich aufgerappelt und ging ohne den größten Teil ihres linken oberen, kariösen Schneidezahns, der im Asphalt steckte, von dannen. Als sich bei der nächsten Bahn die Türen öffneten, stiegt niemand aus. Wohingegen bei der übernächsten Bahn aus der vorderen und der hinteren Wagentür je eine junge Frau fielen und mit der Fresse voran volle Kanne auf den Asphalt knallten, neben ihren Einkaufstüten minutenlang liegen blieben und dann mit abgebrochenen, angefaulten Zähnen weitergingen. Aus der nächsten Bahn fielen eine ältere Frau und zwei junge dürre Männer heraus, die Frau eine modische Pirouette drehend, da sich eine ihrer Einkaufstüten an einer herrausstehenden Schraube verfangen hatte. Alle drei krachten sie richtig heftig auf die Fresse, dass man ihre modrigen Kiefer brechen hörte, und blieben eine Weile so liegen. Aus der nächsten Bahn stolperten aus allen drei Türen insgesamt sieben Personen und donnerten mit ihren Fressen volles Rohr auf den Asphalt, so dass dann schon mehr Zähne im Asphalt steckten, als die Straßenbahnschaffnerin selbst noch hatte, als sie ebenfalls ausstieg und sich die Zigarette ins Maul steckte, dann aber – krach! – mit der Fresse voran auf den Asphalt bretterte. Sie verlor zwei Goldkronen. Aus der Bahn auf der Gegenrichtung knallte ebenfalls ein Mann ganz exakt auf die Fresse, obwohl er gar keine Vorderzähne mehr hatte und dort gar nicht asphaltiert worden war, sondern nur einige Müllkübel überquollen, zwischen denen der Mann aber nicht weiter auffiel. Die nächste anrollende Bahn war mir inzwischen völlig egal, daher rief ich Kolja an und schlug vor, am Markt ein paar Bengels ein paar Rubel abzunehmen, die wir dann gehörig auf den Kopf hauen wollten.