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Begraben/Transsib

Der Tote im Zug

Posted by Sascha Preiß on

Da fuhr einmal ein Zug von Wladiwostok nach Pensa und als er zwischendurch in Irkutsk ankam, wurde ein Reisender tot aufgefunden. Das ist leider alles.

Und damit dürfen Sie Ihren Assoziationen freien Lauf lassen: Stellen Sie sich vor, wir befinden uns im tiefsten Russland, unternehmen eine mythische Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Und im Nachbarabteil, unbemerkt von allen Mitreisenden, stirbt ein Mensch. Da kräuselt sich doch alles durch den Kopf: Von Höhepunkten des Kriminalfilms im 20. Jahrhundert zu Tiefpunkten des zeitgenössischen Russlandfilms aus westlicher Sicht. Alles, was mit unbekannten Toten in fahrenden Zügen zu tun hat, soll erlaubt sein. Daraus knüpfen wir uns schon eine mehr oder weniger stringente Geschichte zusammen, keine Angst. Oder vielleicht doch: Womöglich halten Sie es eher mit Horror oder aufregenden übersinnlichen Phänomenen, zudem jeder Menge unfreiwilliger Komik? Oder aber Ihnen steht der Sinn nach Realismus, ein bisschen was mit Psychologie und Sozialdrama, möglicherweise geht es um einen Handlungsreisenden (ein suizidgefährdeter Mann mit tragischer Familiengeschichte) oder Sie mögen es ganz und gar fantastisch: starb der Mann handlungsreisend durch verschiedene Roman/Theater/Filmhandlungen?. Oder aber Sie sehen das Ganze mehr so prosaisch und der Tote ist einfach nur einer von denen, die sich in Russland ja sowieso immer und überall zu Tode saufen. Wie wäre Ihnen die Geschichte am liebsten? Aber auf Fragen zu erfahren, wie die Geschichte wirklich war, darf nur mit Ja oder Nein geantwortet werden.

Poetisch-wundersamer Abspann.

Baikal/Transsib

Unterwegs mit der Baikalrundbahn

Posted by Sascha Preiß on

Eine kleine Reise mit dem Кругобайкальский поезд Ende Dezember 2010.

Von Irkutsk aus führte ursprünglich die Bahntrasse der Transsib an der Angara entlang zum Baikal und von dort weiter nach Sjudjanka. Durch den Staudamm und den Bau des Wasserkraftwerks an der Angara 1950-59 stieg der Wasserspiegel von Fluss und See um etwa einen Meter und ein Teil der Strecke versank. Erhalten sind befahrbare 82km am Baikalufer.

Wer selbst fahren möchte: http://www.krugobaikalka.ru
Die Fahrt wird ganzjährig angeboten, jeweils samstags und sonntags, sie beginnt und endet in Irkutsk, Dauer etwa 12h. Ticketpreis pro Person (2010): 1250 Rubel. Im Winter wird kein Essen im Zug angeboten, im Sommer ist die Tour auch auf deutsch und englisch möglich.

Zur Bildergalerie: http://www.flickr.com/photos/51543792@N08 /sets/72157625743489112/

Ästhetik/Transsib

Inneneinrichtung (nature morte)

Posted by Sascha Preiß on

Über dem Bett in der Ablage befindet sich eine Komsomolskaja Prawda, ausgelesen, das Kreuzworträtsel gelöst, zusammengefaltet. Der Beginn eines Artikels aus der Rubrik Ich verstehe das nicht ist zu erkennen, zu der Frage, warum Kleinkinder als erstes „там“ = „da“ sagen. Der Rest der Zeitung ist verdeckt von einer Illustrierten unbekannten Namens, ebenfalls zusammengefaltet, eine junge Frau lächelt herab. Dazu sind in der Ablage zwei Plastetüten, gelb und dunkelblau, ebenfalls gefaltet, weiterhin ein zusammengerollter Gürtel, ein benutztes Taschentuch, eine Rolle Klopapier, weiß mit lila Blumen, perforiert, außerdem hängt ein Stift herunter.

Rechts neben der Ablage über dem Bett ist eine Metallstange an das braune Sprelacart mit Holzmuster angebracht, über der ein kleines, rauhes Stofftuch hängt, ein weißes Leinen, blau gestreift, gestärkt. Das Tuch ist Bestandteil des Bettwäschepaketes und dienst als Handtuch. Es ist ordentlich gefaltet und aufgehängt.

Links neben der Ablage, die aus einem gebogenen Metallrohr besteht, das ein ca 15x50cm großes Rechteck ergibt, mit einem dazwischen gespannten Stoffnetz, und an zwei kleinen Halterungen an der Wand befestigt ist, befindet sich ein Haken. Daran hängt eine schwarze Plastetüte mit etwas Essbarem darin, aufgrund der Ausbeulungen vermutlich Waffeln oder Kekse in größerer Stückzahl. Darunter hängt eine farblos durchsichtige Plastetüte, in ihr sind zwei Äpfel, zwei handlange Gurken, ein großer Löffel und ein Portionsbeutel Instantkaffee. Die Henkel der beiden Tüten sind gedehnt, diese Tüten befinden sich seit längerer Zeit an ihrem Ort.

Zwischen die Matratze des darüberliegenden Bettes und dem etwa 15cm langen, 5cm breiten Metallhaken zur Auflage desselben neben dem Fenster an der Stirnseite des Bettes ist eine weitere Plastetüte eingeklemmt, darin befinden sich einige Birnen, ein Sechserpack Eier aus Pappe und weitere Gurken. Die Tüte hängt etwas höher als die benachbarten beiden, aber zentral über dem Kissen bzw über dem Kopf der schlafenden Person. Das Kissen selbst ist, wie auch die ausrollbare Schlafmatratze, mit dem weißen, blaugestreiften Leinen bezogen, aus dem auch das Handtuch gefertigt ist. Unter dem Kissen, nicht auf den ersten Blick erkennbar, ist die schwarze abgegriffene Handtasche, darin alle Wertsachen, die Geldbörse und der Pass der Reisenden verborgen.

Unter dem Bett, an der dem Fenster zugewandten Seite, neben der Box für Reisegepäck, die von der klappbaren Matratze verschlossen wird, stehen als Vorrate ungeöffnete Lebensmittel, eine Reihe Tetrapacks für Milch und Kefir und eine metallene Brotdose.

Am Fußende des Bettes, auf der Matratze, steht die schwarzweiß gemusterte Waschtasche, vor dieser liegt ein in eine Plastehülle gesteckter, mehrseitiger Internetausdruck des Zugfahrplans mit allen Haltepunkten, der jeweiligen Ankunft- und Abfahrtszeit sowie die Aufenthaltsdauer (in Minuten). Zusätzlich liegt ein altes Reisehandbuch bereit, das vermutlich alle Strecken der sowjetischen Bahn verzeichnet, als rote Linie in schematische Karten gezeichnet, an deren Verlauf die Haltepunkte und größere Gewässer zur Orientierung eingetragen sind. Das Buch ist aufgeschlagen auf der Seite, das den Streckenverlauf zwischen Krasnojarsk und Irkutsk wiedergibt. Befindet sich die Reisende im Abteil, liegt darauf eine Zigarettenpackung Chesterfield Gold.

Am Kleiderhaken neben der Abteiltür, auf einem zugeigenen schwarzen Plastebügel, ist ein dunkelgraues T-Shirt aufgehängt, darüber eine leuchtend hellgrüne Allwetterjacke.

Auf dem Tisch ist eine schneeweiße Tischdecke ausgebreitet, darauf liegt eine nicht gefaltete, ebenfalls ausgelesene Komsomolskaja Prawda, als Unterlage zur Schonung des hell leuchtenden Stoffes. An vorderer Tischkante und der dem Bett zugewandten Seite liegt eine ältere Ausgabe von Charlotte Brontes Jane Eyre in unbekannter russischer Übersetzung. Das Buch ist in Kunstleder mit einem ähnlich braunen Farbton wie die Abteilwände und -gardinen gebunden, Titel und Autorin waren einst mit goldenen Lettern in den Einband geprägt. Als Lesezeichen schaut am oberen Seitenrand, etwa in der Mitte des Textes, ein sauber zusammengefaltetes orangefarbenes Bonbonpapier heraus. Auf dem Buch liegt eine Lesebrille auf dem Rücken, die Bügel geöffnet. Hinter dem Buch, näher zum Fenster, steht linkerhand eine farblose Plasteschale, geöffnet, der Deckel liegt darunter. In ihr befindet sich ein Teil einer vor längerer Zeit angeschnittenen, leicht fleckigen gelben Birne, die Schnittflächen sind ebenfalls etwas gebräunt. Das Messer, ein kleineres Küchenmesser mit schwarzem Griff, liegt daneben. Rechterhand steht eine halbhohe, alte Emaille-Tasse, weiß, mit einem frühlingshaften Motiv, ein Reh trifft ein junges fröhliches Mädchen auf einer saftigen Wiese. Am Rand ist an manchen Stellen die Emaille-Beschichtung deutlich sichtbar abgeschlagen. Ein kleiner Löffel steckt darin. Dahinter sind einige auf der Zeitung liegende Teebeutel zu erkennen, sehr wahrscheinlich grüner und schwarzer Tee. Diese Dinge sind mit einem offenbar für diesen Zweck mitgeführten Leinentuch bedeckt, sehr wahrscheinlich ein abgerissenes Stück eines alten Kopfkissens oder Bettwäschebezuges. Am Fenster, noch auf der Zeitung stehend, eine angefangene Bierflasche unbekannter Marke, die zur Hälfte geleert ist und deren vom Öffner halbseitig nach oben verbogener Kronkorken wieder als Verschluss aufgesetzt wurde. Das Bier steht seit geraumer Zeit unberührt, schaumlos und zimmerwarm. Während meiner 18stündigen Anwesenheit im Coupéabteil 5 des Waggon 8 ändert sich die Position der Bierflasche nicht. Neben ihr befindet sich die rote Pappschachtel für die Teebeutel. Der Rest der Tischfläche ist frei.

Unter dem Tisch, an der die Tischplatte tragenden Metallstange ist ebenfalls eine durchsichtige Plastetüte befestigt, in der sich kleine getrocknete oder geräucherte Fische befinden. Diese Tüte schaukelt in den Fahrtbewegungen des Zuges, macht dabei aber keinerlei Geräusch. Ebenfalls unter dem Tisch, jedoch auf der Heizung, in unmittelbarer Nähe zum Kopfkissen, stehen einige Schachteln, u.a. eine gläserne Dose Nescafé, dazu eine Pappschachtel, in welcher die schwarzen Schalen der Sonnenblumensamen (aus welcher Tüte?) während der Lektüre von Jane Eyre aufbewahrt werden.

An der Metallhalterung der Matratze des gegenüberliegenden Doppelstockbettensembles ist eine weitere Plastetüte angebracht, darin steckt ein einzelne größere Forelle, geräuchert. Ein Teil ihres Fettes ist in der Wärme des Raumes zu einer bräunlichen Soße zerlaufen, in welcher kopfüber der Fisch hängt. Der Boden der Tüte ist vom Maul des Fisches an einer Stelle deutlich gedehnt, doch sie reißt nicht. Der Geruch des geräucherten Tieres hat sich in der Raumluft ausgebreitet.

Die Frau, die ihre Reiseutensilien auf solche Weise im Abteil verteilt hat, ist geschätzte Mitte 60 und wohl erfahrene Zugreisende. Ihren Platz, diesen Platz, scheint sie für ihre 7tägigen Fahrten von Moskau nach Blagoweshzhensk (und wieder 7 Tage zurück) stets in diesem Abteil zu reservieren. Von diesem Abteil werden nur zwei der vier Plätze verkauft, die frei bleibenden Betten sind Notunterkünfte für Milizionäre oder besondere Zugbegleitung, falls diese nach Meinung des Zugführers notwendig werden sollte. Da die Frau auf diese Weise meist allein in ihrem Abteil reist, hat sie für Stationen, an denen sie während längerem Aufenthalt aussteigt, um zu rauchen oder etwas Essbares zu kaufen, einen eigenen Vierkantschlüssel mit, der genau zum Schloss der Abteiltür passt, um das Coupé zu verschließen. Wie eine Wohnung.

Irkutsk/minimal stories/Ulica

minimal story 2

Posted by Sascha Preiß on

Auf dem Bahnhofsvorplatz warten die Reisenden nach Mitternacht auf den Zug. Sie betrachten die junge Frau auf der anderen Straßenseite, die ihrer enteilenden Freundin hinterherbrüllt, diese schreit etwas zurück und geht weiter. Die sich streitenden Frauen wirken belustigend auf die Reisenden. Vor der brüllenden Frau auf der Straßenmitte quer über den Straßenbahngleisen liegt ein Mann und bekommt davon überhaupt nichts mit. Auch die Autos, die ihn mit großer Vorsicht umfahren, bemerkt er nicht. Straßenbahnen hat er zu dieser Stunde ebenso nicht mehr zu befürchten. Für die Reisenden ist nicht eindeutig erkennbar, ob sie sich um die Gesundheit des Liegenden sorgen und einen Arzt rufen oder alles so belassen sollte, wie es ist. Einige gehen näher heran. Es sieht so aus, als wäre der Mann unter zu viel Alkohol aus der nahegelegenen Bar zusammengebrochen und ruhe sich aus. Die Reisenden sind erleichtert. Die Frau hat sich neben den Liegenden gekniet, schreit weiterhin Flüche der Enteilten nach und Liebkosungen in den Schlaf ihres Liebsten. Offenbar handelt es sich um eine Szene eines Eifersuchtsdramas, einige Reisende lachen, andere rauchen Zigaretten. Später legt sie sich zu ihm. Noch später steht sie auf und schleift den Mann von der Straße. Am Bahnhof fährt der Zug ein.

Fernost/Grenzenlos/Transsib

3336 Kilometer Zugfahrt

Posted by Sascha Preiß on

Von Chabarowsk nach Irkutsk, 14. April, 10.45 Uhr – 16. April, 17.30 Uhr, 2009. Zweieinhalb Tage im Zug, drei Zeitzonen auf dem russischen Globus. Ich habe aus 342 Fotos 62 Bilder ausgewählt, von denen ich noch einmal die Hälfte aussortiere. Wieviel Foto verträgt dieser Eintrag? Es bleiben übrig: die Landschaft da draußen, drei Blicke durchs Glas.

I
Chabarowsk – das Jüdische autonome Gebiet um Birobidjan – Skovorodino

Der Zug taucht sofort nach Verlassen der Hauptstadt des Fernen Ostens unter der Sonne hindurch, es beginnt zu schneien. Bis zum Ende des Tages. Bis wir uns sinnlos teuer im Zugrestaurant Essen bestellen. Bis wir einschlafen und sich der Waggon vollständig geleert hat. Bis zum nächsten Morgen.

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II
Mogocha – Region Chita

Eigentlich beschäftige ich mich nicht mit Fotografie. Plötzlich habe ich 3 Apparate zur Verfügung (zwei haben wir sowieso, einen habe ich noch in Vladivostok gekauft). Plötzlich erscheint jeder Blick aus dem Fenster erhaltenswert, museal wertvoll. Unendliche Landschaft, gelb und grau, kalt und leer. Der Norden Asiens ist das absolute Gegenbild zum warmen, vielbevölkerten Süden. Hier muss man stundenlang in die Grasweiten schauen – nirgendwo eine Siedlung. Hin und wieder ein einsamer Streckenposten. Eine Meditation. Der langsame Wandel der Landschaft. Fotos, vom Fensterschmutz getrübt. Manchmal brennt die Weite da draußen.

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III
Ulan-Ude – Baikal – Irkutsk

Und dann, nach mongolischer Steppe, der Selenga, dann ist er da: der See. Gefroren, blendend, ungeheuer. Die Fahrt um das Südende dauert 3 Stunden. Die Zugbegleiterin lächelt über meine Ungeduld. Sie putzt den Waggon. Täglich, um die Mittagszeit. Ihre Kollegin schläft, sie ist nachts zuständig. Ein junger Holländer glaubt, nicht nur zum putzen. Ich schaue aus dem Fenster. Nach dem See beginnt die Unruhe: Das Zuhause nähert sich. 55 Stunden sind keine Zeit.

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Baikal/Transsib

Etüde mit Omul

Posted by Sascha Preiß on

Im Baikal lebt die endemische Forellenart Omul, von der es sechs kleine Unterarten gibt. Der Fisch ist eine überall am See erhältliche Delikatesse, angeboten in den Varianten geräuchert, gebraten, gekocht, roh mit Zwiebeln oder als Ikrá (Kaviar).

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Fährt man mit der Bahn um den südlichen Teil des Sees, kann man am Zwischenhalt Sljudjanka den Fisch aus dem Waggon von örtlichen Köchinnen und Räucherinnen kaufen, 5 Tiere zu 100 Rubel bzw 2,50 Euro. Hier ein zufriedener Kunde:

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Gibt es typische Arten der Verspeisung?
Ja. Die nachfolgend gezeigte erste Variante ist die ortsgebundene Verspeisung. In unzähligen Imbissen kann man ohne übertriebenen Komfort (Teller, Besteck) den zubereiteten Fisch, eine Scheibe Brot und nachher einen Tee genießen, etwa um die Wartezeit auf den Bus zu verkürzen.

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Die zweite, beliebtere Variante ist Omul-to-go, der Fisch für unterwegs, vorrangig für den Gebrauch in Bahnabteilen. Den geräucherten Omul in unserer Bildfolge speist für Sie ein unbekannter Reisender, möglicherweise Querflötist (vgl. Bild 6):

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Приятного аппетита!