Junge oder Mädchen

Neulich auf dem Spielplatz. Eine junge Mutter mit ihrem jungen Kind gesellt sich zu uns an den Sandkasten, setzt ihr Kind neben unseres und schüttet Förmchen hinzu. Lili interessiert sich sogleich für die neuen Spielgeräte, ergreift eines, eben jenes möchte das andere Kind auch. Die junge Mutter schlichtet, gib es doch dem Jungen, du kannst später noch damit spielen. Wir schauen uns kurz an und überlegen, ob wir intervenieren sollen, es grammatikalisch im Gespräch mit Lili verdeutlichen (Im Russischen kennzeichnen die finite Verbform 3.Pers. Singular und die Formen des Präteritums das grammatikalische, bei Lebewesen auch das biologische Geschlecht.) oder einfach gar nichts sagen. Oft genug stellen die anderen Mütter irgendwann sowieso fest, dass da gar kein Junge mit ihrem Kind im Sand spielt. Und dann wird die Frage an uns gerichtet, von den Müttern oder älteren Kindern, warum das Mädchen wie ein Junge aussieht. Es kann auch vorkommen, dass Kinder um die geschlechtliche Identität unserer Tochter streiten.

Lili ist für das russische Verständnis außerordentlich maskulin (das russische Adjektiv für burschikos – мальчишеский – wird vermutlich nicht besonders häufig verwendet): Sie hat kurzes Haar, trägt oft blaue und erdfarbene Kleidung, darf sich auf Spielplätzen schmutzig machen und in flache Pfützen springen. Russische Mädchen werden stattdessen grundsätzlich in rosa und helle, glitzernde Sachen gekleidet und ihnen wird frühzeitig eine gesittete Spielweise beigebracht, Hosenböden hingefallener Mädchen werden an Ort und Stelle saubergeklopft. So entstehen Mädchen, die für uns Träger von lutherisch-reformierten Geschmacksmustern mit deutlich zu viel Glitzer durchs Leben gehen. Immer wieder sind Mütter zu beobachten, die mit Töchtern in blütenheller Kleidung einen Spielplatz betreten. Für die Töchter beginnt damit ein Parcour von Verboten, denn es gilt das Reinheitsgebot der Wäsche, demgegenüber das Spielverlangen des Kindes minderrangig ist. Jungs hingegen genießen volles Schmutz- und Schreirecht. Die Farbwahl der Kleidung (rosa oder blau) ist für die Mitmenschen Signal, welche Verhaltensweisen für das jeweilige Kind angebracht sind. Kindererziehung ist eine öffentliche Angelegenheit. Mit besonderem Eifer geben vor allem ältere Frauen ihre pädagogischen Ratschläge, die nicht zur Diskussion stehen, jederzeit gern weiter, dass ein Kind aufrecht zu tragen schlecht für dessen Wirbelsäule sei, dass eine Brille in so jungem Alter schädlich sei und dass Mädchen in Mädchenkleidung gehören. Dass das bekannte Farbschema blauer Junge – rosa Mädchen noch vor 100 Jahren genau umgedreht war, hilft als Argument natürlich wenig. Mit Begriffen wie Gender oder soziale Geschlechterrollen braucht man auch nicht zu wedeln – mehrheitlich wird von jungen Eltern in ihrer Erziehung die Einhaltung der Norm befolgt, und die besagt nun einmal, dass es Männer und Frauen gibt und ein Mann soll ein Gewehr bedienen können und eine Frau soll sich schön machen können. Abweichungen von der Norm sind Irrwege bzw die Wege von Irren.

Der junge Hochschullehrer lud uns zu einem kleinen Familientreffen und Schaschlikgrillen in seinen Garten. Lili freute sich über die Katzen auf dem Hof und trug sie herum, sprang auf dem Gartensofa auf und ab, rannte mit Papas und Mamas Schuhen über die Wege und sang aus voller Kehle ihre Lieblingslieder. Die Tochter des Hochschullehrers schaute interessiert, aber verschämt zu. Die Frau des Hochschullehrers sagte in einem ruhigen Moment, dass sie befürchte, ihre Tochter wird ab morgen ähnlichen Unsinn machen, das gehöre sich doch eigentlich nicht. Als die Schaschliki fertig waren, aß Lili von den Spießen der Erwachsenen, sichtlich hungrig, mit geröteten Wangen. Die Tochter des Hauses, in gleichem Alter, saß mit bezopften Haaren und glitzerndem Sonntagskleid indessen vor einem Teller mit extra für sie gekochtem Fleisch, das vom Grill sei für Kinder gefährlich. Das Verhältnis der beiden Familien, eigentlich sehr freundlich und aufgeschlossen, hat sich nach diesem Besuch nicht mehr weiterentwickelt.

Einem Kind sollte bewusst sein, dass die Genderfestlegung höchste Priorität genießt.

 


Sascha Preiß

http://www.pselbst.de

siehe http://www.pselbst.de/irkutsk/uber-mich/

Comments ( 7 )

  1. L.Okladnikova
    oh je ) ich wuerde ganz gerne mit Dir viele Sachen diskutieren ) vielleicht dann ab Montag naechste Woche - beim Fischkuchen? Ljuba
  2. Björn Schütte
    Hey Arndty, Leider hat sich diese tradierte Denkweise nicht nur in den Köpfen der russischen Lebenswelt, als fester Bestandteil ihres Wertemaßstabs, festgesetzt. Auch in den vermeintlich so fortschrittlichen Industrienationen tut man sich schwer.Ohne auf das Thema der Erziehung explizit einzugehen, da es glücklicher Weise noch keine standardisierte Formel gibt, ist doch seit den 70er Jahren und im Osten Deutschlands weit früher das diesbezügliche Denken erschüttert worden. Die Konsequenz einer 200 jährigen Struktur lässt sich jedoch nicht in 40 Jahren aufweichen. Denn Verhaltensweisen sind an gesellschaftlich geforderten Klischees gekoppelt. Sogesehen ist dies mit dem Machterhalt herrschender Klassen verbunden, die ja auch erst die Regeln ihres Handelns von den Beherrschten in die Hand bekommen. In der heutigen Welt ist eine zeitgemäße Beurteilung antiquierter Werte natürlich unerlässlich, doch wie weit kann eine gesellschaftliche Identität sein, wenn es an den grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse mangelt. Hierzu kann ich die maslowsche Bedürfnispyramide empfehlen, die dir wahrscheinlich nicht neu ist. Nebenbei wäre es ein forschungsweisendes Interesse, diese mit der Transaktionsanalyse zu kombinieren. Denn bei der sozialen Kommunikation der verschiedenen Ich-Zustände, wie bei der Begegnung deiner Tochter mit der russischen Seele der Kindererziehung, wird immer auch der physische und psychische Backround abgerufen. Interessant zu diesem Thema wäre noch Judith Butler zu nennen. Sie untersuchte, vornehmlich in eigener Sache, die vorstrukturierte Dialektik der Sprache, die ,im Ausruf und der nonverbalen Zuschreibung, gesellschaftliche Codierungen festlegt. Entschuldige das weite Ausholen, aber die Worte purzeln aus dem präfontalen Kortex. Sehr schön gender trouble praxisnah zu leben, ohne so radikal vergangenes umzukehren, und sich eine kmplett neue soziale Nische suchen zu müssen. Die Instrumente und das zu benötigende Wissen ist, jedenfalls bei uns, vorhanden. Doch glaube mir, das die westliche Welt ähnlich schwer mit der Neuinterpretation des eigentlich Selbstverständlichen umgehen kann. Wir hören voneinander! Bis denne...
  3. p.selbst
    Lieber Herr Schütte, vielen Dank für Ihren interessanten Kommentar, aber ich bin gar nicht Herr Arndt, der meinen Text über seinen facebook-account geteilt hat. Auch hat er momentan gar keine Tochter, damit keine falschen Schlüsse aufkommen. Ich wollte mich auch weniger mit soziologisch-wissenschaftlichen Interpretationen der russischen Seele der Kindererziehung beschäftigen, sondern persönliche Erfahrungen darstellen. Dennoch vielen Dank für die Anregungen. Beste Grüße, Sascha Preiß
  4. Nadine
    Ich kann Dich sehr wohl verstehen, meine Erfahrungen und Beobachtungen waren genauso. Deinen Beitrag finde ich aber sehr emotional geladen. Mit dem Blick von draußen kann ich sagen, in Deutschland ist es da keineswegs besser: auch hier gibt es ein Überangebot von rot und rosa mit Glitzer. Mädchenkleidung zu finden ist einfach schwierig, es sei denn man schaut sich bei den ökologisch gehandelten oder von Jungdesignern entworfenen Kleidungsstücken um, die preislich aber nicht für jeden erschwinglich sind. Auch hier dominiert die "Marke Mädchen und schöne Frau" und wird mit rosa und glitzer,mit Barbie, Hello Kitty und co initiiert. Auch hier muss man sich mit den Geschlechterrollen auseinandersetzen. Wenn vielleicht nicht direkt angesprochen, so doch vorhanden sind hier ebenso klassische Geschlechterrollenmuster: Meist kkommen die von den Kindern selbst. Amélie wird seit ein paar Tagen z.B. immer wieder darauf angesprochen, warum sie einen schwarz-grauen Winteranzug habe, der sei doch für Jungs. Woher kommen die Einwände der anderen Kindergartenkinder, wenn nicht von Ihren Eltern? Die ziehen nämlich auch nur nach Schema F den Mädchen rot und rosa an. Als persönlich sehr angenenehm empfinde ich aber, dass man hier nicht immer mit gut gemeinten Ratschlägen bombardiert wird. Was dem einen aber gut täte, ist dem anderen lästig. Wenn Eltern bspw. ihre Kinder viel zu kalt anziehen, diese bibbern und frieren kommt es in D. niemandem in den Sinn ein Wort an die Eltern zu richten. Selbst im Kindergarten fällt es den Erziehern schwer Tips und Ratschläge zu erteilen. Meist wird dann alles eben einfach festgelegt, Regeln aufstellen ist dann die Devise. Aber haben wir nicht auch eine gesellschaftliche Verantwortung? Sind wir als Mitmenschen nicht auch dafür verantwortlich, dass es den Nachbarkindern an Essen und Kleidung nicht fehlt? Nachbarn haben nie was gesehen und gehört, wenn nach Jahren schreckliche Zustände aufgedeckt werden. Den Kindern geht es schlecht, aber das muss hier keinen interessieren. Ich sehe nun viele Dinge in einem ganz anderem Licht. Zum Thema habe ich eine Buchempfehlung für Dich: "Die verkaufte Kindheit. Wie Kinderwünsche vermarktet werden und was Eltern dagegen tun können" von Susanne Gaschke. Ein Grundschullehrer beklagte sich vor kurzem bei mir, dass seine Grundschüler immer unkonzentrierter seien, sie könnten keine 10 min. still sitzen, wären laut und unaufmerksam, das Wort Respekt ist ein Fremdwort etc. Es gäbe nur wenige Kinder, die Ruhe und Besinnung, Wissensdurst und Freude an Neuem hätten. Ich habe auch einen Radiobeitrag, den ich ganz interessant fand: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/campus/1655451/ So, nun bin ich aber vom hundertsten ins tausendste gekommen. Übrigens fand ich es ganz schade, dass es mit einem Treffen doch nicht geklappt hat, aber vielleicht im Sommer. Vitja wird sich noch mal bei Euch melden, denn wir hatten noch was kleines für Lili im Gepäck. LG Nadine
  5. p.selbst
    Liebe Nadine, auch wenn es vielleicht so wirken mag, doch versuche ich mit keinem text dieses blogs einen konkreten oder impliziten vergleich mit deutschland, einem anderen land oder einer anderen region russlands anzustellen. dieser text wie alle anderen geben lediglich meine persönlichen erfahrungen wieder, wie ich das Leben in irkutsk empfinde. wenn es auf dich die wirkung hat, dass im ggs zu dem hier geschilderten in deutschland oder sonstwo alles ganz große klasse wäre, so ist das von mir nicht intendiert und der text gibt dazu auch keinen anlass. dass empfindungen und erfahrungen nicht ohne emotion auskommen, liegt für mich in der natur eines tagebuchs. abgesehen davon hast du natürlich recht, dass insbesondere für kinder eine große gesellschaftliche verantwortung besteht. doch der aspekt meiner hier beschriebenen momente ist weniger der sozialer vernachlässigung oder armut, sondern das erfahren eines gesellschaftlichen drucks zur anpassung an rollenbilder. selbstverständlich lässt sich dieser druck eines konservativen männer-frauen-bildes in sehr vielen orten weltweit erfahren. aber ich bzw wir erfahren ihn nun einmal in irkutsk und nicht in deutschland (dort scheint mir individuelle diversität übrigens durchaus weiter verbreitet als gesellschaftlicher wert, aber das kann mir auch nur so scheinen). und ja, sehr schade, dass es außer dem kurzen abend am 22.12. nicht noch einmal mit einem treffen geklappt hat. morgen aber sehe ich vitja ganz kurz. und wir können uns ja evtl im sommer in deutschland sehen? liebe grüße, sascha
  6. Manu
    Wir haben ähnliche Erfahrungen mit unserem Mädchen gemacht, aber in Westeuropa. Auch hier sind die Mädchen (wenn auch nicht so extrem wie in der RF) meistens hübsch rosa-pink bekleidet und auch schon mal mit Röckchen und weißen Strumpfhosen auf dem Spielplatz unterwegs - niedlich, aber unpraktisch. Unsere Kleine trägt oft blaue oder dunkle Sachen, eben weil es praktisch ist und weil wir auch Sachen vom Sohn einer Freundin auftragen. Und? Unser Mädchen hat lange Haare und ein Mädchengesicht - trotzdem höre ich immer "der Junge da..." "gib ihm mal..." "er hat den Ball..." - nur weil die typischen Signalfarben fehlen. Absichtlich. Obwohl man da bei der Auswahl der Bekleidung ziemlich arm dran ist, denn rosa gibt es in Hülle und Fülle, gelb und grün dagegen selten, und so wird es oft eben doch blau. PS: Ich freu mich für euer Mädchen, dass es richtig Kind sein darf. :)
  7. Jenny
    Hab hier grad eine ganz interessante Buchvorstellung zum Thema gefunden: http://www.scilogs.de/wblogs/blog/quantenwelt/ber-den-tellerrand/2012-05-28/gender-wahnsinn-und-verantwortung-der-wissenschaft

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