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Architektur/Irkutsk/Russland/Statistik

Produktive Arbeit

Posted by Sascha Preiß on

Die Sache mit den Ausländern ist für Inländer so ziemlich überall ein irgendwie unangenehmes Thema. Denn so ein Migrant, ist er erstmal da, schafft, scheints, hauptsächlich Probleme. Deswegen sind in vielen Ländern, z.B. in Deutschland, viele Inländer, die befürchten allerhand vom Ausländer und sogar, dass sich das Inland schließlich abschafft. So in ähnlich auch in Russland. Nur schreiben die Inländer da keine Bücher, sondern sie marschieren, z.B. durch Moskau. Oder sie machen Gesetze, die unerwünschten Umgang mit dem Ausländer zur verbotenen Tat werden lässt. Ich bin auch Ausländer in Russland und verrate jetzt mal was: Das ist eigentlich alles doch nur gut gemeint. Zum Wohle des Volkes. Schöner unsere Städte und Gemeinden. Wirklich!

Wie zum Beispiel diese schöne Broschüre aus St. Petersburg, die den Ausländern, die hier „Arbeitsmigranten“ heißen und sonst eher mit dem aus Deutschland importierten Begriff „Gastarbeiter“ bezeichnet werden, das Leben so leicht wie möglich machen soll, damit sie gute Arbeit leisten, über die sich die Inländer freuen können. Gastarbeiter eben. Daher sind sie auch konsequent als Werkzeug abgebildet. Ist ja auch so, die meisten Ausländer kommen nach Russland, um hier zu arbeiten, meist im Baugewerbe. Werkzeuge eben. Wo ist das Problem? Ist doch nur gut gemeint.

In Irkutsk aber scheint es mit der Qualität der Gastarbeiterarbeit nicht mehr so zum Besten zu stehen. Jedenfalls möchte der Gouverneur des Irkutsker Gebietes nicht mehr ganz so viele Gastarbeiter, sondern ab 2013 nur noch halb so viele. Und die andere Hälfte soll mit den Inländern gefüllt werden, die zur freien Arbeitsverfügung stehen: Studenten. Damit nämlich kann man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: auf ganz legalem Weg wird man die nicht ganz so populären Leute los, und gleichzeitig erhöhe sich nach Ansicht des Gouverneurs die Qualität der Arbeit. „Daran glaube ich“, sagt der Gouverneur.

Ist es eigentlich von Bedeutung, dass seit Jahren sich die Zahl der Einwohner im Irkutsker Gebiet verringert? Ist es wichtig, dass deutlich mehr Menschen aus Irkutsk weggehen als dass sie aus dem Ausland kommen und bleiben? Für die Forderung von weniger Ausländern ja sowieso noch nie gewesen. Und wenn schon Migranten, dann sollten sie bitte schon was können, wenn sie ihre Arbeitskraft in Russland einzusetzen gedenken. Oder es darf der eigene Nachwuchs endlich ran.

Der Irkutsker Gouverneur hat, scheints, den Glauben an die Schaffenskraft der jungen Leute entdeckt: Mit den Klügsten und Aktivsten der Jugend von heute, die die tollsten Vorschläge zur Entwicklung des Irkutsker Gebietes machen, möchte er sich fortan treffen. Es ist wirklich zu begrüßen, dass die Jugendlichen in diesem Umfang von der Politik ernst genommen und mit einbezogen werden. Das scheint die richtige Balance zwischen theoretischer und produktiver Arbeit, zwischen Geist und Körper, zwischen ideellen und materiellen Werten. Früher mal gab es mal in Deutschland ein wunderschönes Lied, das die Euphorie über die jugendliche Schaffenskraft ganz hervorragend ausdrückte bzw diese Kraft beim Singen überhaupt erst hervorbrachte: Und es wäre doch wirklich zu begrüßen, wenn es in Russland gelänge, das so wichtige, so migrantisierte, so vernachlässigte Baugewerbe mit neuer Schaffenskraft zu neuem Leben zu erwecken. Denn es gilt mehr denn je: Schöner unsere Städte und Gemeinden!

Das Wetter/Irkutsk/Russland

Frohe Weihnachten!

Posted by Sascha Preiß on

Heute, da die russlandweiten Anti-Wahl-Proteste einen weiteren Höhepunkt erreicht haben, fiel nun also den sechsten Tag in Folge in Irkutsk Schnee und die für den örtlichen Demonstrationsplatz am Station „Trud“ angekündigten Proteste so gut wie aus. Es kamen offenbar so wenige, dass selbst die Berichterstattung nicht mehr lohnt. Andererseits hatte ja vor einer Woche der Bürgermeister selbst sein ganzes politisches Gewicht in den Ring geworfen, als er nach Putins 4,5stündiger TV-Fragestunde (bzw moderierte Monologe) ebenfalls zu der Behauptung griff, die Proteste gegen die Wahl in Irkutsk seien von „ausländischen Sonderdiensten“ finanziert und sowieso gegenstandslos, weil ja in Irkutsk nicht wirklich etwas zu beanstanden sei: Also werde er, Viktor Kondraschow, ab sofort mit einem weißen Helm gegen die „Weißen Bänder“ (die Putin als Kondome verhöhnt hatte) vorgehen.

Wie auch immer Putin (von Medwedjew hat in den vergangenen Monaten in Russland niemand mehr gesprochen, obwohl er ja eigentlich Präsident ist, aber offenkundig derart unwichtig, dass selbst seine nett gemeinten Ansprachen unerhört vergehen) nun auf die neuerlichen Proteste reagieren wird – schaut man sich die Liste seiner Präsidentschaftsgegner an, muss man sich noch immer um seine Wiederwahl keine Sorgen machen.

Sorgen hingegen muss man sich allmählich um eine touristische Attraktion am Baikalufer machen: Der Betrieb der Baikalrundbahn könnte im kommenden Jahr mangels Geldes eingestellt werden. Noch wird die Strecke vom Südufer des Sees (Sljudjanka) zum Port Baikal regelmäßig angeboten, doch ein durchgehender Verkehr von Irkutsk und wieder zurück ist vorerst auf Eis gelegt. Bislang jedenfalls konnte man für alles, was schief zu gehen drohte, nach Putin rufen, und wenn er kam, wurde alles irgendwie gut. Ob das auch im kommenden Jahr so bleibt, ist ungewiss.

Und apropos: Es ist, wie eingangs erwähnt, Winter und ein ganz wunderbarer dazu, vielleicht auch deshalb, weil die winterliche Idylle so gar nicht zur politischen Situation passen will.

Allen LeserInnen des Irkutskblogs wünsche ich ein fröhliches Weihnachtsfest, с рождеством!

Irkutsk/Ulica

Wundervolles Irkutsk

Posted by Sascha Preiß on

Vor wenigen Tagen begann Vater Nikolai, die Flugzeuge der Irkutsker Fluglinie IrAero zu weihen. Nun ist es so, dass das Vertrauen in die eigenen menschlichen und technischen Fähigkeiten in Russland traditionell nicht das höchste ist. Selbst gute, in Russland produzierte Produkte würde man kaum mit dem eher ironischen „Russkoe Kachestvo“ bewerben. Man fährt auch lieber ein japanisches, noch besser deutsches Auto als ein russisches, denn auf den Straßen kann allerhand passieren. Und leider passiert auf Russlands Straßen erheblich zu viel, im Jahr 2008 wurden knapp 220.000 Unfälle registriert, bei denen etwa 30.000 Menschen starben und 270.000 verletzt wurden. Diese katastrophalen Zahlen sind zwar Jahr für Jahr rückläufig, doch viel zu langsam. 2010 starben immer noch 26.567 Menschen bei knapp 200.000 Verkehrsunfällen. Es steht außer Frage, dass dringend gehandelt werden muss. Vater Alexander hat das nun gestern in Irkutsk getan. Er hat unter Mithilfe von Mitarbeitern der „Staatlichen Sicherheitsüberwachung der Verkehrswege“ (GIBDD), Abteilung Irkutsk, die gefährlichsten und unfallanfälligsten Straßenstellen in Irkutsk – nun ja, geweiht. Damit hat er nach den Worten von Iwan Dobrowolski, dem „Inspektor für Propaganda“ im GIBDD, schon einmal vor drei Jahren begonnen, offenbar „mit Effekt“: Jetzt gäbe es bei Unfällen an der geweihten Stelle nur noch Blechschäden. Wenn das mal kein vielversprechender Ansatz für eine Verbesserung der russischen Verkehrssicherheit ist.

Wunder über Wunder. Irkutsk hat davon seit heute offiziell 10. Es gab nämlich im Internet die Wahl „Die 10 Wunder von Irkutsk“ – wobei es gar nicht um das Wirken Jesu in Irkutsk geht, sondern um weitaus weltlichere und der Vergänglichkeit ausgesetzte Dinge: Gesucht wurden die schönsten Orte der Stadt, je einer sollte es aus diesen 10 Kategorien sein: romantischer Ort, geheimnisvoller Ort, extremer Ort, freundlicher Ort, patriotischer Ort, historischer Ort, sauberer Ort, futuristischer Ort, ungewöhnlicher Ort und Ort am Wasser. Vergänglich sind die zu erwartenden Wunder allein schon deshalb, weil sich in den vergangenen 100 Jahren die russischen Städte mehrfach sehr radikal gewandelt haben, nicht immer zum Wunderbaren. Nun aber stehen sie fest, die Wunder der Stadt. Und das ist eine unterhaltsame Mischung aus Sehenswürdigkeiten und sehr seltsamen Orten, wobei nicht sicher ist, dass etwa die Wahl des Eispalastes oder einer Fußgängerunterführung nicht ganz ironiefrei ist. Mein Vorschlag nun wäre, diese Wunder-Orte schnellstmöglich vor dem Verfall und anderen Unfällen zu bewahren, indem sie von Vater Alexander und Vater Nikolai gemeinsam geweiht werden. Man kann nie wissen, nachher gibt es noch ein ungeweihtes Erdbeben oder so und alles ist wieder futsch. Wir rechnen daher fest mit himmlischem Beistand.

Baikal/Begraben

Direktflug? Welcher Direktflug? [UPDATE]

Posted by Sascha Preiß on

Eine wahrscheinlich erfreuliche Nachricht, die auch überhaupt nicht mehr verwundern sollte, zwischendurch: Nach den z.T. verheerenden russischen Flugzeugunglücken in diesem Jahr, sind der Fluggesellschaft VIM Avia von der russischen Flugaufsichtsbehörde vorläufig Flüge in die EU verboten worden. Anderen Airlines, darunter die „Yak-Service“, die den Tod des gesamten Eishockeyteams aus Jaroslawl Anfang September zu verantworten hat, wurde die Lizenz vollständig entzogen.

Das etwas Beunruhigende an dieser Nachricht: Auch die Fluglinie „Yakutia“ steht vor dem (wiederholten) Flugverbot in der EU. „Yakutia“ bediente in diesem Jahr ab Ende April bis Anfang Oktober den Direktflug Irkutsk-München. Allerdings war dieser Airline 2007 auf EU-Empfehlung ein Einflugverbot in die EU erteilt worden. Der Direktflug wurde mit einer nicht mehr ganz taufrischen Boing 757-200 absolviert, wovon ich mich als einmaliger Passagier im Juni selbst überzeugen konnte, es gab aber auf keinem der durchgeführten Flüge irgendwelche Zwischenfälle zu melden. Allerdings wurden bei der offiziellen Pressekonferenz zur Inbetriebnahme des Fluges auch keinerlei Fragen von Journalisten (etwa zu den Gründen der Wiederaufhebung des Flugverbotes) zugelassen. Inzwischen ist der Direktflug wieder eingestellt, vorerst aus vermeintlich saisonalen Gründen. Ob er im kommenden Jahr wieder aufgenommen wird, ist sehr fraglich, es laufen Planungen für einen „Yakutia“-Direktflug ins nahegelegene und günstigere Prag. Ob dieser überhaupt angeboten werden kann, darf wegen des drohenden erneuten Flugverbotes in die EU stark bezweifelt werden.

Der Flug selbst, anfänglich 2x wöchentlich angeboten, später wegen unzureichender Nachfrage auf 1x reduziert, erwies sich als finanzielles Desaster. Offensichtlich gab es vorher keinerlei Evaluation eines möglichen Fluggastaufkommens, anders sind die katastrophalen Auslastungen des für 192 Passagiere ausgelegten Flugzeuges nicht zu erklären: Minusrekord Ende Mai – 9 Fluggäste auf einem Rückflug aus München. Weiterhin scheinen sich die Werbebemühungen fast ausschließlich auf Russland bzw Ostsibirien beschränkt zu haben. Von deutschen Reiseunternehmen war des öfteren zu hören, dass sie von diesem Flug keinerlei Kenntnis hätten. Aus diesem Grund entschloss sich eine hochrangig besetzte Delegation (Chefs der Airline, Gouverneur des Irkutsker Gebietes, Bürgermeister Irkutsk, Rektoren verschiedener Unis) Anfang Juni zu einem Werbebesuch in München. Die mitreisenden Uni-Rektoren nutzten die Gelegenheit zu Kurzbesuchen an den bekannten Münchner Hochschulen, mit denen u.a. ich das Besuchsprogramm absprechen sollte. Etwas verwundert rief mich eine Mitarbeiterin im Auslandsamt der Münchner TU auf meinem russischen Mobiltelefon an und wollte wissen, warum denn plötzlich diese ganzen Rektoren kommen. Ich erklärte ihr den Hintergrund des unausgelasteten Flugzeuges, woraufhin sie in schallendes Gelächter ausbrach. „Und dafür der ganze Aufwand?“, war ihre durchaus berechtigte Frage. Ich hatte hingegen festzustellen: Ein Direktflug München – Irkutsk ist eben doch die ungleiche Begegnung von Metropole und hinterer Provinz, auch wenn man das naturgemäß in Irkutsk anders sieht.

Nun also sieht es also so aus, als ob dieser Flug ein singuläres Ereignis geblieben sein wird, eine unbedeutende Anekdote in der Geschichte des internationalen Flugverkehrs. Die Gründe dieser zu erwartenden Verbindungseinstellung sind hingegen wenig unterhaltsam: Die russische Luftfahrt ist im Moment leider alles andere als sicher und wird in den kommenden Jahren radikale Veränderungen erleben. Müssen.

[UPDATE]

Die Pointe lässt nicht lange auf sich warten. Soeben wurde vermeldet, dass auf dem Irkutsker Flughafen, der in der Vergangenheit selbst mehrfach Schauplatz schwerer Flugzeugunglücke war, begonnen wurde, die Flugzeuge der Fluggesellschaft von einem Geistlichen zu weihen. Vater Nikolai, der bereits Kriegsflugzeuge weihte, tat dies nun erstmals mit zwei zivilen Flugzeugen – und gab den beiden Maschinen auch neue Namen: Nikolai, der Wunderbewirkende und Innokent von Irkutsk. Geplant ist nun, die gesamte Flotte der Irkutsker Fluggesellschaft IrAero auf gleiche Weise zu weihen. Man fliegt gleich viel sicherer, wenn tiefempfundenes Gottvertrauen das Flugwesen Russlands vor dem Absturz bewahren wird.

Interkultur/Kulinarisches

Skepsis

Posted by Sascha Preiß on

Alessandra, eine italienische Freundin, die seit einiger Zeit in Irkutsk lebt und am liebsten hier bleiben möchte, erzählte uns kürzlich von einem neuen Restaurant. Ein wirkliches italienisches Restaurant, schwärmte sie, im Stadtzentrum, das auch der ehemalige Bürgermeister der Stadt unterstützte. Alessandra hatte dessen Sohn dereinst Italienisch-Unterricht erteilt, was dem romanophilen Bürgermeister gefiel, weshalb er sie auch ein wenig unterstützte. Für das neue Restaurant, erzählte sie, habe sie nicht nur bei Ausstattung und Rezepten für die Speisekarte beraten, sondern auch den Namen des Restaurants beigesteuert: Antico Borgo, das alte Dorf. Küche und Einrichtung des Lokals seien daher auch ländlich gehalten, toskanisch, schlicht und ursprünglich, und durchaus nicht immer so, wie man sich italienisches Essen vorstelle. Das beschränkt sich ja im Grunde auf Tiefkühlpizza und Spaghetti Bolognese aus der Dose.

Nun bin ich bereits zwei Mal im Alten Dorf gewesen und reise dort sehr gerne immer wieder hin. In der Tat ein wunderschönes Lokal, in dem man ganz hervorragend essen kann. Beide Male aber war das Restaurant fast vollkommen leer. Die Preise sind vergleichbar mit den „deutschen“ oder sonstigen „nationalen“ Restaurants (empfehlenswert: Mongolisch!), die weit teureren Sushi-Lokale sind ebenfalls deutlich frequentierter. Qualitativ kann kein Pizza-Bäcker der Stadt mithalten, in der populären Fastfood-Kette „MacFood“ wird gern auch mal Pizza mit Majonnaise als Käseersatz angeboten. Auch Reklame ist vorhanden, ein großes Werbebanner ist über die vielbefahrene ulica Karla Marksa gespannt, eine Pappfigur weist den Weg in die ruhige Nebenstraße, in der das Antico Borgo gelegen ist.

Also muss das Verschmähen des vor zwei Monaten eröffneten, einzigartigen Lokals einen anderen Grund haben. Meine Mitarbeiterin aber sagte, das sei völlig normal. Ein neu eröffnetes Restaurant ist in Russland anfangs immer leer. Die Leute seien sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen skeptisch, zwar auch neugierig, aber eben abwartend. Es brauche ein bisschen seine Zeit, bis es sich herumgesprochen hat und mit Gästen füllt. Aber dann kommen die Leute.

– Wenn niemand hingeht, wie soll es sich denn herumsprechen?

– Wir sind doch gerade drin.

– Zu wem gehst du nachher und berichtest?

– Weiß noch nicht. Vielleicht der Familie, Freunden. Geburtstage sind ein guter Anlass für Restaurantbesuche.

– Wissen Kunden eines neuen Lokals um ihren informellen Werbeauftrag?

– Selbstverständlich. Mündliche Weitergabe von Informationen ist unabdingbar für das Bestehen der russischen Gesellschaft. Jeder beteiligt sich daran, wie könnte er nicht?

– Wie kann man abwartend neugierig sein?

– Man könnte sagen, man möchte wohl gern, wartet aber auf einen Anlass mit persönlicher Einladung, mindestens aber auf persönliche mündliche Empfehlung einer vertrauten Person, um endlich ausprobieren zu dürfen.

– Die Information ist also, Zutrauen zu wecken?

– Zutrauen zur Neugier, ja.

– Ich vermute, interkulturelle Forschung ist nicht in Russland erfunden worden?

– Vermutlich nicht, nein.

Womöglich habe ich Alessandra ein paar zukünftige Gäste ins Dorf gelockt. Ein Kritikpunkt aber – und den hatte sie selbst angesprochen – ist das musikalische Ambiente.  Selbst für ein Restaurant, das ein antico im Namen führt, ist Italopop (Ramazzotti, Celentano etc) jenseits aller Atmosphäre.

Grenzenlos/Irkutsk/Statistik

Eine Meldung für potentielle Zivilisationsflüchtlinge

Posted by Sascha Preiß on

Während sich in Deutschland die Bundesnetzagentur auf die Versteigerung alter und neuer Frequenzen vorbereitet, um eine lückenlose Internetnutzung in Deutschland zu gewährleisten, ist eine Internetlandkarte ohne weiße Flecken im Irkutsker Gebiet auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Auf der Hand liegt, dass die enorme Gebietsgröße (mehr als doppelt so groß wie Deutschland) und schwache Besiedlung (71,5 mal geringer als Deutschland) eine flächendeckende Internetnutzung auch kaum wahrscheinlich werden lässt.  Wer sich also vor den Zurichtungen modernen Lebens in Sicherheit bringen möchte, ist hier gut aufgehoben, herzlich willkommen.

Dass man als Universitätsdozent in der russischen Provinz nach wie vor mit völliger Nicht-Nutzung des Internet von Studierenden konfrontiert wird, ist dennoch immer wieder überraschend.

– Wo finde ich Informationen über dies und das in Deutschland?
– Schauen Sie dafür am besten auf folgende Webseiten.
– Haben Sie nichts, was ich kopieren und mitnehmen kann?

Mag sein, dass auf Papier Gedrucktes grundsätzlich vertrauenerweckender ist als gestaltloser Bildschirmtext. (Papierbasierte Kommunikation ist eine der Säulen, auf denen u.a. hiesige Verwaltungsarbeit, mithin Gesellschaft beruht. Papier, auf denen eine Unterschrift steht, ist Zeugnis menschlicher Existenz. Maschinenerstellte, unterschriftslos gültige Dokumente sind ein Paradox und nicht vorstellbar.)

Mag auch sein, dass die Anschaffung eines Computers die finanziellen Möglichkeiten mancher Familien deutlich übersteigt.

Mag auch einfach sein, dass der Fragende mal nur hineinschauen und ein kleines Souvenir vom Büro des Ausländers mitnehmen wollte.

Die jetzt veröffentlichten Zahlen zur Internetnutzung im Irkutsker Gebiet legen den Schluss sehr nahe, dass Internetnutzung für den Großteil der Bevölkerung schlicht zu teuer und unattraktiv ist. Zumal es hier immer noch ein neues Medium ist, das durchaus umfangreicher beworben werden muss. Die Statistik zum Internet in Irkutsk weisen die Region als eine der schwach entwickelten Regionen im russischen Durchschnitt aus. Von den insgesamt 2,5Mio Einwohnern des Irkutsker Gebietes nutzen deutlich weniger als die Hälfte, 1,08Mio, überhaupt das Internet. Zum Vergleich die Internetnutzung in Deutschland 2009: 67,1%.

Bemerkenswert für den Irkutsker Raum sind dabei eine ganze Reihe von Punkten: Nicht nur ist die Nutzung von mobilem Internetzugang über Telefon oder USBstick im Gegensatz zu Kabelanschluss zu Hause überproportional hoch (926.000 : 154.000). Jeder Mobilfunkanbieter hat gleichzeitig Internettarife und entsprechende USBsticks im Angebot, die einfach zu bedienen sind und zuverlässig funktionieren – allerdings teuer in der Nutzung sind.

Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Internetanbietern (im Artikel sind 10 regionale aufgeführt, die überregionalen kommen noch dazu), unter denen offenkundig deutlich zu wenig marktwirtschaftliche Konkurrenz existiert, um ein verbraucherfreundliches Angebot für mehr Heimanschlüsse zu gewährleisten. So nutzen nur die Hälfte aller Internetnutzer die höheren, schnelleren Tarife, ein Viertel nutzen den jeweils niedrigsten Tarif (56k-Qualität und darunter) und 20% klagen über Verbindungsstörungen. In den „besserverdienenden“ Gegenden haben gerade einmal 30% der Einwohner einem Heimanschluss, ansonsten ganze 10%. Zum Vergleich das eine Zeitzone bzw 1000km westlich gelegene Krasnojarsk: dort ist ein Internetanschluss deutlich günstiger zu haben und wesentlich zuverlässiger, im Ergebnis surfen immerhin schon 50% der Einwohner von zu Hause.

Gründe für diese Situation, die spätestens seit Medwedjews Rede an die Nation als problematisch wahrgenommen wird, liegen an der völligen Zersplitterung des Internetmarktes. Allein das Stadtgebiet Irkutsk wird nur partiell von einigen Anbietern versorgt, selbst im Stadtzentrum ist es möglich, dass nur ein einziger Provider eine Verbindungseinrichtung anbietet, weil es anderen unmöglich ist, eine stabile, schnelle Verbindung zu gewährleisten. Eigene Erfahrungen bestätigen das. Ursache sind oftmals die hoffnungslos veraltete Infrastruktur, etwa noch aus sowjetischer Zeit stammende Telefonkabel, über die mehrheitlich der Webzugang geschaltet wird und die damit hoffnungslos überfordert sind. Im Ergebnis bleiben deutlich zu hohe Preise (die im Laufe der vergangenen 12 Monate gesunken sind) bei tendenziell schlechter Qualität. Im Moment zahlen wir für eine Flatrate mit Übertragungsrate deutlich unter DSL-Geschwindigkeit (bis 1024 Kb/s) 25 Euro pro Monat. Moskauer Tarife sehen da schon etwas europäischer aus.

Ausweg: die noch teureren mobilen Tarife. Oder das gute alte geduldige Papier. Oder Funkstille.

Anti-Terror/Baikal/Irkutsk/Ulica

Mittelpunkt der Welt

Posted by Sascha Preiß on

Es tut sich was in der ferneren sibirischen Provinz, die sich manchmal wegen seiner geografischen Lage auch schlicht den Mittelpunkt der Welt nennt.

Nicht allein, dass bei den Regionalwahlen am vergangenen Wochenende ein neuer Bürgermeister für Irkutsk gewählt wurde, der überraschend nicht der Partei „Einiges Russland“ angehört, was sogar auf tagesschau.de berichtet wurde.

Auch die schon länger angekündigte Ausgangssperre für Jugendliche unter 18 Jahren ist bereits seit Februar in Kraft. Zuwiderhandlungen können mit bis zu einer halben Million Rubel geahndet werden.

Mit 4 Millionen Rubel ist dagegen das Programm zum Einfangen herrenloser Hunde ausgestattet, mit dem inzwischen begonnen wurde.  Die Tiere sollen maximal sechs Monate verwahrt bleiben, danach werden sie – sofern sich ihrer niemand annimmt – eingeschläfert. Kranke Tiere werden sofort eingeschläfert. Das Programm soll die Sicherheit der Einwohner erhöhen. Doch unter der grundsätzlich tierlieben Bevölkerung regt sich Protest.

Apropos: Ganz so einfach lässt sich der Protest gegen das Zellulosekraftwerk Baikalsk wohl doch nicht aufhalten. Immerhin haben inzwischen beinah alle unabhängigen Ökologie-Vereine in ganz Russland, incl. Greenpeace Russland und dem WWF Russland, sich zu einer neuen Organisation zusammengeschlossen, die nur ein einziges Ziel verfolgt: den Baikal zu schützen. Russlandweit ist daher für morgen, den 20. März, aufgerufen, sich an der Irkutsker Demonstration zur Schließung des Zellulosekraftwerks zu beteiligen.

Zeitgleich hat Ministerpräsident Putin reich ausgestattete Stipendien zur Erforschung des Ökosystems Baikal vergeben. Was für Putin, selbst leidenschaftlicher Baikaltourist, der am See eine Villa besitzt, kein Widerspruch zu sein scheint mit seinem Einsatz für den Erhalt des umstrittenen Zellulosekraftwerks. Diese Geschichte ist lange noch nicht zu Ende.

Zu Ende hingegen ist die Geschichte der Jugendbande „Magie des Blutes“ und damit die besonders grausamer Verbrechen. Der 21jährige  und nun zu lebenslanger Haft verurteilte Konstantin Sch. gestand, mit befreundeten Schülern Obdachlose des Raions Novo-Lenino „aus reiner Neugier“ gefoltert, verstümmelt und ermordet zu haben.

Ebenfalls gestorben ist der zweijährige Nikita Tschemisow. Der Junge war Anfang April 2009 ins Krankhaus eingeliefert worden und kurz darauf ins Koma gefallen, aus dem er nicht mehr erwachte. Er war monatelang von seinen Eltern schwer misshandelt worden und schließlich an den Folgen seiner Verletzungen gestorben. Den jugendlichen Eltern drohen langjährige Haftstrafen. Das traurige Sterben des Jungen wurde intensiv medial begleitet.

minimal stories/Russland

minimal story 10

Posted by Sascha Preiß on

Wenn man am Nachmittag mit der kleinen Tochter im Tragetuch durch den kleinen, verwilderten Park hinter dem Dom Sukachova geht und von einer unbekannten jungen Frau mit Kind angesprochen wird, ob man ihr sagen könne, wo denn das Tuch gekauft sei, das gäbe es doch ganz sicher nicht in Irkutsk, das sei ganz bestimmt aus Deutschland, denn sie wisse ja, dass man selbst auch aus Deutschland sei und hier in Irkutsk für einige Zeit mit Familie lebe und beide, Mann und Frau, in je einer Universität als Deutschlehrer arbeite und die Tochter hier im Juni geboren wurde und Liljana heiße, die anderen Namen habe sie auch mal gewusst, und das wisse sie deshalb, weil ihr Kind genau wie Liljana auch immer eine Massage der Kinderärztin Larissa erhalte, die ihr das alles erzählt habe – dann also weiß man ganz zweifellos, dass die 600.000-Einwohner-Metropole am Baikal tiefste (russische) Provinz ist.

Anti-Terror/Baikal/Das Wetter/Irkutsk/Ulica

Zwischenstand

Posted by Sascha Preiß on

Was seither geschah:

Das Jahr 2010 hält Irkutsk mit ungewohnt langem, strengem Frost gefangen, weshalb schon einmal Warmwasserleitungen unter der Straße platzen oder sich Autos entzünden. Aufgrund der starken Schneefälle gibt es bereits Befürchtungen starker Frühjahrshochwasser und die Aufforderung, bis zum 1. März die Dächer von Schnee und Eis befreit zu haben. Trotz eigener Schwierigkeiten hat sich aber der Irkutsker Oblast an der humanitären Hilfe für die vom Winter hart getroffene Mongolei beteiligt.

Die Sehnsucht nach wärmeren Temperaturen scheint für viele ein Grund zu sein, auch dem politischen Klima etwas  Feuer zu machen. Manche sind deutlich sichtbar politisch aktiv geworden und werden die für den 14. März angesetzten Bürgermeisterwahlen kritisch zu begleiten wissen und weiterhin für die Stillegung des Zellulosekraftwerks Baikalsk demonstrieren.

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Apropos Feuer: Anfang Februar ist ein Teil des Schelechower Aluminiumwerks durch eine Brandexplosion zerstört worden, wobei drei Arbeiter getötet und eine unbekannte Zahl Arbeiter verletzt wurden. Aufgrund der Rauchentwicklung waren die Einwohner Schelechows und des Dorfes Olcha aufgefordert, sicherheitshalber in ihren luftdicht abgeschlossenen Wohnungen zu bleiben. Die dunkelgrüne, aluminiumoxid-haltige Rauchsäule zog gen Süden ab. Als Brandursache wird ein Kurzschluss vermutet.

Deutlich klarer scheinen die Ursachen der Brände im geplanten Museumsviertel an der Straße des 3. Juli in Irkutsk. Eine ganze Reihe von bewohnten alten Holzhäusern der Straßen des 3. Juli und Sedova sind in kurzem Abstand ausgebrannt. Die Feuerwehr vermutet einen Pyromanen am Werk, manch einer munkelt aber eher Brandstiftung, um die Häuser für die Sanierung als sibirisches Vorzeigeviertel vorzubereiten.

Ansonsten sind die Olympioniken des Irkutsker Oblastes, wie die Mehrheit der russischen Sportler, in Vancouver nicht ganz so erfolgreich wie erhofft. Trotz vorderer Platzierungen ist erst ein Edelmetall nach Irkutsk gekommen. Aber das war spektakulär: Erstmals in der olympischen Geschichte gewannen mit Aleksander Subkov  und Alexej Voevoda zwei russische Sportler im Zweierbob die Bronzemedaille.

Dafür sind die Renten auf 1862 Rubel erhöht worden, das sind nun monatlich 46 Euro.

Und manchmal kommt es vor, dass die Erde auch in Irkutsk deutlich spürbar bebt.