Postsowjetische Numismatik
Seinerzeit, damals, davnym-davno war Mathematik die Königsdisziplin sowjetischer Hochschulen, Kopfrechnen, Algebra, Analysis, Geometrie – seit Beginn der modernen Wissenschaften in Russland unter Peter I. zählte Mathematik zu den Kerndisziplinen der Naturwissenschaften, nur noch übertroffen von der Kunst des Schachspiels. Das goldene Zeitalter der russischen Bildung ist leider längst vorbei, und manchmal scheint man auch ein bisschen zu verstehen, wie grundlegend sich seither der Wille zur Mathematik, an der jeder Sowjetbürger getreu Lenins Auftrag schon im Alltag teilhatte, gewandelt hat. Gestern stolperte ich tatsächlich über eine aus dem Fugenschmutz der Gehwegplatten schimmernde sowjetische Münze – im Wert von 15 Kopeken. Meine Bewunderung für das sowjetische Bildungssystem war umfassend.
Halbe Münzwerte, in der überwiegenden Mehrzahl als 50/100el einer Dezimalwährungshaupteinheit wiedergegeben (z.B. 50 Pfennig, aber auch 1/2 franc †), sind in Europa und weiten Teilen der Welt ebenso gewöhnlich wie Viertel-, Fünftel- oder Zehntel-Münzen (Quarter Dollar, 20 Cent, 10 Lipa). Dass man jedoch auf die Idee kommen könnte, eine Münze im Wert von Drei-Zwanzigstel der Hauptwährung zu entwerfen (zzgl. eines 3-Kopeken-Stücks, also ein Fünftel des Drei-Zwanzigstel-Stückes, das mir bislang aber noch nicht auf den Irkutsker Straßen begegnet ist), ist in der Tat höhere Alltagsmathematik.
Dass es nach dem Ende der Sowjetunion mit der Volksbildung rapide abwärts gehen muss, lässt sich ohne weiteres an den einfallslosen Währungsunterteilungen des russischen Rubel ablesen: Es gibt lediglich 1er und 5er-Teilungen, beginnend von einer und fünf Kopeken (die aber im realen Zahlungsverkehr keine Rolle spielen, statt dessen bei Hochzeiten als „echtes Konfetti“ Verwendung finden), zehn und fünfzig Kopeken, einem und fünf Rubel etc. Einzige Ausnahme aufgrund des häufigen Gebrauchs: die Zwei-Rubel-Münze. Bei soviel numismatischer Ödnis kann das postsowjetische Hirn wahrlich zu keinerlei intellektueller Leistung herausgefordert werden. Doch die Vereinfachung des Währungssystems hat auch pragmatische Gründe, denn bei aller Liebe zur Mathematik sind Kopfrechnenkenntnisse nicht überzubewerten. Denn schließlich gilt: Es gibt keinen Nobelpreis für Mathematik.