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Irkutsk/Ulica

350 Jahre Irkutsk!

Posted by Sascha Preiß on

Am 14. September fanden die offiziellen Feierlichkeiten zum 350. Jubiläum der Stadtgründung Irkutsks statt. Die 1661 am Angara-Ufer gegenüber der Mündung des Flusses Irkut – daher der Name – gegründete Kosakenfestung hat im Laufe ihrer recht kurzen Geschichte doch allerhand erlebt. Hervorzuheben sind dabei die schnelle Entwicklung zum Wirtschafts- und Verwaltungszentrum Ostsibiriens innerhalb eines Jahrhunderts, die unerwartete kulturelle Blüte aufgrund der verbannten Dekabristen, und nicht zuletzt die völlige Neugestaltung der Stadt nach dem verheerenden Brand von 1879. Mit Ausnahme des für den Baikalsee und die Streckenführung der TransSib folgenreichen Baus eines Wasserkraftwerks östlich der Stadt (1950-59) und manchem Kirchenabriss hat die sowjetische Ära vergleichsweise wenige gravierende Spuren im Stadtbild hinterlassen, weshalb Irkutsk eine gewisse sibirische Ursprünglichkeit bewahren konnte. Im Rahmen der Vorbereitungen zu den Geburtstagsfeierlichkeiten wurde das 130. Stadtquartal völlig umgestaltet (zwischen Dezember 2009 und Februar 2010 brannten 9 alte, bewohnte Häuser ab) und im historischen Stil zum Stadtgeburtstag neu eröffnet. Sämtliche Fassaden der Innenstadt wurden renoviert und neu gestrichen, alle Gehwege wurden neu verlegt und werden es z.T. noch immer. Letzteres allerdings sind Arbeiten, die Jahr für Jahr stattfinden, weil der sibirische Frost den Gehwegplatten ziemlich zusetzt. Darüberhinaus sind die Festlichkeiten, mit mehr als 5000 Polizisten gesichert, erstaunlich unfallfrei über die Stadtbühnen gegangen. Das darf ruhig weitere 350 jahre so bleiben.

Hier ein paar Bilder vom Volksfest auf dem zentralen Kirow-Square, unmittelbar vor Beginn des bis in die Nacht dauernden Festtagsprogramms: http://www.flickr.com/photos/51543792@N08/sets/72157627689259602/

Architektur/Ästhetik/Irkutsk/Ulica

Stadtentwicklung

Posted by Sascha Preiß on
Anti-Terror/Interkultur/Irkutsk/Liljana

Wie ich einmal dem Wachmann der Bankfiliale unter Zeugen die Hand schüttelte und übers Leben plauderte

Posted by Sascha Preiß on

Eines Tages kam es sogar soweit, dass meine Frau Geld brauchte und wir einen Bankautomaten aufsuchen mussten. Das ist im Normalfall nichts, was meine Anwesenheit erforderte, so auch diesmal. Aber wir hatten uns aus nicht mehr bekannten Gründen wohl irgendwo getroffen, womöglich sogar verabredet, vielleicht auf einen Kaffee, wie wir das inzwischen recht häufig tun, nach der Arbeit und vor dem zu Hause sein, denn wenn so ein Kind zu Hause ist und die Eltern quiekend vor Freude an der Tür erwartet und dringend von Mama-Papa bespaßt werden möchte und die aufopferungsvolle Njanja den Tagesbericht abgibt und sich schnell verabschiedet auf den morgigen Tag, dann ist es nicht mehr so mit dem Ausruhen und gemütlich ein Käffchen trinken, dann ist der zweite Teil des Arbeitstages angebrochen bis die Kleine dann irgendwann wenns dunkel ist im Bettchen schlummert, aber dann will man auch kein Käffchen mehr. Und nun war es passiert, dass meine Frau kein Geld mehr hatte, aber glücklicherweise eine Bankfiliale auf dem Heimweg herumstand. Dann taten wir das Naheliegende und gingen hinein. Zum absoluten Erstaunen meiner Frau aber tat ich drinnen nun das ganz und gar nicht mehr Naheliegende, denn ich wandte mich kurzerhand dem diensthabenden Wachmann zu, der mir mit einem fröhlichen Gesicht entgegenkam, und wir gaben uns freundschaftlich die Hand, begrüßten uns wie alte Kumpel und begannen eine kleine Plauderei.

Sie müssen jetzt wissen, dass das Wachmann-Business in Russland eines der verbreitetsten, wenn nicht das Business mit der höchsten Verbreitungsdichte in Russland überhaupt ist. Wachmänner gibt es überall, jedes Geschäft (ausgenommen die kleinen Straßenkioske) hat mindestens einen Охраник (Ochranik) angestellt, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als im Geschäft zu gucken und auf der Straße zu rauchen. Nichtrauchende Ochraniki gibt es nicht. Das Wachpersonal muss dabei unbedingt in blaugrüner Camouflage und schweren Stiefeln gekleidet sein, üblicherweise ist solche armee-ähnliche Spezialkleidung gesondert gepolstert, um Muskulatur zu verdeutlichen und entsprechend Schrecken zu verbreiten. Was bei der hohen Zahl der städtischen Fitnesscenter und deren maskulinen Mitgliedern muskelüberladener Mannsbilder, die dann meist auch als Ochranik arbeiten, zu einem schönen Verdopplungseffekt führt. Üblicherweise ist das Sicherheitsbusiness das zivile Altersheim ehemaliger Soldaten, insbesondere der aus Überzeugung. Alte Afghanistan- und Tschetschenienveteranen gründen allerorts Dutzende von Wachfirmen, vom Detektivbüro über Personenschutzdienste über Signaltechnik bis zu Waffenläden ist alles in fachkundigen Händen. Die 91 für Irkutsk registrierten Wachschutzagenturen tragen einprägsame Namen, etwa „Avantgarde-Security“, „Ranger“ oder „Sheriff“, die Agentur bei uns um die Ecke heißt „Das Erbe“, warum auch immer. Und die Wohnung unserer schräg gegenüber wird von denen beschützt, steht auf der großen Plakette an der Tür, warum auch immer. Die Sicherheit wird überall geschützt. Auch Universitäten können nur durch Personenschranken und mit Ausweis betreten werden, männliche Studenten absolvieren im zweiten Hochschuljahr einen Ochranik-Pflichtdienst. Das soll dann verhindern, dass im Bildungssystem geklaut wird wie die Raben, vor allem durch die vielen unbefugten Personen, die sich allerorts widerrechtlich in den Universitätsgebäuden aufhalten. So die Theorie. Als Ferienjobs für Studenten sind Wachdienste einfach zu haben, einer meiner Studenten hat mal im Sommer einen Monat im Buchladen gewächtert. Das war die vollendete Ödnis, sagte er, täglich 8h (außer sonntags) für ganze 7.000 Rubel, keine 200 Euro, und absolut nichts los, kein Diebstahl, kein Überfall, nur hinguckende Absicherung, wie die Bücher gemächlich einstauben, zwischendurch rauchen. Nun wollen wir aber nicht zu sehr darüber spotten, immerhin hat katastrophales Versagen der Sicherheitsdienste – der kleinen sichtbaren und dem einen großen unsichtbaren – innerhalb eines Jahres zwei Moskauer Tragödien ermöglicht, wobei wir hoffen bzw fest der Ansicht sind, dass die fernere sibirische Provinz, die laut neuestem Index nicht einmal zu den 30 wichtigsten Investitionsstandorten Russlands zählt, auch nicht für Ochraniki, von derartigen Grausamkeiten verschont bleibt.

Wenden wir uns wieder dem ungläubigen Gesicht meiner Frau zu, die mit einem Auge Geld aus dem Automaten zaubert, mit dem anderen gierig verfolgt, wie der großgewachsene glatzköpfige Ochranik-Schrank in doppeltgepolsterter Tarnkluft mir vom Gedeihen seines Söhnchens berichtet, der nun bald in den Kindergarten kommt, während unser Töchterchen ja doch um einiges jünger war, nicht? Und wie sie mit dem einen Auge aufpasst, das Geld und die Bankkarte richtig zu verstauen, mit dem anderen fassungslos mitansieht, wie ich dem Ochranik erzähle, dass unser Töchterchen ganz hervorragend russisch und deutsch verstehe und auch schon einige Wörter beider Sprachen sage. Und wie sie durchaus auch amüsiert in der Bankfiliale abwartet, bis ihr Männchen seinen Plausch mit dem Schrank beendet und sich die beiden Smalltalker händeschlagend verabschiedet haben, und mich dann einfach nur anschaut und: „Как?“ – Wie jetzt? Und ich weiß nicht mehr, ob in diesem kurzen Wörtchen Faszination, Aufklärungssucht oder schwelender Verdacht eines anormalen Geheimlebens ihres Mannes überwog. Dabei ist die Auflösung nicht ein Ding mysteriös, kein enttarntes Doppelleben, keine verschwiegenen Nachtclub-Besuche. Nur eine kurze Wartezeit vergangenen Sommer vor dem Puppentheater. Während ich der bislang einzige potentielle Zuschauer bin und auf Freunde warte, zünde ich eine Zigarette an und der Wachmann stellt sich dazu, offenkundig in Plauderstimmung. Und ich erzähle ein bisschen, und er erzählt ein bisschen. Und dann kommen meine Freunde und fragen, was ich denn so allein hier tue. Worauf ich auf den Ochranik zeige und wahrheitsgemäß sage, dass ich doch gar nicht allein wäre und mich nett unterhalten habe. Der Ochranik war dann mit der Zigarette zu ende und unser Kennenlernen auch. Das wars. Später habe ich ihn einmal vor der Bankfiliale rauchen sehen, da hat er mich wiedererkannt und gleich erzählt, dass er jetzt den Job hier hätte, der sei besser bezahlt, das sei eine Stufe aufwärts. Mystischer wirds nicht. Das hat meine Frau natürlich verstanden und wir haben darüber ein bisschen gelächelt und konnten beschwingt den Heimweg zum Kind antreten. Ich hatte allerdings noch ein wenig so eine Laune mit leichtem Anflug von Eigenbewunderung, weil mich der Gedanke so begeisterte, dass ich nun einen guten Bekannten beim Sicherheitsdienst hatte, was sich anfühlte wie den Chefeinlasser vom angesagtesten Edelclub im Handy gespeichert zu haben, was besonders tiefes Eintauchen in die Gesellschaft bezeichnete, die pure Exklusivität – welcher Ausländer konnte das schon von sich behaupten. Und vor allem: Ich war gesehen worden! Was nützen einem supergeheime Spezialkontakte, wenn man sie nicht präsentieren kann? Nicht, dass ich darauf irgendwann mal zurückgegriffen hätte, aber es fühlte sich für einen Moment gut an.

Gesehen hab ich den Mann bislang nicht wieder, so weiß ich grad gar nicht, wie es seinem Söhnchen geht. Möglich, dass er schon nicht mehr in der Bank arbeitet und schon weitergewandert ist zu einem besseren Posten. Was schade ist, denn ich hatte erwogen, nach und nach mit allen meinen Freunden und Bekannten wie zufällig an der Bank vorbeizukommen und schnell mal Geld abzuheben, persönliche Kontakte sollte man pflegen. Und Bewunderung ist einfach eine geile Droge.

Ästhetik/Irkutsk/Ulica

Streetview Irkutsk

Posted by Sascha Preiß on
Interkultur/Irkutsk/Liljana/selbst/Unter Deutschen

Erschöpfungsgrad. Eine kurze Retrospektive

Posted by Sascha Preiß on

Anfangs, als ich Irkutsk zum ersten Mal durch die Scheiben der TU-134 sah, war ich wohl etwas enttäuscht. Ich hatte auf symbolisches Wetter gehofft. Aber es regnete nur. Klima: mangelhaft. Das änderte sich rasch und seither gibt es nichts zu bemängeln.

Wie ist es so in der Stadt? Es lässt sich konsumieren, so viel man möchte, jeden Scheiß, jeden Tag. Ruhetage sind Museen und Behörden vorbehalten, auch die Post arbeitet sonntags. Deutsches Bier, Nutella, Ikea-Kram und iPhones, alles da. Für deutsche Medien gibts schnelles Internet, Bücher schickt Amazon in 10 Tagen, Musik per download. Irgendwo in dieser Stadt, vermute ich, bekommt man wohl auch geröstete Affenärsche. Welcher Mangel?

Reden wir also nicht weiter davon.

Und sonst so? In den vergangenen zweikommafünf Jahren sind mir ein halbes Dutzend Fälle bzw deutsche Personen begegnet, für die Baikaltourismus lebensentscheidend war: und sie kehrten erst verliebt, dann verheiratet und-oder verkindert zurück. Es gibt wohl keinen gradlinigeren Weg, Land und Leute kennenzulernen. Hat man nach Russland geheiratet, umsorgt einen eine enorme Familie. Und die Freunde sowieso. Wenn man nun aber bereits verheiratet ist und als Ausländerpaar nahe des Baikalufers ein Kind in die Welt wirft, dann gibt es wohl keinen gradlinigeren Weg, dass man von Land und Leuten ziemlich in Ruhe gelassen wird. Keiner kommt gratulieren, keiner ruft glückwünschend an oder schickt Blumen: das junge Glück soll sich ungestört erholen. Und da wären wir nun. Zu dritt. Allein.

Die Sache ist: Alle paar Wochen gehen wir uns aus dem Weg oder auf den Geist, mehr Optionen sind da nicht. Allabendlich nach der Arbeit aufeinanderhocken, jeder mit seiner Arbeit beschäftigt und lieber nicht das Kind ins Bett schaukeln. Es fehlt – Zeit. Für uns. Ein Zeitmangel ohne Eile und Hast, sondern ein Mangel an Gemeinsamkeit. Filme haben wir schon monatelang nicht mehr zu zweit gesehen. Der Kinobesuch für dieses Jahr lief so: Samstag sie, Sonntag ich, der andere machte derweil den Hirten. Das letzte Buch, das mir gelang durchzulesen, war Hertha Müller „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“. Für die 120 Seiten benötigte ich 4 Wochen und ich bin mir sicher, nichts mehr davon zu wissen. Meine Frau hat mir neulich Warlam Schalamow „Durch den Schnee – Erzählungen aus Korlyma 1-3“ geschenkt, 1250 Seiten. Ihr unerschütterlicher Optimismus, ein minutiöser Gulag-Bericht als kiloschwere Druchhalteparole. Das gemeinsame Gespräch ist auf symbolische Handlungen reduziert. Weil die Zeit knapp ist. Auf elterliche Unterstützung muss aus geografischen Gründen verzichtet werden. Von den Freunden nicht zu reden, Skype ist kein Ersatz für durchqualmte Kneipenabende. Immerhin haben wir ein Kindermädchen für die Tagesbetreuung, so können wir arbeiten fahren, 30min hin, 60min zurück, Abendstau. Kinderkrippen gibt es keine, Kinderbetreuung in Gruppen so gut wie nicht. Unser Töchterchen sucht Gesellschaft. Sie schaut sich tagtäglich den Schwangerschaftsratgeber von GU an, der hat viele Abbildungen. Wo kleine Kinder zu sehen sind, legt sie ihren Kopf hin und kuschelt mit ihnen. Schnee mag sie nicht so, da steht sie auf der Straße und bewegt sich nicht mehr. Mir wäre der Sinn nach Schneeballschlacht, aber mit wem. Und zu lange bei -15 geht auch nicht: Je tiefer die Temperaturen, umso höher das Schlafbedürfnis. Die Skala zeigt Erschöpfungsgrad an. Inzwischen kann ich locker 12h am Stück durchschlafen. Ich weiß nur nicht wann. Bin ich müde, gehen mir alle gewaltig auf den Geist bzw ich ihnen am liebsten aus dem Weg.

Ach ja, Weihnachten ist auch noch. Meine Frau organisiert einen ganzen Haufen Adventsfeiern. Sie fehlen ihr, weil sie Familie bedeuten. Wärme. Ich kann zu ihrem Unglück darauf verzichten. Unsere Mängel ergänzen sich nicht.

Mit einer Ausnahme: beide wollen wir trotzdem eine Weile hier bleiben. Schließlich haben wir von der Gegend noch kaum etwas gesehen. Die Baikal-Reise ist schon den zweiten Sommer verschoben worden. Im ersten kam das Kind, im zweiten fiel das Schiff aus. Die Herberge auf der Insel hat uns nun solange die Hütte reserviert, bis wir tatsächlich einmal kommen können.

Dort muss es schön sein, die haben offenbar genügend Zeit.

(Der Text entstand im Rahmen einer Tagebuch-Aktion auf jetzt.de.)

Anti-Terror/Irkutsk/Russland/Statistik/Ulica

Die Verschiebung des Baikal

Posted by Sascha Preiß on

Aus den Nachrichten der letzten Tage sticht eine besonders hervor: Der Baikal könnte im kommenden Jahr ein bisschen näher an Europa heranrücken, vielleicht aber auch nur sein östliches Ufer. Grund ist kein geografisches Wunder, sondern lediglich ein paar Entscheidungen mancher Parlamente, etwa des Irkutsker Gebietes, und der letztlichen Genehmigung des Regierungschefs Putin. Dem liegt nämlich ein Vorschlag aus Irkutsk vor, das Irkutsker Gebiet am westlichen Baikalufer um eine Zeitzone in eben den Westen zu verschieben. Man würde dann den Zeitunterschied zu Moskau auf 4 Stunden verringern können, was eine Reihe Arbeitserleichterungen insbesondere mit der russischen Hauptstadt zur Folge hätte. Der Vorschlag knüpft an die Zeitzonenreform des Präsidenten an, nach der mit Beginn der Sommerzeit 2010 die russischen Zonen von 11 auf 9 reduziert wurden. Dass von vielen Seiten eine noch radikalere Zeitkur für möglich gehalten wird, scheint nun auch Irkutsk zu einem geänderten Zeitplan getrieben zu haben. Denn ganz freiwillig ist der Vorschlag nicht entstanden.

Eine überaus radikale Zeitkur wurde am Ostufer des Baikal, in der Republik Burjatien, angeregt, in der normalerweise die Uhren gleich wie am Westbaikal ticken. Eine Abstimmung des burjatischen Nationalparlamentes in Ulan-Ude hätte aber zu einer paradoxen Situation geführt: Während das östliche Burjatien im März 2011 auf die Sommerzeitumstellung verzichten und somit eine Stunde an Moskau heranrücken würde, hätte das westliche Irkutsker Gebiet seine Zeitzone beibehalten – und der wohl einmalige Fall einer entgegengesetzten Zeitverschiebung innerhalb eines Landes wäre eingetreten. Damit selbst in Russland nicht alles möglich ist, kam nun die Gebietsverwaltung Irkutsk dem zu erwartenden Zeitparadox zuvor. Eigentlich ein bisschen schade.

Eine Moskauer Entscheidung über die Verschiebung des Baikal steht bislang aus.

Irkutsk/Statistik/Wildbahn

HIV in der Stadt

Posted by Sascha Preiß on

Irkutsk, das Paris des Ostens! Touristen, Nachtclubs mit Schaumpartys, Hotels mit Frauenservice für alleinreisende Männer, Vergnügungscenter und so weiter. Die Innenstadtfassaden leuchten, die Gehwege, Straßen und Grünanlagen werden alljährlich erneuert, auf dass die ostsibirische Metropole zum 350jährigen Stadtjubiläum 2011 glänzen und strahlen möge.

Nur ein bisschen stört die neueste offizielle Statistik über HIV-Infektionen der vergangenen 5 Jahre, die für den 2,5Mio Einwohner fassenden Oblast erstellt wurde. Danach ist Irkutsk zum zweitinfektiösesten Oblast ganz Russlands aufgestiegen. Zu Beginn des Jahres 2010 wurden 29.359 Personen mit HIV-Infektion registriert, also 1,2% der Gesamtbevölkerung. Vor Beginn des von der Regierung entwickelten Anti-AIDS-Projektes 2006 waren 19.429 Menschen als infiziert bekannt. Jährlich kommen also etwa 2.000 neue Infektionen hinzu, das sind 5,5 pro Tag. Weiterhin wurden im erhobenen Zeitraum 4.307 Kinder von infizierten Müttern zur Welt gebracht, allein 733 im Jahr 2009.

Nicht genannt werden die Orte, in denen die Infektionsrate am höchsten liegt. Ebensowenig, welche möglichen Gründe zu dieser katastrophalen Lage geführt haben und wie sich das auf die Sterberate in Irkutsk auswirkt. Aber vor allem: wie hoch der Anteil unter den jungen Menschen des Oblastes, aber auch ganz Russlands ist, da die höchste Ansteckungsgefahr vorrangig in der Bevölkerungsgruppe 16 bis 35 Jahre liegt.

Behauptungen, dass etwa wilder Klo-Sex Minderjähriger in Nachtclubs zu solchen Zahlen führt, sind wohl eher porno-fantastischer Unsinn. Resoluter ist da schon der Vorschlag, man solle doch einfach alle „diese Mädchen“, die auf Parkplätzen und Straßen herumstehen, gemeinsam mit den Drogenabhängigen einsperren. Erstaunlich selten hingegen wird das Thema Verhütung angesprochen.

Tatsächlich wird lieber einmal mehr abgetrieben als zum Kondom gegriffen. Seiten wie www.aborti.ru geben umfangreich Auskunft über Abtreibungsarten und was alles zu tun und zu beachten ist, auch wenn grundsätzlich für das ungeborene Leben plädiert wird. Über Verhütung ist allerdings nichts zu erfahren. Interessanter ist, dass sich diese und andere Seiten fast ausschließlich an Frauen richten. Nicht nur, dass die jungen Frauen die Risiken eines Schwangerschaftsabbruches beinah allein zu tragen hätten – ihnen wird in der Regel auch die Verantwortung für eine Schwangerschaft zugesprochen. Über Verantwortung des Mannes beim Sex wird mehrheitlich, etwa im russischen Wikipedia-Eintrag zu Problemen rund um Schwangerschaftsabbrüche, geschwiegen.

Insofern ist fraglich, ob aus den Statistiken sinnvolle Schlüsse gezogen werden oder ob das glitzernde Irkutsk im kommenden Jubiläumsjahr nicht doch auch den Aufstieg an die Spitze der russischen HIV-Charts „feiern“ wird.

Grenzenlos/Irkutsk/Statistik

Eine Meldung für potentielle Zivilisationsflüchtlinge

Posted by Sascha Preiß on

Während sich in Deutschland die Bundesnetzagentur auf die Versteigerung alter und neuer Frequenzen vorbereitet, um eine lückenlose Internetnutzung in Deutschland zu gewährleisten, ist eine Internetlandkarte ohne weiße Flecken im Irkutsker Gebiet auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Auf der Hand liegt, dass die enorme Gebietsgröße (mehr als doppelt so groß wie Deutschland) und schwache Besiedlung (71,5 mal geringer als Deutschland) eine flächendeckende Internetnutzung auch kaum wahrscheinlich werden lässt.  Wer sich also vor den Zurichtungen modernen Lebens in Sicherheit bringen möchte, ist hier gut aufgehoben, herzlich willkommen.

Dass man als Universitätsdozent in der russischen Provinz nach wie vor mit völliger Nicht-Nutzung des Internet von Studierenden konfrontiert wird, ist dennoch immer wieder überraschend.

– Wo finde ich Informationen über dies und das in Deutschland?
– Schauen Sie dafür am besten auf folgende Webseiten.
– Haben Sie nichts, was ich kopieren und mitnehmen kann?

Mag sein, dass auf Papier Gedrucktes grundsätzlich vertrauenerweckender ist als gestaltloser Bildschirmtext. (Papierbasierte Kommunikation ist eine der Säulen, auf denen u.a. hiesige Verwaltungsarbeit, mithin Gesellschaft beruht. Papier, auf denen eine Unterschrift steht, ist Zeugnis menschlicher Existenz. Maschinenerstellte, unterschriftslos gültige Dokumente sind ein Paradox und nicht vorstellbar.)

Mag auch sein, dass die Anschaffung eines Computers die finanziellen Möglichkeiten mancher Familien deutlich übersteigt.

Mag auch einfach sein, dass der Fragende mal nur hineinschauen und ein kleines Souvenir vom Büro des Ausländers mitnehmen wollte.

Die jetzt veröffentlichten Zahlen zur Internetnutzung im Irkutsker Gebiet legen den Schluss sehr nahe, dass Internetnutzung für den Großteil der Bevölkerung schlicht zu teuer und unattraktiv ist. Zumal es hier immer noch ein neues Medium ist, das durchaus umfangreicher beworben werden muss. Die Statistik zum Internet in Irkutsk weisen die Region als eine der schwach entwickelten Regionen im russischen Durchschnitt aus. Von den insgesamt 2,5Mio Einwohnern des Irkutsker Gebietes nutzen deutlich weniger als die Hälfte, 1,08Mio, überhaupt das Internet. Zum Vergleich die Internetnutzung in Deutschland 2009: 67,1%.

Bemerkenswert für den Irkutsker Raum sind dabei eine ganze Reihe von Punkten: Nicht nur ist die Nutzung von mobilem Internetzugang über Telefon oder USBstick im Gegensatz zu Kabelanschluss zu Hause überproportional hoch (926.000 : 154.000). Jeder Mobilfunkanbieter hat gleichzeitig Internettarife und entsprechende USBsticks im Angebot, die einfach zu bedienen sind und zuverlässig funktionieren – allerdings teuer in der Nutzung sind.

Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Internetanbietern (im Artikel sind 10 regionale aufgeführt, die überregionalen kommen noch dazu), unter denen offenkundig deutlich zu wenig marktwirtschaftliche Konkurrenz existiert, um ein verbraucherfreundliches Angebot für mehr Heimanschlüsse zu gewährleisten. So nutzen nur die Hälfte aller Internetnutzer die höheren, schnelleren Tarife, ein Viertel nutzen den jeweils niedrigsten Tarif (56k-Qualität und darunter) und 20% klagen über Verbindungsstörungen. In den „besserverdienenden“ Gegenden haben gerade einmal 30% der Einwohner einem Heimanschluss, ansonsten ganze 10%. Zum Vergleich das eine Zeitzone bzw 1000km westlich gelegene Krasnojarsk: dort ist ein Internetanschluss deutlich günstiger zu haben und wesentlich zuverlässiger, im Ergebnis surfen immerhin schon 50% der Einwohner von zu Hause.

Gründe für diese Situation, die spätestens seit Medwedjews Rede an die Nation als problematisch wahrgenommen wird, liegen an der völligen Zersplitterung des Internetmarktes. Allein das Stadtgebiet Irkutsk wird nur partiell von einigen Anbietern versorgt, selbst im Stadtzentrum ist es möglich, dass nur ein einziger Provider eine Verbindungseinrichtung anbietet, weil es anderen unmöglich ist, eine stabile, schnelle Verbindung zu gewährleisten. Eigene Erfahrungen bestätigen das. Ursache sind oftmals die hoffnungslos veraltete Infrastruktur, etwa noch aus sowjetischer Zeit stammende Telefonkabel, über die mehrheitlich der Webzugang geschaltet wird und die damit hoffnungslos überfordert sind. Im Ergebnis bleiben deutlich zu hohe Preise (die im Laufe der vergangenen 12 Monate gesunken sind) bei tendenziell schlechter Qualität. Im Moment zahlen wir für eine Flatrate mit Übertragungsrate deutlich unter DSL-Geschwindigkeit (bis 1024 Kb/s) 25 Euro pro Monat. Moskauer Tarife sehen da schon etwas europäischer aus.

Ausweg: die noch teureren mobilen Tarife. Oder das gute alte geduldige Papier. Oder Funkstille.

Anti-Terror/Baikal/Irkutsk/Ulica

Mittelpunkt der Welt

Posted by Sascha Preiß on

Es tut sich was in der ferneren sibirischen Provinz, die sich manchmal wegen seiner geografischen Lage auch schlicht den Mittelpunkt der Welt nennt.

Nicht allein, dass bei den Regionalwahlen am vergangenen Wochenende ein neuer Bürgermeister für Irkutsk gewählt wurde, der überraschend nicht der Partei „Einiges Russland“ angehört, was sogar auf tagesschau.de berichtet wurde.

Auch die schon länger angekündigte Ausgangssperre für Jugendliche unter 18 Jahren ist bereits seit Februar in Kraft. Zuwiderhandlungen können mit bis zu einer halben Million Rubel geahndet werden.

Mit 4 Millionen Rubel ist dagegen das Programm zum Einfangen herrenloser Hunde ausgestattet, mit dem inzwischen begonnen wurde.  Die Tiere sollen maximal sechs Monate verwahrt bleiben, danach werden sie – sofern sich ihrer niemand annimmt – eingeschläfert. Kranke Tiere werden sofort eingeschläfert. Das Programm soll die Sicherheit der Einwohner erhöhen. Doch unter der grundsätzlich tierlieben Bevölkerung regt sich Protest.

Apropos: Ganz so einfach lässt sich der Protest gegen das Zellulosekraftwerk Baikalsk wohl doch nicht aufhalten. Immerhin haben inzwischen beinah alle unabhängigen Ökologie-Vereine in ganz Russland, incl. Greenpeace Russland und dem WWF Russland, sich zu einer neuen Organisation zusammengeschlossen, die nur ein einziges Ziel verfolgt: den Baikal zu schützen. Russlandweit ist daher für morgen, den 20. März, aufgerufen, sich an der Irkutsker Demonstration zur Schließung des Zellulosekraftwerks zu beteiligen.

Zeitgleich hat Ministerpräsident Putin reich ausgestattete Stipendien zur Erforschung des Ökosystems Baikal vergeben. Was für Putin, selbst leidenschaftlicher Baikaltourist, der am See eine Villa besitzt, kein Widerspruch zu sein scheint mit seinem Einsatz für den Erhalt des umstrittenen Zellulosekraftwerks. Diese Geschichte ist lange noch nicht zu Ende.

Zu Ende hingegen ist die Geschichte der Jugendbande „Magie des Blutes“ und damit die besonders grausamer Verbrechen. Der 21jährige  und nun zu lebenslanger Haft verurteilte Konstantin Sch. gestand, mit befreundeten Schülern Obdachlose des Raions Novo-Lenino „aus reiner Neugier“ gefoltert, verstümmelt und ermordet zu haben.

Ebenfalls gestorben ist der zweijährige Nikita Tschemisow. Der Junge war Anfang April 2009 ins Krankhaus eingeliefert worden und kurz darauf ins Koma gefallen, aus dem er nicht mehr erwachte. Er war monatelang von seinen Eltern schwer misshandelt worden und schließlich an den Folgen seiner Verletzungen gestorben. Den jugendlichen Eltern drohen langjährige Haftstrafen. Das traurige Sterben des Jungen wurde intensiv medial begleitet.

minimal stories/Russland

minimal story 10

Posted by Sascha Preiß on

Wenn man am Nachmittag mit der kleinen Tochter im Tragetuch durch den kleinen, verwilderten Park hinter dem Dom Sukachova geht und von einer unbekannten jungen Frau mit Kind angesprochen wird, ob man ihr sagen könne, wo denn das Tuch gekauft sei, das gäbe es doch ganz sicher nicht in Irkutsk, das sei ganz bestimmt aus Deutschland, denn sie wisse ja, dass man selbst auch aus Deutschland sei und hier in Irkutsk für einige Zeit mit Familie lebe und beide, Mann und Frau, in je einer Universität als Deutschlehrer arbeite und die Tochter hier im Juni geboren wurde und Liljana heiße, die anderen Namen habe sie auch mal gewusst, und das wisse sie deshalb, weil ihr Kind genau wie Liljana auch immer eine Massage der Kinderärztin Larissa erhalte, die ihr das alles erzählt habe – dann also weiß man ganz zweifellos, dass die 600.000-Einwohner-Metropole am Baikal tiefste (russische) Provinz ist.