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Sprache/Universität

Brief an die deutschen Wirtschaftsprüfer

Posted by Sascha Preiß on

Heute habe ich Post bekommen. Bei meiner Arbeit bekommt man durchaus häufiger mal Post. Manchmal auch handgeschrieben oder sogar persönlich überbracht. Letztes Jahr zu Weihnachten klopfte ein Mädchen an meine Tür und gab mir verstohlen-aufgeregt eine kleine Tüte. Ich hatte das Mädchen noch nie gesehen. Sie sagte in gebrochenem Deutsch, dass sie hoffe, es möge mir gefallen, und ging. In der Tüte waren ein Paar Handschuhe, selbstgestrickt, in den Deutschlandfarben und stark parfümiert. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ihr hätte danken können.

Die heutige Post kam schon vor einigen Tagen elektronisch. Eine betrefflose Mail mit Anhang im docx-Format, das landet notwendig erst einmal in der Postfach-Sülze. Trotzdem hab ichs rausgefischt und geöffnet. Die docx-Datei ist auf russisch „an die deutschen Wirtschaftsprüfer“ genannt:

Guten Morgen, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit freundlichen Grüßen Sie aus ein Student der Fakultät „Accounting und Audit“ der Baikalsee staatliche Universität für Wirtschaft und Recht Alexej Stepanowitsch Chudjakow*. Einer These schreibe über die Prüfung, ich eine der Verzweigungen „Audit History in Deutschland“, übergeben die Prüfung auf Deutsch, und wir wollen nicht mit deutscher Wissenschaftler in der Buchhaltung zu sprechen kommen und Überwachung, sollten von der deutsche Professor eingeladen werden

Ich bin zwar ein wenig in Sorge wegen der „Überwachung“, dennoch fand ich diese Post aus irgendeinem Grund bemerkenswert. Die Ermittlungen, worum es sich handelt, sind angelaufen.

(*Name geändert.)

Begraben/Statistik

Schöne Blumen in Storkow

Posted by Sascha Preiß on

November. Im Gang zu ihrem Büro steht eine dunkle, gebeugte Gestalt, ein pelziger Mantel, eine Chapka auf den Kopf, älter. Jemand, der sehr augenscheinlich nicht hier hin gehört. Sie geht an ihm vorbei, er schaut sie kaum an, steht und wartet. Eine Kollegin fragt ein paar Minuten später, ob er vielleicht zu ihnen wolle. Ja, antwortet er und schaut auf eine Uhr am Handgelenk, aber er habe einen Termin erst in 25 Minuten. Exakt zur vereinbarten Stunde klopft es an der Tür und Herr Perebojew tritt ein. Aus einem Beutel holt er einen Pralinenkasten und zwei Gläser mit süß eingelegten Preisel- und Heidelbeeren, als Dank für die Fotos vom Friedhof.

März. Eine etwas entfernte Freundin betritt das Büro und fragt sie, ob es ihr möglich wäre, den Vater eines Bekannten zu finden, genauer: dessen Grab. Er habe bei Berlin gekämpft und sei 1945 gefallen, der genaue Namen sei unsicher, L.G. Peredajew wahrscheinlich. Ob es möglich sei, es zu fotografieren, ihr Bekannter könne selbst nicht mehr nach Deutschland reisen. Eine E-Mail an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit Sitz in Kassel gibt unerwartet schnell, innerhalb von zwei Tagen, Auskunft: „Das Grab von Lukian Grigoriewitsch Peredajew, geboren 1906, liegt auf der Kriegsgräberstätte in Stralendorf bei Schwerin / Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland. Endgrablage: Abteilung 1, Block 3, Reihe 18 bzw 19. Primärer Bestattungsort war Rieplos nördlich Storkow / Mark Brandenburg.“ Ein Aktenvermerk, der gründlicher nicht hätte sein können. Sie verspricht ihrer etwas entfernten Freundin, beim nächsten Deutschlandaufenthalt das Stralendorfer Grab aufzusuchen und zu fotografieren.

Juni. Die Suche in Stralendorf bei Schwerin bleibt erfolglos. Es gibt lediglich den ganz normalen Kirchfriedhof, auf dem sich keine Kriegsgräber befinden. Ein Soldatenfriedhof, der zudem in Abteilungen, Blöcke und Reihen unterteilt wäre, ist weder auf der Landkarte eingezeichnet noch den informierten Damen vom kombinierten Post-Blumenladen in der Hauptstraße bekannt. Auch die freundlichen Mitarbeiterinnen vom Verwaltungsamt Stralendorf kennen keinen größeren sowjetischen Friedhof in der Gegend. Immerhin aber haben sie Kenntnis von sechs Gräbern sowjetischer Kriegstoter im Verwaltungsbereich, von denen sogar in einem Aktenordner über den Zustand der verwalteten Friedhöfe Fotografien aufbewahrt werden. L.G. Peredajew ist jedoch nicht darunter. Die Antwort auf die Nachfrage, wohin die Stralendorfer Toten verschwunden sein können, benötigt zwei Wochen: „Dem Friedhof Stralendorf wurden über 300 russ. Kriegstote zugeordnet, die aber dort nicht ruhen können. In der uns vorliegenden Gräberliste von Stralendorf werden 6 Kriegstote nachgewiesen. Es kann sich bei der Liste, die leider kein ‚Deckblatt‘ hat, evtl. um Stralsund handeln. Wir werden versuchen, eine Klärung durchzuführen. Jedoch wird dies einige Monate dauern.“

August. Unmittelbar nach Rückkehr aus Deutschland erhält sie vom Volksbund folgende Information: „Nunmehr können wir Ihnen mitteilen, dass der Genannte auf dem Friedhof der Stadt Storkow (1-3-18) seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Die uns vorliegende Gräberliste war vollkommen falsch zugeordnet und daher versehentlich für Stralendorf erfasst worden. Hier wird noch eine entsprechende Korrektur erfolgen. Wir hoffen, Ihnen gedient zu haben.“ Ob das derart lokalisierte Grab das tatsächlich gesuchte ist, bleibt bis auf Weiteres unklar.

Oktober. Die etwas entfernte Freundin, von der missglückten Suche etwas enttäuscht, fragt, ob es neue Erkenntnisse in der Sache Peredajew gibt und ein Foto des Grabes nicht irgendwie aufgetrieben werden kann. Sie beauftragt daraufhin eine andere Freundin, die in Berlin lebt, einmal ins südöstlich von Berlin liegende Storkow zu fahren und die Ruhestätte zu fotografieren. Nach einigen Wochen sagt die Freundin aus Zeitgründen ab. Sie fragt daher ihre in Westbrandenburg lebende Mutter, ob sie nicht Zeit und Energie für dieses Foto aufbringen könne. Diese sagt nach einigem Zögern, sie lasse ihren schwerkranken Schwiegervater so ungern allein, zu. Am 14.11. fährt die Mutter nach Storkow und sucht zuerst auf dem Stadtfriedhof, dort liegen jedoch keine sowjetischen Kriegstoten. Der gesuchte Friedhof befindet sich zwischen den Gemeinden Storkow und Rieplos. Während einer Gedenkstunde anlässlich des Volkstrauertages versucht die Mutter, die kyrillischen Buchstaben auf den Grabsteinen zu entziffern. Schließlich macht sie einige Bilder eines Massengrabs, auf dem u.a. auch der Name Peredajew aufgeführt ist, allerdings ohne jegliche Vor- und Vatersnamen sowie Geburts- und Todesdaten, was ihn auf der Tafel zu einem von 10 Unbekannten unter 34 Soldaten dieses Grabes macht.

In Russland ist die etwas entfernte Freundin über das Auffinden des Grabes erfreut. Als sie die Bilder sieht, kann sie jedoch ihre Enttäuschung nicht verbergen: „Das wird ihm ganz sicher nicht gefallen, ein Massengrab.“

Wie Herr Perebojew bei der Dozentin im Büro sitzt, sagt er: „Ich hatte ein bisschen gehofft, sie finden etwas anderes. Von dem Massengrab wusste ich doch. Ich war 1976 selbst dort.“ Er hatte sich seither erfolglos eingesetzt, für seinen Vater ein würdiges Einzelgrab zu erlangen. Denn anders als der Grabstein aussagt, ist der Tote nicht unbekannt, zwar ein einfacher Soldat, ja, aber eben nicht unbekannt. Sein Vater, Lukjan Jegorowitsch Perebojew, am 26. September 1906 geboren und in der handschriftlich verfassten Sterbeanzeige vom 6. Mai 1945 Lukjan Georgiewitsch genannt, starb am 25. April 1945 in Berlin, 13 Tage vor der vollständigen Kapitulation Nazideutschlands, im Alter von 38 Jahren. Der Sohn, noch vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zur Welt gekommen, bemühte sich seit den 60er Jahren, das Grab seines Vaters ausfindig zu machen. Im Juli 1973 wurde ihm von der zuständigen Abteilung des Verteidigungsministeriums mitgeteilt, dass sein Vater, L.G. Perebojew, in einem Massengrab auf einem Friedhof im deutschen Storkow begraben liegt. Bei seinem Besuch des Grabes stellte er jedoch fest, dass alle Daten sowie Vor- und Vatersnamen fehlten, zudem der Familienname falsch geschrieben war: Peredajew. Daraufhin traf er sich mit einem in Frankfurt / Oder stationieren Offizier der sowjetischen Armee und bat diesen, ihm bei seinem Bemühen um ein korrekt beschriftetes Einzelgrab zu helfen, da die sowjetischen Behörden kein Interesse daran zeigten. Die Botschaft etwa antwortete ihm auf seine Anfrage, dass sie mehrere tausend Gräber verwalten würde und daher sich nicht um ein einzelnes Grab kümmern könne. Der Offizier versprach ihm, eine korrekt beschriftete Grabplatte zu besorgen. Der Sohn zahlte dafür eine nicht unbedeutende Summe Geldes, es musste an die Grabplatte und die notwendige Umbettung gedacht werden, außerdem eine Aufwandsentschädigung. Der Offizier verlangte zudem, dass beim Umzug seiner Mutter aus Sibirien nach Kiew geholfen und ihm aus Gründen der Heimatsehnsucht nach Frankfurt ein echter sibirischer Samowar geschickt werden sollte. Der Sohn tat alles. Und wusste seither nicht mehr, was mit dem Grab seines Vaters geschehen war. Nach beinah 35 Jahren Wartens hatte er nun auf den Fotografien erkennen müssen, dass absolut nichts geschehen war.

Sie war sich nicht sicher, ob sie aufgrund der Namens- und Ortsverwechslungen nicht ein falsches Grab gefunden hatte. Ob es nicht auf dem Rieplos-Storkower Friedhof doch ein korrekt beschriftetes Einzelgrab gab, das allerdings ihre Mutter, da sie des Kyrillischen kaum mächtig ist, nicht entdeckt hatte. Oder ob es sich um zwei völlig verschiedene Soldaten handelte, die zufällig sehr ähnliche Namen trugen.

Herr Perebojew dankte nach einer halben Stunde Unterhaltung und wandte sich zum Gehen. Auch wenn es nicht das angemessene Grab seines Vaters wäre, er sei ihr für ihre Hilfe dankbar. Und ihrer Mutter, denn die hatte so schöne Blumen gekauft.