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Ästhetik/Das Wetter/Universität

Beglückender Frost

Posted by Sascha Preiß on

(Alexander Kluge zum 80.Geburtstag)

Die alte Biologin wusste aus ihrem Leben vorrangig die Winter zu berichten, als im Tropenhaus des Botanischen Gartens ein Großteil der Pflanzen erfroren. Bei anhaltenden Außentemperaturen von unter -40° hielt die Gebäudeisolierung nicht stand und die Heizanlagen konnten die notwendige Luftinnentemperatur von rund 50° nicht mehr gewährleisten.

– Der Frost ist nicht außergewöhnlich, solche Kälteperioden sind normal im Winter. Auch die Materialermüdung etwa alle 10 Jahre ist normal.

– Sie waren darauf vorbereitet, dass ein Teil Ihrer Forschungsgrundlage regelmäßig vernichtet wird?

– Selbstverständlich. Wobei es uns mit jedem Mal besser gelang, das Sterben aufzuhalten, wenn auch nie ganz zu verhindern. Vielleicht wollten wir das auch gar nicht.

– Sie hatten Interesse am Massensterben?

– Ein emotionales. Es ging um Betreuung.

– Und um den Einsatz für die Wiederbelebung?

– Eher um soziales Verhalten. Aufbau und Erhalt eines botanischen Gartens in diesen Breitengraden ist schön für die Forschung. Starb ein Teil oder war ein großer Teil davon bedroht, konnte ich eine ansteckende Begeisterung bei mir und den Kollegen beobachten, das Aufwallen des Schutz- und Fürsorgeinstinktes, gesellschaftliche Wärme. War der Garten gerettet und verteidigt, nahm das innerkollegiale Interesse ab, die gemeinschaftliche Aufgabe war getan. Die intensiven Tage empfand ich, auch angesichts der Außentemperaturen, als beglückend.

– Die Katastrophe als Katalysator – aber Sie haben nie den Prozess beschleunigt?

– Ich hätte die Heizung abstellen können, ja. Doch Glück kann man nicht verschulden, es muss eintreffen.

– Warum braucht man in einer Region mit mindestens sechs Monaten unter 0° einen tropischen Garten?

– Wer braucht schon Glück, meinen Sie? Es ist ja nicht so, dass strenge Frosteinwirkung automatisch zu gesellschaftlicher Wärme führt. Es kommt auf die glücklichen Umstände an. Ein Ausschnitt aus dem tropischen Klima wirkt wie ein unterhaltsamer Science-Fiction-Film. Die Besucherzahlen sind in den letzten Dekaden stark gestiegen.

– Hat sich der Frosteinbruch in die Tropenhäuser auch gewinnbringend auf Ihre Forschungsarbeiten ausgewirkt?

– Aus wissenschaftlicher Sicht spielt die Beglückung des Forschungspersonals eine zu vernachlässigende Rolle. Wäre ich nicht primär an der Fauna interessiert, wüsste ich es aber sicher besser.

 

Wesentliche Eigenschaften, ohne welche die Menschheit nicht überlebt hätte, stammen aus der Eiszeit. So z.B. die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt: Grundlage aller GEFÜHLE. Insofern kann man sagen, dass wir Menschen aus der Kälte stammen. Zugleich wird man aber beobachten können, dass Herzenskälte dauerhaft nicht zu ertragen ist. – A.K.

 

Fernost/Universität

Die Sterne unseres Glücks

Posted by Sascha Preiß on

Ihre deutsche Kollegin lud sie auf einen Kaffee ein. Warum denn in der Stadt treffen, fragte sie zurück, sie könne doch auch zu ihr ins Wohnheim kommen. Ein Café, fand sie, sei ein unpersönlicher und teurer Ort. Das wollte die deutsche Kollegin aber nicht. Aus Höflichkeit gegenüber einigten sie sich auf ein unscheinbares Lokal in der Nähe des Stadions, es spielte sehr laute Musik, der Kaffee wurde in Plastikbechern gereicht. Das wäre in Deutschland verbreitet? Sie könne wirklich nicht verstehen, warum sich Leute nicht zu Hause träfen.

Dennoch kamen sie ins Gespräch. Sie, eine 38jährige Doktorandin aus Blagoweschtschensk, wo der Amur die Grenze zu China bildet, mehr als 2000 TransSib-Kilometer von Irkutsk entfernt gelegen, unterrichte hier an der Linguistischen Universität 20 SWS, dafür erhielt sie 8000 Rubel im Monat, weniger als 200 Euro, aber mehr als in Blago. Als Zusatzverdienst arbeite sie noch an einem kommerziellen Institut der Universität, das sich mit Übersetzungen beschäftigt. Dort würden beinah alle Sprachlehrer der Universität aus dem gleichen Grund zusätzlichen Unterricht anbieten. Das Wohnheimzimmer, das sie sich mit drei anderen Doktorandinnen teile, koste 200 Rubel. Ihren Wintermantel, der neben ihr lag, könne sie in 8 Monatsraten abbezahlen.

– Bei soviel Arbeitszeit, um leben zu können: Wann schreiben Sie Ihre Doktorarbeit?

– Wenn alle anderen im Zimmer schlafen, hab ich ein paar Stunden.

– Und wann schlafen Sie?

– Danach.

– Was ist das Thema der Arbeit?

– Ich untersuche deutsche Zeitungen, die Darstellungen von Siegern und Verlierern im Sport.

– Reicht Ihnen Ihre Zeit dafür?

– Um 23 Uhr wird das Wohnheim zugeschlossen, danach kommt man gar nicht mehr hinein oder heraus. Die Versuchung für zu viel freie Zeit ist nicht sehr groß, und das brauche ich auch nicht. Schließlich bin ich zum Arbeiten gekommen, mit dem Doktortitel verdient man mehr.

– Halten Sie es zu viert in einem Zimmer, in dem alle wissenschaftlich arbeiten wollen, auf Dauer aus?

– Man arrangiert sich, für eine Wohnung oder ein Einzelzimmer hat keine von uns ausreichend Mittel.

– Warum haben sie die deutsche Sprache gewählt, das liegt im Fernen Osten nicht unbedingt auf der Hand?

– Weil ich diese Sprache liebe und in diesem Bereich arbeiten möchte.

– Eine Fernbeziehung?

– Ja, vielleicht. Aber eine sehr innige.

– Sind die Umstände für die Entwicklung dieser Liebe nicht etwas hinderlich? Oder ist das eine Frage des Sportsgeistes?

– Wie man bei uns sagt: In uns selbst liegen die Sterne unsere Glücks.

Inzwischen ist sie wieder zurück in Blagoweschtschensk, nach drei Jahren, weil in Irkutsk an der Universität ihre Stelle nicht verlängert wurde. Zu wenig Studenten mit Interesse für deutsche Sprache, hieß es im Institut. Die Doktorarbeit hat sie nicht beenden können.