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Irkutsk/Russland/Ulica

Zwischen den Wahlen

Posted by Sascha Preiß on

Die Wahlen zur russischen Duma liegen zehn Tage zurück, an den massenhaften Protesten in Russland gegen Wahlfälschungen und Einflussnahme bei der Stimmabgabe hat sich am Samstag auch die Irkutsker Bevölkerung beteiligt, vorerst nur mit etwa 1000 Menschen. In drei Tagen ist aber eine größere Protestdemonstration angekündigt. Die Proteste verliefen absolut friedlich, obwohl ursprünglich nur 300 Menschen für den Kirow-Platz zugelassen waren und die Demonstration kurzerhand vor den Zirkus verlegt werden musste, aus Sichtweite der Gebietsverwaltung. Allerdings gibt es dennoch reichlich Unterstützer des Protests und beinah alles wird im Internet dokumentiert. Dieses bislang als unzensiert geltende Medium hat in der Tat stark an Bedeutung in Russland gewonnen und damit auch die Aufmerksamkeit der politischen Führung – Prognosen sehen eine zunehmende Überwachung voraus. Auch in Irkutsk wurden am 4.Dezember die Server der freien Wahlbeobachter von „Golos“ blockiert (Meldung um 17:15), inzwischen machen Meldungen über behördliche Beobachtung aller mit Irkutsk verknüpften Profile bei vkontakte und facebook die Runde.

Die Duma-Wahlen sind im Irkutsker Gebiet nicht besonders berauschend für „Einiges Russland“ ausgegangen, im gesamten Oblast erreichte ER gerade einmal knapp 35%, relativ dicht gefolgt von den Kommunisten (27,79%) und mit großem Abstand zu Schirinowskis LDPR (17,34%) und „Gerechtes Russland“ (13,36%). In Irkutsk und Angarsk lagen die Kommunisten sogar deutlich vor ER, auch wenn die gesamte Familie des ehemals kommunistischen Bürgermeisters V. Kondraschow, der nach den Bürgermeisterwahlen im März 2010 recht bald zu „Einiges Russland“ überlief, für „Stabilität“, einem Schlüsselwort im Wahlkampf von ER, stimmte. Offenkundig ist seine Popularität nicht wahlbedeutend. Ebensowenig wie die im Irkutsker Gebiet gemeldeten Verletzungen des Wahlrechts, wie „Golos“ zur Liste anmerkt.

Dennoch sind die Ängste oder Hoffnungen auf ein Abflauen des Protestes wohl unbegründet – solange Identitätsfiguren wie Alexei Navalnyj noch in Haft sitzen, wird es weiterhin Guerilla-Aktion wie die der russischen feministischen Punk-Band „Pussy Riot“ geben, die kurzerhand eine Art Konzert für die Inhaftierten an den Gefängnismauern veranstalteten. (Wobei insbesondere bei Navalnyj nicht klar ist, wo Aufklärung und nationale Verklärung beginnt: Immerhin ist er einer der Mitunterstützer des diesjährigen „Russki Marsch“ in Moskau, einer ultranationalistischen Veranstaltung. Und für den Moskauer Protest am 24.12. haben sich bereits reichlich Nationalisten angekündigt.)

Wahlplakat der Kommunisten: Zur Wahl mit (einer) Kalaschnikow

Unabhängig von der weiteren Entwicklung der Proteste und dem gegen sie gerichteten Vorgehen der Behörden – wenn es nun ganz schlecht für V.V. Putin bei den im März 2012 anstehenden Präsidentschaftswahlen läuft, könnte tatsächlich ein gegenwärtiger Irkutsker die Russische Föderation anführen: Der Gouverneur des Irkutsker Gebietes, Parteimitglied von ER und gebürtige Leningrader Dmitrij Mesentsev ist einverstanden, sich als Kandidat für das Präsidentenamt aufzustellen. Auf die Frage von Journalisten, dass er damit auch Putin selbst direkte Konkurrenz macht, antwortete er: „Für mich bleibt Vladimir Vladimirowitsch erst einmal Regierungsvorsitzender.“ Außerdem sei er kein Parteimitglied von ER – eine Haltung, die Putin und dessen Distanzierung von seiner eigenen Partei bekräftigt. Nun, wir dürfen davon ausgehen, dass man sich außerhalb des Irkutsker Gebietes und jenseits der russischen Grenzen nicht wirklich an den Namen Mesentsev wird gewöhnen müssen. Auch wenn in diesem heißen russischen Winter viel möglich scheint. (Ob der Weihnachtsmann in Russland die Kommunisten wählt?)

Auch zum Neujahrsfest sind Kalaschnikows der Knaller: Weihnachtsmann und Snegurotschka gut gerüstet in Camouflage-Mänteln

Im Übrigen: Während sich in Moskau die meisten Kinos vor der Dumawahl schlicht nicht wagten, den kontroversen Film „Chodorkovskij“ auszustrahlen, wird der Film ab Freitag für zwei Wochen im „Dom Kino“ gezeigt. Dies als Ankündigung für alle Interessenten, die noch keine Gelegenheit hatten, den Film zu sehen, mich inbegriffen.

Russland

Staatsbürgerkunde in 13 Sekunden

Posted by Sascha Preiß on

Die Reaktionen auf die Präsidentschaftsrochade Putin-Medwedjew sind national und international alles andere als begeisternd. Auch im näheren Freundeskreis ist wenig Euphorie und Aufbruchstimmung zu spüren. Der Hersteller dieser seit 2008 in Russland recht populären Kühlschrankmagneten wird sich hingegen seines Geschäftes weiterhin erfreuen können. Prägnanter als auf diesem kleinen Stück Plaste ist das seit vier Jahren existierende und weitere sechs (vermutlich zwölf) Jahre geltende politische System Russlands kaum je zusammengefasst worden.

Anti-Terror/Ästhetik/Irkutsk/Russland/Statistik/Ulica

Eine saubere Stadt für den Gesandten Gottes

Posted by Sascha Preiß on

So sauber hat man die Stadt lange nicht gesehen. Gefegte Wege und Straßen, leere Mülleimer, keine parkenden Autos in der Innenstadt. Da wird deutlich, wie eng die meisten Gehwege für Fußgänger sind und dass die Bäume noch immer nicht grünen, trotz seit Tagen frühlingshaften Temperaturen. Aber die Sonne scheint. Und überall stehen Polizisten, alle 100m. Unter der uniformierten Beobachtung läuft der Verkehr heute entschleunigter, weniger gehetzt. Und weil die Wege frei sind (mit Ausnahme der unbeobachteten Seitenstraßen) und alles ruhig rollt, wird die Stadt einen ihrer ganz seltenen unfallfreien Tage erleben. Wenigstens solange der russische Präsident noch in Irkutsk weilt.

Für den Staatsoberhauptsbesuch wirft sich die Stadt in ihren seriösen, zivilisierten Anzug. Ein bisschen aufgehübscht hat man sich, ein paar Straßen werden ausgebessert, Geländer gestrichen, Brücken gereinigt. Obwohl Medwedjew nicht eigentlich die Stadt oder gar deren Bewohner besucht, sondern die örtlichen Institutionen. Ein nächtlicher Ausflug ans Angara-Ufer, begleitet vom Gouverneur des Gebietes, ist der einzige realte Ortskontakt. Kein Menschenbad, kein Händeschütteln oder Winken, kein Fabrik- oder Schulbesuch. Statt dessen in der langen schwarzen Limousine durch die Leninstraße zum Administrationsgebäude, von diesem oder jenem Ausflugsziel am Baikal kommend.

Eher zufällig gerate ich in die Zeit, als die Innenstadt vollständig abgesperrt wird für die Durchfahrt der Präsidentenkolonne. Für etwa eine Stunde kommt im Zentrum nahezu alles zum Erliegen. Die meisten können auf die Behinderungen und Wartezeiten in ihrem Tagesrhythmus liebend gern verzichten. Wenn sie könnten, würden sie alle aufs Land fliehen. Der Busfahrer, dessen Fahrzeug wie alle anderen in den völlig verstopften Nebenstraßen stecken bleibt, verabschiedet mich beim Ausstieg: „Richten Sie Ihre Danksagungen an Präsident Medwedjew!“ Popularität sieht anders aus. Die ist wohl kaum das Ziel der Reise. Das Staatsoberhaupt hat den Innenminister, den Justizminister, die Gesundheits- und Sozialministerin, den Minister für Sport, Tourismus und Jugend, den Bildungsminister und den Minister für Kommunikation und Medien nicht für ein Bad in der Menge mitgebracht. Medwedjew will arbeiten. Unter anderem gilt es, mit vereinten Kräften den Kampf gegen die Drogenabhängigkeit der russischen Jugend aufzunehmen. Ein Thema, das nicht zufällig in Irkutsk auf die Agenda Russlands kommt. Das Irkutsker Gebiet gilt als eine der Hochburgen in Russland mit zweimal mehr Abhängigen als im gesamtrussischen Durchschnitt. In Russland werden nach offiziellen Zahlen mindestens 2,5 Millionen Drogenabhängige vermutet, von denen 70% unter 30 Jahre als sind – mit entsprechend hoher Sterberate. Russland bekommt auf diese Weise ein gewaltiges demographisches Problem. Medwedjew sucht nun, die Kräfte gegen die Abhängigkeit zu vereinen, sieht es als gesamtrussische Aufgabe und fordert zunächst einmal Tests von Schülern, das Sperren von Webseiten mit Anleitungen zur eigenen Drogenproduktion, und denkt über die Einführung einer Zwangsbehandlung anstelle von Gefängnisstrafen für Abhängige und Drogenkonsumenten nach.

Eine Studentin sagt, Medwedjew sei ihr zu kompliziert, sie mag Putin mehr, der ist einfach, volksnah, verständlich. Aber sie nehme auch diesen, denn alle russischen Präsidenten, hieße es ja, wären von Gott gesandt. An der Leninstraße sind einige hundert Menschen versammelt, die meisten einfach Passanten mit irgendeinem Ziel, dass sie nun zu Fuß erreichen müssen. Die einzigen sichtbaren Fahnen sind in den Händen von Mitgliedern der kommunistischen Partei, manch einer schwenkt die Fahne der Sowjetunion. Ansonsten spannungslose Ruhe, Verkehrspolizisten und stetig weiterschaltende Ampeln, rot, grün, rot, in den Seitenstraßen unendlich viele Fahrzeuge. Der perfekte Moment für einen Häuserbrand, die Feuerwehr hat keine Chance. Über der Stadt liegen dunkle Nebel, die Sonne ist auch verschwunden, kalter Wind kommt auf.

Und dann fährt ein Polizeiauto mit Blaulicht entlang, ermahnt die Fußgänger, die Straße nicht mehr zu betreten. Es ist das Zeichen, woraufhin alle ihre Mobiltelefone ziehen und die anrollenden Fahrzeuge filmen. Aus der Ferne nähern sie sich, rund 20 Autos fahren rasch vorbei. Und als sie vorüber sind, gehen die Menschen weiter, dann strömen aus allen Nebenarmen die Verkehrsfluten hervor und donnern durch die Straßen, solange bis wieder abgesperrt wird, wenn des Gesandten Arbeit getan ist und er weiterfährt.