Tag Archives

7 Articles

Russland

zur causa Nawalny

Posted by Sascha Preiß on

die deutsche politik hat noch immer nicht verstanden, worum es bei nawalny geht, und stützt mit ihrem festhalten an nordstream 2 das quasi lupenrein demokratische system putin, das sie mit dürftigen verbalen mahnungen kritisiert. die europäische russlandpolitik überlässt die zivilgesellschaft sich selbst.

Längst ist die Person Alexej Nawalny sowohl in Russland als auch im Ausland zu dem geworden, was Putin noch im Dezember 2020 wenig überzeugend negierte: einer der momentan wichtigsten politischen Akteure Russlands und Europas. Völlig unerheblich, zu welcher politischen Position man selbst neigt, als Anhänger Nawalnys oder als Kritiker, sein Einfluss auf die nationale und internationale Politik ist im vergangenen halben Jahr, seit seiner Vergiftung in Sibirien, enorm gestiegen – Putin selbst hat ihn damit zu dem bedeutenden Opponenten gemacht, der er auch und gerade aufgrund seiner völlig absurden Verurteilungen ist. Vor einem Jahr noch war Nawalny tatsächlich kein bekannter Name in weiten Teilen der russischen Bevölkerung, das hat sich inzwischen geändert. Die Frage, was von Nawalny tatsächlich zu halten sei, ob er ein mutiger Kämpfer für die Freiheit, ein rechtsnationaler Protofaschist oder eine Geheimdienstmarionette, beschäftigt die Debatten in Deutschland – Fragen, die in Russland völlig irrelevant sind. Dort stellt Nawalny und sein Antikorruptionsfond inzwischen die einzig verbliebene echte Opposition zum autoritären, kleptokratischen System Putin dar (welche Kleptokratie dort am Werk ist, erfährt man in den Büchern etwa von Masha Gessen) und ist, im Gegensatz zu den ermordeten, inhaftierten, exilierten Oppositionspolitiker*innen und Journalist*innen wie etwa Boris Nemzow, Anna Politkowskaja (ihr Bericht In Putins Russland ist bis heute eines der stärksten Bücher über das frühe System Putin) oder Michail Chodorkowski, gerade bei den unter 30-jährigen durchaus populär – nur ist diese Gruppe eben auch diejenige, die sich als erste um neue Perspektiven für ihr Leben außerhalb Russlands umschaut und seit Jahren abwandert. Die massiven Proteste im ganzen Land und die enorme Polizeigewalt gegen die natürlich nicht genehmigten Proteste – ein aus Sicht der Legitimierung geradezu peinlicher, aber systemimmanenter Fehler – haben bezeugt, wie populär inzwischen Nawalny tatsächlich ist im Gegensatz zu den Protesten 2011, und Videos seines YouTube-Kanals mit aktuell 6,41Mio Abonnenten werden mittlerweile von vielen Millionen gesehen. Putins Palast steht aktuell bei 110Mio Aufrufen.

Noch in den Jahren, in denen ich in Irkutsk arbeitete, gehörte Politik nicht zu den Themen eines Gesprächs mit Kolleg*innen oder Freund*innen. Man brachte sich und die Seinen durchs Leben und verglichen zu früher lief es unter Medwedjew ganz gut, auch wenn ihn keiner ernst nahm und alle wussten, dass weiterhin Putin der tatsächliche Chef war. Was die meisten nicht wahrnahmen: dass mit Putin der Inlandsgeheimdienst FSB die eigentliche Staatsführung war. Und bis heute geblieben ist. Noch 2012 traten Mitarbeiter des FSB an unsere russischen Kolleg*innen heran, um sie zu unserem Projekt der zweisprachigen Irkutsker Deutsche Zeitung zu befragen, Einsicht zu erhalten und letztlich auch Kontrolle, denn es wurden Forderungen gestellt, dass die Texte vom FSB vor Drucklegung begutachtet werden, Zugangsdaten für Mail- und Dropboxkonten verlangt etc – kurz: die Zeitung, ein harmloses Projekt zur deutsch-russischen Bildungskooperation, wurde abgewürgt. 2012, nach Putins Wieder“wahl“. Das fast schon liberale Klima unter Wedwedjew, der das Internet als Medium und die Internationalisierung der Universitäten begrüßte und förderte, schwand schlagartig. Selbst in den kleinsten Dörfern am Baikal konnte man Menschen treffen, die zu den Protesten gegen die Dumawahl nach Moskau flogen. Und die älteren Studierenden hatten jeden Bezug zum „Leader“ verloren.

Russlands „gelenkte Demokratie“, muss man im Rückblick feststellen, hatte unter Putin niemals die Absicht, mit seiner eigenen Bevölkerung oder gar Europa vertrauensvoll zusammenzuarbeiten oder ein offenes parlamentarisches System zu entwickeln, wie es in den EU-Staaten mehrheitlich existiert (mit all seinen Fehlern, Problemen und Einschränkungen – aber genau das macht ein lebendiges System aus, dass es imperfekt ist und lernfähig), Putin selbst hat nie verschwiegen, was er von offenen politischen Diskursen und Systemen hält, nämlich nichts. Das putinsche Narrativ europäischer Demokratie als eines vielstimmigen, chaotischen und damit schwachen politischen und medialen Systems, wohingegen das System Putin Stabilität und Stärke garantiert, ist bis heute sowohl innerhalb als auch außerhalb Russlands äußerst erfolgreich. Ebenso die Erzählung einer westlich-arroganten Ungleichbehandlung und Herabwürdigung – an der viel Wahres ist, doch im Wesentlichen das Opfer-Motiv wichtig ist, vom Westen stets gemaßregelt und nicht geliebt zu sein, was es erlaubt, die eigene Position nicht verändern zu müssen, sondern im Gegenteil den autokratischen Weg legitimieren zu können (eine auch in der Türkei Erdogans sehr erfolgreiche Erzählung).

Zum Narrativ von Stabilität und Stärke gehört wesentlich – ein kulturtheoretischer Exkurs – der putinsche Körper: es ist der anwesende, aktive, lebendige doppelte Körper des Königs, ein sehr altes, wirkmächtiges staatstheoretisches Theorem, das zwei Funktionen des Herrschers zusammenfasst: den sterblichen und den übernatürlichen Körper. Der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie Putin den Zerfall der Sowjetunion nannte, ist mit Michail Gorbatschew assoziiert, der in seiner Datscha hilflos einen Staatsstreich mitansehen muss. Die chaotischen 1990er Jahre Russlands mit dem betrunkenen Boris Jelzin. Beide genießen im heutigen Russland ein miserables Ansehen. Putins bis zur Lächerlichkeit inszenierte Männlichkeit, seine zur Schau gestellte neoliberale Fitness, in Verbindung mit der russischen Orthodoxie bestätigt hingegen alle Ansprüche an den natürlichen, übernatürlichen Körper des Staates, den manche für von Gott gesandt halten. Ein den Tötungsversuch überlebender Nawalny allerdings stellt den politischen Körper des Systems Putin infrage, zumal er auch nicht im Exil verblieben ist wie Kasparow oder Chodorkowski. Man kann es mögen oder nicht: Nawalnys körperlicher Zustand als „wiederauferstanden“ ist dem Putinschen in ikonografischer Lesart überlegen. Und damit hat das politische System schlicht keine Wahl mehr, es muss handeln, restriktiv, maximal. Ob es seinen Zenit überschritten hat oder ob die OMON-Schergen und Silowiki nach wie vor treu bleiben dem Staatsapparat, der sie ernährt – Nawalny ist definitiv ein Fixpunkt.

Zusätzlich zur symbolischen Anwesenheit Nawalnys ist die konsequente Antikorruptions-Arbeit für Putin natürlich vordergründig gefährlich. Nawalnys stellt an die „Partei der Gauner und Diebe“, wie er 2011 die russische Einheitspartei nannte, nur diese Frage: Wo ist das Geld? Und da treffen sich der Fall Chodorkowskis von 2003 und die causa Nawalny 2021:

Es gibt zwischen allen Staaten, deren Wirtschaft von einem einzigen Produkt abhängig ist, insbesondere unter den öl-/gas-abhängigen Staaten, vier Gemeinsamkeiten:

Der [amerikanische] Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Michael Ross hat vier Besonderheiten von Einnahmen aus dem Ölgeschäft aufgeführt: Sie sind riesig (die Regierungsapparate in Ölstaaten sind um die Hälfte größer als die ihrer Nachbarn, die über keine Ölvorkommen verfügen); ein großer Teil des Haushalts hängt nicht von den Steuerleistungen der Bürger, sondern von direkten Einnahmen aus Staatsbesitz ab; diese Einnahmen wiederum sind instabil, weil sie vom Ölpreis auf den Weltmärkten und den natürlichen Bedingungen abhängen; und schließlich sind die Einnahmen intransparent und geheim. So kann sich die Elite optimal an Öleinnahmen bereichern. Aufgrund des geringen Arbeitsaufkommens sind Ölstaaten unabhängig von der Bevölkerung: Die wird nicht wirklich gebraucht, solange sie nur bitte keine Unruhe stiftet.


(Aus dem Artikel „Die Öl-Krankheit“ von Alexander Etkind, in dt. Übersetzung bei dekoder zu lesen.)

Sämtliche Formen der russischen staatlichen Korruption basiert im Kern auf diesen vier Punkten, insbesondere dem letzten: niemand weiß, was Russland tatsächlich am Öl/Gas-Verkauf verdient und was mit diesem Geld geschieht (außer private Paläste bauen). Chodorkowskis Affront damals im Gespräch mit Putin war der Verstoß gegen die Absprache noch aus der Jelzin-Zeit, sich nicht in die Politik einzumischen, indem er seinem eigenen Unternehmen und den Konkurrenten Transparenz in der Buchhaltung verordnete, sich zudem zivilgesellschaftlich einsetzte über die Finanzierung der Partei Jabloko und der Stiftung „Open Russia“. Zudem warf er Putins Regierung offen Korruption vor – und wurde verhaftet und landete 11 Jahre in mehreren Etappen im Straflager. Der Dokumentarfilm Chodorkowski von 2011 zeigt den Wandel des einstigen Oligarchen und reichsten Mann Russlands sehr ausführlich und ist bis heute sehenswert. War es 2003 zu Beginn des Internetzeitalters in Russland noch einfach, die Deutungshoheit über die Bilder und Inhalte des Prozesses in staatlicher Hand zu behalten, ist dies schon 2014 mit der Krimannexion und dem Krieg in der Ostukraine, insbesondere dem Abschuss des Fluges MH-17, längst nicht mehr der Fall, trotz aller Bemühungen der Kontrollbehörde Roskomnadzor und sämtlicher gelenkter Inlands- und Auslandsmedien wie RT deutsch oder Facebook-Trollfabriken. Die Möglichkeiten, im Internet zu publizieren und zu recherchieren, waren Chodorkowski unbekannt, für Nawalny sind sie lebensrettend und ein mächtiges Werkzeug gegen Putins System, das ohne das Web aufwuchs und es im Grunde nicht versteht.

Offenlegung der Bilanzen und Geldflüsse, um organisierte Korruption aufzudecken: Chodorkowskis Anliegen als Unternehmer führt Nawalny seither fort, manche meinen mit populistischen Mitteln oder nationalistischer Motivation – tatsächlich ist das vollkommen irrelevant und eine Nebeldiskussion zu erfragen, wer ist Nawalny. Es ist bekannt, dass sich Nawalny etwa zur Annexion der Krim bekannt hat und keinesfalls die Ansprüchen an einen linksliberalen Politiker, die man aus westeuropäischer Weltwahrnehmung nur zugern stellt, erfüllt. Es ist eben auch sehr wohlfeil, sich den idealen Politiker zu wünschen bzw darüber zu maulen, dass er es nicht ist. Umso enttäuschender ist die Blindheit, mit der insbesondere die deutsche Politik geschlagen ist, wenn es um Nawalny geht: denn zwar wissen alle, dass Russland seine enormes Kapital, das für alle Formen der Korruption ungebremst zur Verfügung steht, aus dem Verkauf von Öl und Gas bezieht, gleichzeitig ist man aber ebenso bereit, eben dieses Kapital weiterhin zu mehren und eben nicht aus Nordstream 2 als auch von Staaten der EU stark kritisiertes Projekt deutscher Arroganz auszusteigen. Alles an diesem Zitat des Osteuropachefs der Deutschen Welle ist schlicht falsch: Nordstream 2 ist energiepolitisch nicht notwendig und stützt finanziell das aggressive, kriminelle System Putin – dass dieses System inzwischen offen mit Verachtung gegenüber seiner eigenen Bevölkerung und der Europäischen Union auftritt und noch während des Besuches des EU-Außenbeauftragten drei EU-Diplomaten des Landes verweist, sollte der hiesigen Politik irgendetwas zu denken geben. Doch die seit Jahren stets wiederholte Bitte etwa von Herrn Platzeck, im Dialog mit Russland zu bleiben, was immer er darunter versteht, hat seit eben genau diesen Jahren nichts anderes ergeben als die aktuelle Situation: Das politische Russland nimmt keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Dialogangebote, weil es die schlicht nicht möchte. So wie Putins Dialogstunden mit der Bevölkerung Monologe des Regierungschefs mit vorausgewählten Fragestellern vor laufender Kamera sind. Das System Putin hat noch nie Gespräche geführt.

Ich erinnere mich an eine Stimmung in den 1990er Jahren, in der sehr viele vermuteten, Russisch würde nun nach dem Fall des eisernen Vorhangs zu einer international gefragten Sprache und Russland ein beliebtes Reiseland. Tatsächlich ist nichts davon eingetreten, Russland ist weiterhin ein hinter der Visapflicht vergrabenes Land, das sich in den politischen Führungsetagen gegen Internationalisierung, Austausch und Offenheit sträubt, es gibt keine auswärtige russische Kulturpolitik durch etwa ein Puschkin-Institut, vergleichbar dem Goethe- oder Cervantes-Institut bzw dem Institut Francais, dafür gibt es RT und Radio Sputnik, und ehemalige deutsche Kanzler lobbyieren vorbehaltlos für den „lupenreinen Demokraten“ und damit gegen die russische Zivilgesellschaft. Und was die deutsche Verantwortung gegenüber Russland aufgrund des zerstörerischen Krieges gegen die Sowjetunion betrifft: diese Verantwortung besitzt Deutschland auch gegenüber allen anderen Nachfolgestaaten wie der Ukraine, den baltischen Staaten als EU-Mitgliedern, Belarus und Moldawien, und deren Sicht auf Russland ist (mit Ausnahme Belarus) durchaus von begründeter Furcht geprägt und europäische Hilfe gegen die putinsche geopolitische Kleptokratie würde sicher nicht zurückgewiesen.

Das Wetter/Irkutsk/Russland

Frohe Weihnachten!

Posted by Sascha Preiß on

Heute, da die russlandweiten Anti-Wahl-Proteste einen weiteren Höhepunkt erreicht haben, fiel nun also den sechsten Tag in Folge in Irkutsk Schnee und die für den örtlichen Demonstrationsplatz am Station „Trud“ angekündigten Proteste so gut wie aus. Es kamen offenbar so wenige, dass selbst die Berichterstattung nicht mehr lohnt. Andererseits hatte ja vor einer Woche der Bürgermeister selbst sein ganzes politisches Gewicht in den Ring geworfen, als er nach Putins 4,5stündiger TV-Fragestunde (bzw moderierte Monologe) ebenfalls zu der Behauptung griff, die Proteste gegen die Wahl in Irkutsk seien von „ausländischen Sonderdiensten“ finanziert und sowieso gegenstandslos, weil ja in Irkutsk nicht wirklich etwas zu beanstanden sei: Also werde er, Viktor Kondraschow, ab sofort mit einem weißen Helm gegen die „Weißen Bänder“ (die Putin als Kondome verhöhnt hatte) vorgehen.

Wie auch immer Putin (von Medwedjew hat in den vergangenen Monaten in Russland niemand mehr gesprochen, obwohl er ja eigentlich Präsident ist, aber offenkundig derart unwichtig, dass selbst seine nett gemeinten Ansprachen unerhört vergehen) nun auf die neuerlichen Proteste reagieren wird – schaut man sich die Liste seiner Präsidentschaftsgegner an, muss man sich noch immer um seine Wiederwahl keine Sorgen machen.

Sorgen hingegen muss man sich allmählich um eine touristische Attraktion am Baikalufer machen: Der Betrieb der Baikalrundbahn könnte im kommenden Jahr mangels Geldes eingestellt werden. Noch wird die Strecke vom Südufer des Sees (Sljudjanka) zum Port Baikal regelmäßig angeboten, doch ein durchgehender Verkehr von Irkutsk und wieder zurück ist vorerst auf Eis gelegt. Bislang jedenfalls konnte man für alles, was schief zu gehen drohte, nach Putin rufen, und wenn er kam, wurde alles irgendwie gut. Ob das auch im kommenden Jahr so bleibt, ist ungewiss.

Und apropos: Es ist, wie eingangs erwähnt, Winter und ein ganz wunderbarer dazu, vielleicht auch deshalb, weil die winterliche Idylle so gar nicht zur politischen Situation passen will.

Allen LeserInnen des Irkutskblogs wünsche ich ein fröhliches Weihnachtsfest, с рождеством!

Irkutsk/Russland/Ulica

Zwischen den Wahlen

Posted by Sascha Preiß on

Die Wahlen zur russischen Duma liegen zehn Tage zurück, an den massenhaften Protesten in Russland gegen Wahlfälschungen und Einflussnahme bei der Stimmabgabe hat sich am Samstag auch die Irkutsker Bevölkerung beteiligt, vorerst nur mit etwa 1000 Menschen. In drei Tagen ist aber eine größere Protestdemonstration angekündigt. Die Proteste verliefen absolut friedlich, obwohl ursprünglich nur 300 Menschen für den Kirow-Platz zugelassen waren und die Demonstration kurzerhand vor den Zirkus verlegt werden musste, aus Sichtweite der Gebietsverwaltung. Allerdings gibt es dennoch reichlich Unterstützer des Protests und beinah alles wird im Internet dokumentiert. Dieses bislang als unzensiert geltende Medium hat in der Tat stark an Bedeutung in Russland gewonnen und damit auch die Aufmerksamkeit der politischen Führung – Prognosen sehen eine zunehmende Überwachung voraus. Auch in Irkutsk wurden am 4.Dezember die Server der freien Wahlbeobachter von „Golos“ blockiert (Meldung um 17:15), inzwischen machen Meldungen über behördliche Beobachtung aller mit Irkutsk verknüpften Profile bei vkontakte und facebook die Runde.

Die Duma-Wahlen sind im Irkutsker Gebiet nicht besonders berauschend für „Einiges Russland“ ausgegangen, im gesamten Oblast erreichte ER gerade einmal knapp 35%, relativ dicht gefolgt von den Kommunisten (27,79%) und mit großem Abstand zu Schirinowskis LDPR (17,34%) und „Gerechtes Russland“ (13,36%). In Irkutsk und Angarsk lagen die Kommunisten sogar deutlich vor ER, auch wenn die gesamte Familie des ehemals kommunistischen Bürgermeisters V. Kondraschow, der nach den Bürgermeisterwahlen im März 2010 recht bald zu „Einiges Russland“ überlief, für „Stabilität“, einem Schlüsselwort im Wahlkampf von ER, stimmte. Offenkundig ist seine Popularität nicht wahlbedeutend. Ebensowenig wie die im Irkutsker Gebiet gemeldeten Verletzungen des Wahlrechts, wie „Golos“ zur Liste anmerkt.

Dennoch sind die Ängste oder Hoffnungen auf ein Abflauen des Protestes wohl unbegründet – solange Identitätsfiguren wie Alexei Navalnyj noch in Haft sitzen, wird es weiterhin Guerilla-Aktion wie die der russischen feministischen Punk-Band „Pussy Riot“ geben, die kurzerhand eine Art Konzert für die Inhaftierten an den Gefängnismauern veranstalteten. (Wobei insbesondere bei Navalnyj nicht klar ist, wo Aufklärung und nationale Verklärung beginnt: Immerhin ist er einer der Mitunterstützer des diesjährigen „Russki Marsch“ in Moskau, einer ultranationalistischen Veranstaltung. Und für den Moskauer Protest am 24.12. haben sich bereits reichlich Nationalisten angekündigt.)

Wahlplakat der Kommunisten: Zur Wahl mit (einer) Kalaschnikow

Unabhängig von der weiteren Entwicklung der Proteste und dem gegen sie gerichteten Vorgehen der Behörden – wenn es nun ganz schlecht für V.V. Putin bei den im März 2012 anstehenden Präsidentschaftswahlen läuft, könnte tatsächlich ein gegenwärtiger Irkutsker die Russische Föderation anführen: Der Gouverneur des Irkutsker Gebietes, Parteimitglied von ER und gebürtige Leningrader Dmitrij Mesentsev ist einverstanden, sich als Kandidat für das Präsidentenamt aufzustellen. Auf die Frage von Journalisten, dass er damit auch Putin selbst direkte Konkurrenz macht, antwortete er: „Für mich bleibt Vladimir Vladimirowitsch erst einmal Regierungsvorsitzender.“ Außerdem sei er kein Parteimitglied von ER – eine Haltung, die Putin und dessen Distanzierung von seiner eigenen Partei bekräftigt. Nun, wir dürfen davon ausgehen, dass man sich außerhalb des Irkutsker Gebietes und jenseits der russischen Grenzen nicht wirklich an den Namen Mesentsev wird gewöhnen müssen. Auch wenn in diesem heißen russischen Winter viel möglich scheint. (Ob der Weihnachtsmann in Russland die Kommunisten wählt?)

Auch zum Neujahrsfest sind Kalaschnikows der Knaller: Weihnachtsmann und Snegurotschka gut gerüstet in Camouflage-Mänteln

Im Übrigen: Während sich in Moskau die meisten Kinos vor der Dumawahl schlicht nicht wagten, den kontroversen Film „Chodorkovskij“ auszustrahlen, wird der Film ab Freitag für zwei Wochen im „Dom Kino“ gezeigt. Dies als Ankündigung für alle Interessenten, die noch keine Gelegenheit hatten, den Film zu sehen, mich inbegriffen.

Russland

Staatsbürgerkunde in 13 Sekunden

Posted by Sascha Preiß on

Die Reaktionen auf die Präsidentschaftsrochade Putin-Medwedjew sind national und international alles andere als begeisternd. Auch im näheren Freundeskreis ist wenig Euphorie und Aufbruchstimmung zu spüren. Der Hersteller dieser seit 2008 in Russland recht populären Kühlschrankmagneten wird sich hingegen seines Geschäftes weiterhin erfreuen können. Prägnanter als auf diesem kleinen Stück Plaste ist das seit vier Jahren existierende und weitere sechs (vermutlich zwölf) Jahre geltende politische System Russlands kaum je zusammengefasst worden.

Anti-Terror/Baikal/Irkutsk/Ulica

Mittelpunkt der Welt

Posted by Sascha Preiß on

Es tut sich was in der ferneren sibirischen Provinz, die sich manchmal wegen seiner geografischen Lage auch schlicht den Mittelpunkt der Welt nennt.

Nicht allein, dass bei den Regionalwahlen am vergangenen Wochenende ein neuer Bürgermeister für Irkutsk gewählt wurde, der überraschend nicht der Partei „Einiges Russland“ angehört, was sogar auf tagesschau.de berichtet wurde.

Auch die schon länger angekündigte Ausgangssperre für Jugendliche unter 18 Jahren ist bereits seit Februar in Kraft. Zuwiderhandlungen können mit bis zu einer halben Million Rubel geahndet werden.

Mit 4 Millionen Rubel ist dagegen das Programm zum Einfangen herrenloser Hunde ausgestattet, mit dem inzwischen begonnen wurde.  Die Tiere sollen maximal sechs Monate verwahrt bleiben, danach werden sie – sofern sich ihrer niemand annimmt – eingeschläfert. Kranke Tiere werden sofort eingeschläfert. Das Programm soll die Sicherheit der Einwohner erhöhen. Doch unter der grundsätzlich tierlieben Bevölkerung regt sich Protest.

Apropos: Ganz so einfach lässt sich der Protest gegen das Zellulosekraftwerk Baikalsk wohl doch nicht aufhalten. Immerhin haben inzwischen beinah alle unabhängigen Ökologie-Vereine in ganz Russland, incl. Greenpeace Russland und dem WWF Russland, sich zu einer neuen Organisation zusammengeschlossen, die nur ein einziges Ziel verfolgt: den Baikal zu schützen. Russlandweit ist daher für morgen, den 20. März, aufgerufen, sich an der Irkutsker Demonstration zur Schließung des Zellulosekraftwerks zu beteiligen.

Zeitgleich hat Ministerpräsident Putin reich ausgestattete Stipendien zur Erforschung des Ökosystems Baikal vergeben. Was für Putin, selbst leidenschaftlicher Baikaltourist, der am See eine Villa besitzt, kein Widerspruch zu sein scheint mit seinem Einsatz für den Erhalt des umstrittenen Zellulosekraftwerks. Diese Geschichte ist lange noch nicht zu Ende.

Zu Ende hingegen ist die Geschichte der Jugendbande „Magie des Blutes“ und damit die besonders grausamer Verbrechen. Der 21jährige  und nun zu lebenslanger Haft verurteilte Konstantin Sch. gestand, mit befreundeten Schülern Obdachlose des Raions Novo-Lenino „aus reiner Neugier“ gefoltert, verstümmelt und ermordet zu haben.

Ebenfalls gestorben ist der zweijährige Nikita Tschemisow. Der Junge war Anfang April 2009 ins Krankhaus eingeliefert worden und kurz darauf ins Koma gefallen, aus dem er nicht mehr erwachte. Er war monatelang von seinen Eltern schwer misshandelt worden und schließlich an den Folgen seiner Verletzungen gestorben. Den jugendlichen Eltern drohen langjährige Haftstrafen. Das traurige Sterben des Jungen wurde intensiv medial begleitet.

Das Wetter/Russland

Russland heute, die Sowjetunion erinnernd

Posted by Sascha Preiß on

Nach der Zwischenfrage noch eine minimale Auswahl deutschsprachiger Informationen zum gegenwärtigen Stand der Dinge im größten Land der Welt.

Wahlen ohne Auswahl – stellvertretend für den sehr lesenswerten Russland-Blog der Heinrich-Böll-Stiftung

Chodorkowskij erwartet Lebenslänglich – аеродром.ная / tazblogs dokumentiert ein Focus-Interview u.a.

Verbotene Kunst in Moskau ist aber noch im Internet zu besichtigen

Für ausführlichere Zustandsbeschreibungen fragen Sie natürlich den Buchhändler Ihres Vertrauens.

„Und schließlich die dritte Umbruch-Zeit unter Putin. Vor dem Hintergrund einer neuen Phase des russischen Kapitalismus mit unübersehbar postsowjetischem Anstrich. Eines ökonomischen Modells, das der Herrschaftszeit des zweiten Präsidenten Russlands ganz und gar entspricht und gekennzeichnet ist durch einen eklektischen Mix aus Markt und Dogma, eine Vermischung von allem mit allem. Wo es beträchtliche Mengen an disponiblem Kapital gibt und ebenso viel typisch sowjetische Ideologie, die diesem Kapital Vorschub leistet, sowie noch mehr Verarmte und Mittellose. Außerdem erlebte die alte Führungskaste der Nomenklatura einen neuen Aufschwung. Diese breite Schicht sowjetischer Staatsfunktionäre, die wieder in ihre Funktion eingesetzt wurde und sich an die neuen ökonomischen Bedingungen sehr schnell und nur allzu gern anpasste. Die Nomenklatura will jetzt genauso üppig leben wie die „neuen Russen“, und das bei verschwindend geringen offiziellen Gehältern; sie will um keinen Preis der Welt die neue Ordnung gegen die alte sowjetische eintauschen, doch so ganz geheuer ist ihr diese neue Ordnung mit ihrem – von der Gesellschaft immer nachdrücklicher eingeklagten – Streben nach Recht und Ordnung nun auch wieder nicht, also verwendet sie einen Großteil ihrer Zeit darauf, sich unter Umgehung von Recht und Ordnung persönlich zu bereichern. Mit dem Ergebnis, dass die Korruption unter Putin ein beispielloses Ausmaß erreichte, von der neuen, alten Putin’schen Nomenklatura zu einer Blüte geführt, wie sie weder zur Zeit der Kommunisten noch unter Jelzin denkbar war. Diese Korruption verschlingt das kleine und mittlere Unternehmertum, also den Mittelstand, lässt nur das große und supergroße Kapital überleben, Monopole und staatsnahe Unternehmen, denn in Russland sind gerade sie es, die nicht nur für ihre Eigentümer und Manager hohe, stabile Gewinne abwerfen, sondern auch für die jeweiligen Protektoren in den staatlichen Verwaltungsstrukturen, ohne die bei uns kein einziges Großunternehmen existieren kann. In diesem Sumpf, der nichts mit Marktwirtschaft zu tun hat, kann die neue russische Parteinomenklatura (wie sie wieder wie in alten Sowjetzeiten genannt wird) ihre Sehnsucht nach der UdSSR, nach ihren Mythen und Phantomen ausleben. Putin versammelt recht gern „Ehemalige“ – Leute aus den sowjetischen Führungsstäben – unter seinen Fahnen, da nimmt es nicht Wunder, dass der ideologische Überbau des Putin’schen Kapitalismus immer stärker Züge der späten Breshnew-Zeit annimmt, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre von extremster wirtschaftlicher Stagnation gekennzeichnet war.“

Quelle: perlentaucher

Das Wetter/Russland

Zwischenfrage

Posted by Sascha Preiß on