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Allgemein

minimal story 15

Posted by Sascha Preiß on

Die alte Dame mit dem Kopftuch schaut etwas verwirrt unter den Bäumen am Straßenrand drein. „Haben Sie zwei Kinder gesehen, in Schulkleidung?“ Gestern war Tag des Wissens, der offizielle Schulbeginn in Russland. Es scheint, als vermisst sie die Kinder sehr. „Zwei Jungs, Burjaten wohl, jedenfalls nicht russisch. Die haben mit Steinen mein Fenster eingeworfen.“ Sie droht mit einer Faust und schaut in alle Richtungen. „Haben Sie die nicht gesehen? Das waren so nicht-russische Kinder, Russen machen das nicht.“ Sie schaut noch einmal in alle Richtungen der leeren Straße, dann geht sie davon.

Interkultur

Getarnte Fremde

Posted by Sascha Preiß on

Ausländer sind in Russland schnell als Ausländer bzw Nicht-Russen erkannt. Ob der Taxifahrer annimmt, man komme des Akzentes wegen sicherlich aus Jugoslawien, oder die Kellnerin vermutet, man müsse mindestens aus Tschechien wenn nicht sogar Polen kommen, man habe so ein unverkennbar polnisches Gesicht, ist eigentlich unerheblich. Man ist Ausländer. Wenn man dann antwortet, man sei in Wahrheit in Deutschland gebürtig, wird mancher verwundert, mit dem Lächeln des Bedauerns oder fassungslos hysterisch fragen, was einen als Deutscher denn nun ausgerechnet hierher verschlagen habe. Es kann sogar vorkommen, dass man gefragt wird, ob ein Foto aufgenommen werden könne, weil man für den Fragenden die erste leibhaftige Begegnung mit einem Ausländer darstellt. So z.B. ein jugendlicher Mitarbeiter in einem kleinen Handyladen im Irkutsker Stadtzentrum. (Sein Kollege winkte jedoch ab, er sei aus Vladivostok und dort so vielen Ausländern begegnet, das würde überbewertet. So blieben wir ungeknipst.) Viele Möglichkeiten der Tarnung indes hat man nicht. Ein neues Handy mit viel bunt und Kram ist aber ein guter Anfang. Als wir aus dem Laden wieder heraustraten, sagte eine russische Freundin: Deutsche in Sibirien erkenne man stets an ihren uralten, spartanischen Mobiltelefonen, jetzt, da ich ein neues habe, sei es bedeutend schwerer, mich als Ausländer auszumachen. Dann lachten wir.

Interkultur/Sprache/Universität

International Office

Posted by Sascha Preiß on

Die Beziehung Russland zu China ist alles andere als freundschaftlich, eher fußt sie auf reichlich Angst und neidvoller Verachtung gegenüber den wirtschaftlichen Errungenschaften des Reiches der Mitte. Manchmal wächst sich das zu Phobien vor einer chinesischen Invasion aus, die in der Literatur fröhlich karikiert werden, um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen.

Tatsächlich herrscht in Russland, nicht ausgelöst aber verstärkt durch die Wirtschaftskrise, eine recht umfassende Stagnation. Die Geburtenraten geben Anlass zur Sorge, Jahr für Jahr verlassen weniger Schüler die Schulen, schreiben sich weniger Studenten in den Hochschulen ein. Seit diesem Jahr steigen die Geburtenzahlen erstmals wieder, doch davon profitieren die Hochschulen in etwa 20 Jahren. Die Mehrzahl der sibirischen Universitäten ist deshalb dazu übergegangen, zu hunderten Studenten aus China anzuwerben und zu immatrikulieren, um so den stetigen Schwund russischer Studenten aufzufangen und gleichzeitig zahlungskräftige Kundschaft zu erhalten, denn die ungeliebten, aber notwendigen Fremdstudenten sind mehrheitlich für teure Wirtschaftsstudiengänge eingeschrieben, bei denen das Semester schon mal 1000 Euro kosten kann. Für die chinesischen Studenten lohnt sich aber das Geschäft, sie bekommen ein russisches Diplom und erstklassigen Zugang zum begehrten russischen Markt, woraus ein stabiler Handel erwächst, der für beide Seiten ertragreich ist. Chinesen aber bleiben in Russland ungern gesehene Gäste, denen mit Höflichkeit nicht grundsätzlich zu begegnen ist.

Der Honorativ ist eine zentrale Kategorie der russischen Sprache. Unbekannte Personen nicht in der höflichen Sie-Form anzureden bedeutet, ihnen ohne Achtung zu begegnen, sie zu beleidigen. Die Mitarbeiterinnen des Akademischen Auslandsamtes (International Office) der TU Irkutsk sind seit Herbst 2009 mit den mehr als 300 chinesischen Studenten, die mühsam russisch lernen und von der Universität betreut werden, sichtlich überfordert. Insbesondere zu Ferienzeiten sinkt daher die Höflichkeitsschwelle enorm, wird keine Energie in überflüssige Formulierungen verschwendet. Den jungen Chinesen, der wegen seiner polizeilichen Registrierung nachfragt, wirft die Beauftragte für Registrierungsfragen die Worte hin: Setz dich, warte bis du drankommst. Den europäischen Gaststudenten, der eine ähnliche Frage hat, schaut sie an: Und was wollen Sie?

Interkultur/minimal stories/Universität

minimal story 5

Posted by Sascha Preiß on

Die erkältete russische Kollegin trinkt mit ihrem erkälteten deutschen Kollegen einen Bio-Kräutertee im Beutel, den er aus einer deutschen Apotheke mitbrachte.  Nach wenigen Schlucken hat sie die wesentlichen Teekräuter am Geschmack erkannt, wohingegen er die Zusammensetzung von der Packungsangabe erfährt. Kräutertee kauft hier eigentlich niemand, sagt sie, wir pflücken uns die Sachen im Sommer und machen die Tees alle selber. Er wüsste nicht einmal zu sagen, wie z.B. Süßholz oder blühender Fenchel genau aussieht.