Die Sterne unseres Glücks
Ihre deutsche Kollegin lud sie auf einen Kaffee ein. Warum denn in der Stadt treffen, fragte sie zurück, sie könne doch auch zu ihr ins Wohnheim kommen. Ein Café, fand sie, sei ein unpersönlicher und teurer Ort. Das wollte die deutsche Kollegin aber nicht. Aus Höflichkeit gegenüber einigten sie sich auf ein unscheinbares Lokal in der Nähe des Stadions, es spielte sehr laute Musik, der Kaffee wurde in Plastikbechern gereicht. Das wäre in Deutschland verbreitet? Sie könne wirklich nicht verstehen, warum sich Leute nicht zu Hause träfen.
Dennoch kamen sie ins Gespräch. Sie, eine 38jährige Doktorandin aus Blagoweschtschensk, wo der Amur die Grenze zu China bildet, mehr als 2000 TransSib-Kilometer von Irkutsk entfernt gelegen, unterrichte hier an der Linguistischen Universität 20 SWS, dafür erhielt sie 8000 Rubel im Monat, weniger als 200 Euro, aber mehr als in Blago. Als Zusatzverdienst arbeite sie noch an einem kommerziellen Institut der Universität, das sich mit Übersetzungen beschäftigt. Dort würden beinah alle Sprachlehrer der Universität aus dem gleichen Grund zusätzlichen Unterricht anbieten. Das Wohnheimzimmer, das sie sich mit drei anderen Doktorandinnen teile, koste 200 Rubel. Ihren Wintermantel, der neben ihr lag, könne sie in 8 Monatsraten abbezahlen.
– Bei soviel Arbeitszeit, um leben zu können: Wann schreiben Sie Ihre Doktorarbeit?
– Wenn alle anderen im Zimmer schlafen, hab ich ein paar Stunden.
– Und wann schlafen Sie?
– Danach.
– Was ist das Thema der Arbeit?
– Ich untersuche deutsche Zeitungen, die Darstellungen von Siegern und Verlierern im Sport.
– Reicht Ihnen Ihre Zeit dafür?
– Um 23 Uhr wird das Wohnheim zugeschlossen, danach kommt man gar nicht mehr hinein oder heraus. Die Versuchung für zu viel freie Zeit ist nicht sehr groß, und das brauche ich auch nicht. Schließlich bin ich zum Arbeiten gekommen, mit dem Doktortitel verdient man mehr.
– Halten Sie es zu viert in einem Zimmer, in dem alle wissenschaftlich arbeiten wollen, auf Dauer aus?
– Man arrangiert sich, für eine Wohnung oder ein Einzelzimmer hat keine von uns ausreichend Mittel.
– Warum haben sie die deutsche Sprache gewählt, das liegt im Fernen Osten nicht unbedingt auf der Hand?
– Weil ich diese Sprache liebe und in diesem Bereich arbeiten möchte.
– Eine Fernbeziehung?
– Ja, vielleicht. Aber eine sehr innige.
– Sind die Umstände für die Entwicklung dieser Liebe nicht etwas hinderlich? Oder ist das eine Frage des Sportsgeistes?
– Wie man bei uns sagt: In uns selbst liegen die Sterne unsere Glücks.
Inzwischen ist sie wieder zurück in Blagoweschtschensk, nach drei Jahren, weil in Irkutsk an der Universität ihre Stelle nicht verlängert wurde. Zu wenig Studenten mit Interesse für deutsche Sprache, hieß es im Institut. Die Doktorarbeit hat sie nicht beenden können.