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Kulinarisches/minimal stories

Der Nuckel

Posted by Sascha Preiß on

Die Kellnerin des Restaurants „Pivovarnya“ im 130. Quartal öffnet die Tür. Sie trägt eine strenge, antiquiert wirkende Bedienstetenkleidung, schwarzer Rock, weiße Schürze. In Brusthöhe ist ein Schild angebracht, das ihren (vermutlich realen) Vornamen angibt. An diesem Namensschild trägt sie, wie alle ihre Kolleginnen, vollkommen unpassend, einen großen bunten Nuckel. Die Gäste, drei junge Männer, treten ein, schauen sich im eher leeren Gastraum um, bewundern die hinter der Bar stehenden Braukessel. Einer der Gäste schielt wiederholt, irritiert, auf den lieblos, mit einer aufgebogenen Büroklammer am hellen Schürzenstoff befestigten Nuckel. Den Namen der jungen Frau liest er nicht. Während sie die Kleidung der Gäste in die Garderobe hängt, bittet er um Erlaubnis, ihr eine Frage stellen zu dürfen. Die Kellnerin hat bislang kein unnötiges Wort verloren, nun wendet sie sich ihm aufmerksam zu. Wieso sie denn diesen Nuckel trage, was das denn mit Bier brauen zu tun habe? Ihr Interesse ist augenblicklich verschwunden, sie lächelt gequält und sagt, das Restaurant sei jetzt ein Jahr alt, der Nuckel symbolisiere das. Es ist unverkennbar, dass das humoristisch gemeinte Accessoire niemand witzig findet, es aber für eine Weile zur Arbeitskleidung gehört. Die jungen Männer setzen sich, die Kellnerin bedient. Als sie irgendwann gehen, gibt eine andere Kellnerin die Jacken aus, sie trägt keinen Nuckel. Wo sei ihrer denn geblieben, fragt der Gast. Ach irgendwo da an der Theke, antwortet sie gemütlich, ihr sei das Ding allzu blöd. Es gäbe doch nichts Schöneres, meint er später zu seinen Kumpeln, die sich über vegetarische Lebensweise unterhalten, als ein gesundes Selbstbewusstsein.

Interkultur/Kulinarisches

Skepsis

Posted by Sascha Preiß on

Alessandra, eine italienische Freundin, die seit einiger Zeit in Irkutsk lebt und am liebsten hier bleiben möchte, erzählte uns kürzlich von einem neuen Restaurant. Ein wirkliches italienisches Restaurant, schwärmte sie, im Stadtzentrum, das auch der ehemalige Bürgermeister der Stadt unterstützte. Alessandra hatte dessen Sohn dereinst Italienisch-Unterricht erteilt, was dem romanophilen Bürgermeister gefiel, weshalb er sie auch ein wenig unterstützte. Für das neue Restaurant, erzählte sie, habe sie nicht nur bei Ausstattung und Rezepten für die Speisekarte beraten, sondern auch den Namen des Restaurants beigesteuert: Antico Borgo, das alte Dorf. Küche und Einrichtung des Lokals seien daher auch ländlich gehalten, toskanisch, schlicht und ursprünglich, und durchaus nicht immer so, wie man sich italienisches Essen vorstelle. Das beschränkt sich ja im Grunde auf Tiefkühlpizza und Spaghetti Bolognese aus der Dose.

Nun bin ich bereits zwei Mal im Alten Dorf gewesen und reise dort sehr gerne immer wieder hin. In der Tat ein wunderschönes Lokal, in dem man ganz hervorragend essen kann. Beide Male aber war das Restaurant fast vollkommen leer. Die Preise sind vergleichbar mit den „deutschen“ oder sonstigen „nationalen“ Restaurants (empfehlenswert: Mongolisch!), die weit teureren Sushi-Lokale sind ebenfalls deutlich frequentierter. Qualitativ kann kein Pizza-Bäcker der Stadt mithalten, in der populären Fastfood-Kette „MacFood“ wird gern auch mal Pizza mit Majonnaise als Käseersatz angeboten. Auch Reklame ist vorhanden, ein großes Werbebanner ist über die vielbefahrene ulica Karla Marksa gespannt, eine Pappfigur weist den Weg in die ruhige Nebenstraße, in der das Antico Borgo gelegen ist.

Also muss das Verschmähen des vor zwei Monaten eröffneten, einzigartigen Lokals einen anderen Grund haben. Meine Mitarbeiterin aber sagte, das sei völlig normal. Ein neu eröffnetes Restaurant ist in Russland anfangs immer leer. Die Leute seien sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen skeptisch, zwar auch neugierig, aber eben abwartend. Es brauche ein bisschen seine Zeit, bis es sich herumgesprochen hat und mit Gästen füllt. Aber dann kommen die Leute.

– Wenn niemand hingeht, wie soll es sich denn herumsprechen?

– Wir sind doch gerade drin.

– Zu wem gehst du nachher und berichtest?

– Weiß noch nicht. Vielleicht der Familie, Freunden. Geburtstage sind ein guter Anlass für Restaurantbesuche.

– Wissen Kunden eines neuen Lokals um ihren informellen Werbeauftrag?

– Selbstverständlich. Mündliche Weitergabe von Informationen ist unabdingbar für das Bestehen der russischen Gesellschaft. Jeder beteiligt sich daran, wie könnte er nicht?

– Wie kann man abwartend neugierig sein?

– Man könnte sagen, man möchte wohl gern, wartet aber auf einen Anlass mit persönlicher Einladung, mindestens aber auf persönliche mündliche Empfehlung einer vertrauten Person, um endlich ausprobieren zu dürfen.

– Die Information ist also, Zutrauen zu wecken?

– Zutrauen zur Neugier, ja.

– Ich vermute, interkulturelle Forschung ist nicht in Russland erfunden worden?

– Vermutlich nicht, nein.

Womöglich habe ich Alessandra ein paar zukünftige Gäste ins Dorf gelockt. Ein Kritikpunkt aber – und den hatte sie selbst angesprochen – ist das musikalische Ambiente.  Selbst für ein Restaurant, das ein antico im Namen führt, ist Italopop (Ramazzotti, Celentano etc) jenseits aller Atmosphäre.

Irkutsk/Kulinarisches/minimal stories

minimal story 1

Posted by Sascha Preiß on

In einer der позная am Markt sitzen sich zwei junge Männer am Tisch gegenüber und essen langsam позы. Während des Kauens unterhalten sie sich ein wenig, ebenfalls langsam. Hauptsächlich versuchen sie, Bier zu trinken. Es ist offensichtlich nicht ihr erstes heute. Schließlich schlafen sie ein und beide Köpfe liegen neben den Tellern auf der Tischplatte.  Die junge Kellnerin räumt die nicht vollständig gegessenen позы ab und bringt den bereits bestellten nächsten Gang. Die Gäste am Tisch schlafen. Nach einer Weile stellt sich die Kellnerin neben die Schläfer, rüttelt kräftig an ihnen, weckt sie mit gewaltiger Stimme auf und setzt sie mitsamt dem Essen vor die Tür. Die kaum des Gehens fähigen Männer fügen sich widerspruchslos der resoluten Frau.