Tag Archives

9 Articles

Liljana

Märchen zum Advent: Der traurige Junikäfer

Posted by Sascha Preiß on

Am Abend saß der Junikäfer auf einem Stein und war traurig. So ganz genau wusste er auch nicht warum, aber dass er es war, das wusste er. Und je mehr er es wusste, umso trauriger wurde er.
Och, seufzte er, traurig sein macht keinen Spaß.
Und recht hatte er auch noch.
Also schaute er in den dunkler werdenden Abend und seufzte ausführlich.
Kam ein Falter vorüber geflogen und besah sich den Junikäfer, wie er mit hängenden Fühlern herum saß.
Mensch, Käferchen, rief der Falter, dir scheint ja eine große Laus über die Flügel gelaufen zu sein.
Ach, meinte der Käfer, sag lieber nichts.
Hm, machte der Falter. Was hältst du von einer schönen warmen Umarmung mit meinen Flügeln? Wenns mir mal nicht so geht, weil mich fast wieder so ein Vogel geschnappt hätte, muss ich immer erstmal schön kuscheln und jemanden zum Anschmiegen haben, eh es weitergehen kann.
Und der Falter schlang seine Flügel um den Käfer. Aber der war einfach nicht in Stimmung.
He, du knickst meine Fühler, lass mich los.
Der Falter flog schnellstens davon, so ein hübsches Tierchen und so mürrisch! Und er pfiff sich ein Liedchen.
Der Junikäfer lauschte dem Falter nach, und als alles wieder still war, seufzte er aus tiefster Traurigkeit.
Was hast du denn, kam ein Glühwürmchen den Stein hinaufgekrabbelt.
Weiß nicht, brummte der Käfer, bin traurig.
Macht nichts, sagte das Würmchen, lass uns spielen, meine vierzighundertneunundelfzig Verwandten sind hier um die Ecke, wir könnten noch wen beim Verstecken gebrauchen!
Wie wärs, antwortete der Käfer, wenn du dich einfach vor mir versteckst?
Oh, prima Idee, leuchtete das Würmchen aufgeregt, kleiner Tip: ich bin irgendwo da hinten, ok?
Ja, machte der Käfer, ganz weit da hinten, sehr gut.
Das Glühwürmchen schwirrte davon und der Junikäfer wurde beinah fröhlicher, aber nur beinah. Als er sah, dass es wieder ganz dunkel war, musste er unweigerlich aus ganzem Herzen seufzen.
Da hörte er über sich ein Flüstern.
He, kleiner trauriger Käfer, komm doch mal zu mir hoch.
Der Junikäfer schaute verwundert nach oben und sah eine dicke Raupe, die von einem Ast herunterhing. Was soll ich denn bei dir da oben, fragte er entmutigt.
Ach weißt du, sagte die Raupe, wenn mir alles zu viel wird und der ganze Kram von wegen fressen und täglich immer dicker werden und sich kaum bewegen können und so, wenn das einfach keinen Spaß mehr macht, dann häng ich mich hier hin und lass mich baumeln. Man sagt, dass nach einer kurzen Weile ein ganz neues Leben beginnt!
So, sagt man, meinte der Käfer.
Jaja, bestätigte die Raupe, also los, komm, häng dich auch ans Blatt!
Ach, sagte der Käfer, ich hänge hier schon genug durch.
Na wie du willst, sagte die Raupe und zog sich in sich selbst zurück.
Dann wurde es wieder ganz still um den traurigen Junikäfer. Er blickte die ganze Nacht in den Sternenhimmel, aber er wurde einfach nicht munterer. Schließlich wurden die Sterne immer blasser und blasser.
Und plötzlich grinste hinter den Bergen die Sonne hervor.
Ha!, rief da der Junikäfer mit einem breiten Lächeln, genau darauf hab ich gewartet! Und schon surrte er purzelbäumend jubelnd auf sie zu.

minimal stories/Russland/Universität

Der Feiertag

Posted by Sascha Preiß on

Montag am Englisch-Lehrstuhl. Dort verfügt man über ganz ansprechende PC-Kabinette, die wollte ich mir für ein paar Tage unter den Nagel reißen. Vergeblich: Die Kabinette sind seit ein paar Tagen ohne Internet und werden wohl auch für den Rest des Monats abgeschaltet bleiben. Nur weil man an einer Technischen Universität arbeitet, bedeutet das nicht, dass die Technik auch funktioniert. Dafür ist im Büro des Lehrstuhls eine Tafel festlich gedeckt. Wem darf man denn heute zum Feiertag gratulieren, frage ich. Na uns allen, antwortet die Lehrstuhl-Älteste, heute ist doch der große Festtag! Offensichtlich scheine ich ungläubig auszusehen. Mit dem Stolz der Tradition ruft sie: Es ist Tag der Revolution, der 7. November! Und gekränkt sinkt sie in ihren Stuhl: Und nicht dieser falsche Tag da. Die anderen Mitarbeiterinnen im Raum nicken verhalten. Dieser beharrende Trotz, Feste zu feiern, die schon längst staatlich überarbeitet wurden, ist auf seine Weise beeindruckend und erweckt in mir Lust auf einen Essay zur ewigen Allgegenwart Lenins und die Werbeplakate der Russischen Kommunisten mit Stalins Konterfei. Aber für solche Kommentare habe ich keine Zeit, ich brauche dringend ein Computer-Kabinett mit benutzbarem Internet-Zugang. Ich habe nicht einmal Zeit, mich zu fragen, was Lenin zu Facebook sagen würde.

Kulinarisches

Eier von christlichen Hühnern

Posted by Sascha Preiß on

Weil Ostern bzw Пасха (Pas-cha) das wichtigste Fest christlicher Kirchen ist, und nach dem Ende der Sowjetunion der orthodoxe Glaube in Russland deutlich zugelegt hat, werden neuerdings auch die Tiere missioniert. Erfolgreich. Auf den Eiern dieser gläubigen Hühner ist der Ostergruß „Christus ist auferstanden!“ zu lesen: Христос воскресе!, gemeinsam mit der Sortenbezeichnung С1. Über die Methoden von Missionstätigkeit und Religionsausübung in den „Vogelfabriken“ – gibt es Hühnerkapellen, gibt es einen Hühnergott? – ist bislang nichts bekannt.

minimal stories/Russland

Ein Feiertagsgeschenk

Posted by Sascha Preiß on

Die kleine Ustinja wird im Frühling 4 Jahre und geht seit einem halben Jahr in den Kindergarten. Das macht Spaß und ist immer aufregend. Zum heutigen Tag des Vaterlandsverteidigers haben sich die Erzieherinnen für ihre Gruppen eine thematische Bastelstunde ausgedacht. Alle Kinder basteln ein kleines Geschenk für den Papa. Als die Mama ihre Tochter abholen kommt, ruft die Erzieherin: Ustinja, vergiss deinen Panzer nicht! Zu Hause steckt Papa das Geschenk aus dunkelgrüner Pappe mit dem Rohr in einen Blumentopf. Sieht doch aus wie ein Baum, sagt er.

Russland/Sprache

Auf der Weihnachtsfeier

Posted by Sascha Preiß on

Die Weihnachtsfeier wurde begleitet von einem umfangreichen Kulturprogramm. Schüler, Studenten und Lehrer verschiedener Schulen und Universitäten der Stadt, die sich auf irgendeine Weise mit Deutsch beschäftigten, waren gekommen und präsentierten ihre Fähigkeiten in der Fremdsprache. Die Darbietungen waren bunt gemischt, Gedichtvorträge, Tanzeinlagen, Theateraufführungen, Gesang, und  hatten insgesamt Varieté-Charakter. Der Ablaufplan sah vor, dass der etwa 10jährige Junge, Schüler der vierten Klasse, in der zweiten Hälfte des Abends sein Gedicht vortragen sollte. Nach über einer Stunde Wartens und Zuschauens, gestiegener Nervosität und Erregung vor so viel Publikum, überhörte er den Aufruf seines Namens. Seine etwa 40 Jahre alte Lehrerin schob ihn ermunternd und bestimmt aus der Bankreihe, in den Empfangsapplaus, den sie genoss. Der Junge trat auf die kleine Bühne, blickte in den stiller werdenden Saal, den Zettel mit dem Gedicht schwitzig zerknüllt in seinen Händen. Dann formulierte er stotternd den Titel und ein wenig der ersten Zeile, mechanisch, undeutlich, leise, gesenkten Blickes. Die Lehrerin an ihrem Platz formte mit den Lippen überdeutlich den Gedichttext, machte weite, unterstützende Handbewegungen im Metrum der Verse. Der Junge bemerkte die pädagogischen Gesten nicht. Er stolperte durch die Silben, die sich ihm als Anhäufung bedeutungsloser Geräusche darboten. Vertauschte Vokale, Konsonanten, wiederholte sich korrigierend, verwirrte sich erneut. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was er da aufsagte. Hilfesuchend blickte er den Zettel an, fand sich noch immer am Anfang einer lyrischen Odyssee durch einen immer endloser werdenden Text. Blickte auf, der gesamte Saal bedachte ihn mit Aufmerksamkeit. Die Lehrerin rief ihm etwas zu. Er begann die erste Strophe erneut, brachte unzusammenhängende Laute hervor, in die sich Panik und Verzweiflung mischten. Er hatte zugestimmt, mit seiner Lehrerin, die ihn als besten Schüler seiner Klasse für den Auftritt erwählt hatte, das Gedicht auswendig zu lernen und vorzutragen. Während ihm die Worte zu bloßen Geräuschen zerfielen, ahnte er kaum, wie sehr sie sich öffentliche Anerkennung für ihre Arbeit wünschte. Als er wegrannte, weinte er bereits. Den Rest des Programms erlebte er im Nebenraum in den Armen der Lehrerin, die am schluchzenden Körper sich selbst zu trösten versuchte.

Russland

Frauentag

Posted by Sascha Preiß on

Es hat Blumen gegeben, bunt und reichlich. Dazu überschwenglich glitzernde Glückwunschkarten. Und prunkvolle Pralinenkästen. Gabs überall zu kaufen und war heute der geehrten Dame zu überbringen. Glückwunschtage sind Festtage. Warum dieser Tag, weiß wohl kaum noch wer. Erhalten hat sich in Irkutsk eine Clara-Zetkin-Straße, erhalten haben sich in Russland viele alte Heldennamen. Wer das mal war, irrelevant. Wichtig ist: achter März ist arbeitssfrei, da kauft Mann Blumen für die Frau. Was soll man sonst tun als Mann für seine Frau.

Am fünften März steht meine zukünftig schwangere Mitarbeiterin im Zimmer und leuchtet etwas, als sie von Plänen spricht, ein halbes Jahr Fortbildungsstipendium in Deutschland, dann Arbeit als Lehrerin, Dozentin, berufliche Perspektive. Sie wird ruhiger. Ihr Mann verbietet ihr das Stipendium, sie soll sich ums Kind kümmern, das sei halt normal.

Der junge Mann beugt sich im Bus über die sitzende Frau und versucht sie zu küssen. Sie ignoriert ihn, seine Versuche, zornig. Er zupft ihr in den Haaren, sie verscheucht seine Hand. Er redet auf sie ein, angetrunken, spricht von seinen Gefühlen für sie. Sie schaut angestrengt aus dem Fenster. Er küsst sie immer wieder ins Gesicht. Sie will in Ruhe gelassen werden, windet sich unter ihm. Er achtet gar nicht darauf, drückt sie erneut an sich.

Irkutsk/Universität

Irkutsker Weihnachtsgeschichte 2009

Posted by Sascha Preiß on

Ende April hat sie geheiratet, ich war ebenfalls eingeladen, bin aber nicht hingegangen. Es gibt nicht vieles, was man keineswegs versäumen sollte. Wie oft ich noch die Möglichkeit erhalte, bei einer echten russischen Hochzeit anwesend sein zu können, kann ich mir selbst ausrechnen. Von meinen Kolleginnen, mit zwei Ausnahmen, sind alle verheiratet, seit 2 bis 3 Jahren die jüngeren, die älteren seit 20 bis 30 Jahren. Die beiden Ausnahmen sind in der unglücklichen Lage, mit Mitte 20 noch immer keinen Partner gefunden zu haben, was im russischen Normalfall bedeutet, dass auch keiner mehr kommen wird, der sie aus ihrer Einsamkeit erlöst. Irkutsk ist eine von sehr vielen Städten, in denen es deutlich mehr Frauen gibt, welche zudem sehr wählerisch sind. Russische Männer haben unter russischen Frauen nicht unbedingt den besten Ruf, ihnen wird Faulheit und Egoismus vorgeworfen, wo sie selbst aufwändig umworben werden wollen. Keine einfache Ausgangssituation für beide Geschlechter zueinander zu finden; glücklich, wer sich dauerhaft binden kann. Meiner Kollegin war es gelungen und das wurde entsprechend zelebriert, ihre Fotos zeigten eine wunderschön ausgestattete Hochzeit mit vielen fröhlichen Gesichtern. Ich aber, wie gesagt, bin darauf nicht zu sehen. Tatsächlich: Etwas so Triviales wie unaufschiebbar dringende Arbeit hielt mich fern. Sie war nicht enttäuscht, jedenfalls konnte sie ihre Enttäuschung sehr gut vor mir verbergen. Das sei normal so, sagte sie, als wir uns nach ihrer kleinen Hochzeitspause in der Universität wieder trafen. Oft genug, wenn wir in seriösem Ton die Arbeit absprechen, errate ich ihre Laune nicht. Normal gehe es ihr, sagt sie. Das heißt alles und nichts. Was kann ich mit dieser Aussage anfangen. Ich bin deutlich schlechter im Verbergen meiner Launen. Ich habe ihr also nachher im Büro eine Glückwunschkarte, darin verborgen etwas Geld überreicht, unsicher, ob das ein angemessenes Geschenk ist, und selbstverständlich entschuldigend für mein Fernbleiben. Sie dankte und ging. Ob das so in Ordnung gewesen wäre, wollte ich später wissen. Jaja, das sei absolut normal.

Meine Frau war da bereits deutlich sichtbar schwanger, im Sommer erwarteten wir unser Töchterchen. Die Frage nach Kindern stellt wohl so ziemlich jeder einem frisch vermählten, jungen Paar. Wir selbst hatten uns damals Zeit gelassen, die Hochzeit kam schnell, aber Kinder wollten wir noch keine. Beinah zwei Jahre nach unserer kleinen Ehezeremonie war es dann soweit, von den Familien ungeduldig erwartet und mit Erleichterung aufgenommen. Auch sie werde oft nach Kindern gefragt, sagte sie lächelnd, aber das wäre auch für sie beide im Augenblick noch kein Thema, später, nicht im Frühjahr und nicht im Sommer, irgendwann später. Und damit widmeten wir uns der Arbeit. Unser Kind kam zur Welt, eine andere Kollegin ging in Mutterschutz, wir arbeiteten weiter. Der Sommer kam und ging, die Ferienzeit kam und ging, ich hatte nun eine kleine Tochter und eine junge Mutter zu Hause, der Herbst zog schnell vorüber, der Winter war wechselhaft, kalt, sehr feucht, sehr unangenehm, in vielen Stadtteilen wurde die Heizung erst spät eingeschaltet. Eine Grippewelle ging daher durch die Stadt. Verschonte mich, ließ aber sie nicht aus. Eine Woche schleppte sie sich ins Büro, um die Arbeit zu bewältigen, die nicht liegen gelassen werden konnte und sie unbedingt noch zu erledigen hatte. Die nächste Woche blieb sie doch zu Hause. In der Stadt wurden Schulen geschlossen, unter Quarantäne gestellt, aber die Universitäten nicht. Sie kam wieder zur Arbeit, wir bereiteten eine Konferenz für das nächste Jahr vor. Einen Monat später fuhr ich auf Dienstreise, kam zurück, sie war nicht da, obwohl ich sie dringend sprechen musste. Sie war krank, schrieb sie per SMS. Das Jahr ging zu Ende, ich hatte noch ein paar Weihnachtsfeiern zu bewältigen, rief sie an, um sie zu einer einzuladen. Sie antwortete, dass sie noch im Krankenhaus sei, morgen wäre sie wohl wieder auf Arbeit, zumindest halbtags. Wieso Krankenhaus, wollte ich wissen, was sei denn passiert. Es sei wieder in Ordnung, es wäre nur nicht so angenehm gewesen, sie erzähle es mir später. Sie sagte nicht, dass alles normal sei. Sie versuchte, so normal wie möglich zu klingen, ihre Stimmer wackelte etwas.

Als junger Vater interessieren sich alle für das Wohlergehen des Kindes, ob es wächst, wem es ähnlich sieht, wieviel es wiegt. So auch einige Kollegen einer Verwaltungsabteilung der Universität, mit denen ich regelmäßig zu tun und viel Gelegenheit zum plaudern mit ihnen habe. Sie erzählten mir aufgeregt und heiter, dass ich die Kollegin, die im Sommer in Mutterschutz gegangen war, gerade verpasst habe, vor wenigen Minuten sei sie hier gewesen. Sie hatte ihr Kind vor zwei Monaten bekommen, alles sei ganz wunderbar. Und wie es bei meiner Kollegin aussähe, ich wisse doch ganz sicher, ob es wahr wäre, dass sie auch schwanger sei, man habe ihnen davon erzählt. Im zweiten oder dritten Monat. Wer erzählte denn sowas. Ich wusste nichts davon, hatte in diesem augenblick ein scheußliches Gefühl. Wenn es wahr wäre, und warum sollte dieses Gerücht nicht wahr sein, der russische Buschfunk ist grundsätzlich besser informiert als die Nachrichtendienste, dann war klar, weshalb sie im Krankenhaus lag und es keinesfalls als normal beschrieb. Mein Verdacht allerdings stieß hier jedoch auf wenig Verständnis: Das wüssten sie ja wohl auch schon längst. Was bleibt da zu denken übrig. Auf den kommenden Tag warten.

Eine Freundin hatte ein werdendes Kind verloren, wegen einer Erkältung, im dritten Monat. Eines Morgens Bauchschmerzen und der Körper trieb den Fötus aus, weil er ihn nicht mehr ausreichend versorgen konnte, beim Gang aufs Klo. Sie hatte sich danach immer wieder übergeben wollen, hatte aber keine Kraft dafür. So ihr Kind zu sehen, sei kaum auszuhalten. Sie fühle sich von ihrem Körper verraten, aber könne ihn gut verstehen, sagte sie später. Ich hoffte, meiner Kollegin würde das erspart bleiben und sie sei wegen einer unangenehmen, aber harmlosen Verletzung im Krankenhaus. Am nächsten Tag, 24.12., war sie nicht in der Universität. Ich erhielt von ihr eine SMS, sie wünschte mir von ganzem Herzen Glück, Freude, Erfüllung meiner Wünsche, eine lange und farbenfrohe Kaskade russischer Glückwunschkunst. Darauf zu antworten, war unmöglich, jedenfalls für mich. Ich überlegte mir ein paar Varianten, aber es gelang überhaupt nicht, also ließ ich es. Wie war ihre wackelige Stimme tags zuvor und dieser hochoptimistischer Weihnachtsgruß zusammen zu führen? Eine junge Frau, die sehr wahrscheinlich ihr Kind verloren hatte, wünschte mir Freude. Darauf mit einem Gruß überquellend von Glück und Gesundheit zu antworten, erschien mir obszön. Ich hoffte, dass ich mit meiner Vermutung unrecht hatte, malte mir in langen Busfahrten durch die eiskalte Stadt aus, was tatsächlich passiert sein könnte und kam immer wieder auf den einen Gedanken. Sie beherrschte die Kunst perfekt, ihre Emotionen ganz im Privaten zu belassen und in der Öffentlichkeit Normalität zu wahren, eine bewunderungswürdige Fähigkeit. Ohne ihre wackelnde Stimme hätte ich das kaum bemerkt. Wer aufmerksam und sensibel war, konnte jederzeit unterscheiden, was normales Alltagsgespräch und was Schutz ihrer selbst war. Deuten und verstehen ließ es sich nicht.

Tags darauf, am 25., trafen wir uns auf einem Parkplatz im Stadtzentrum, das Auto war vollgepackt mit Obstkisten und Tüten, Vorbereitungen für das Neujahrsfest. Ich war fröhlich, weil ich in drei Tagen einen längeren Urlaub antreten konnte. Sie war fröhlich, weil – nun, sie war eben fröhlich. Ihr Mann begrüßte mich mit Handschlag, sie saß auf dem Beifahrersitz und lächelte. Und hielt mir eine große, bunte, glitzernde Tüte hin mit einem Geschenk, eine schöne sibirische Holzschnitzkunst. Ich hatte nur eine ganz kleine für sie. Mit einem Buch. Am Abend vorher hatten meine Frau und ich über Geschenke für Kollegen gesprochen und festgestellt, dass viele Russen Bücher nicht als vollwertige Geschenke auffassen. Richtige Geschenke wären Blumen, Schmuck, Parfüm, etwas Schönes also. Ich hatte an Blumen für sie gedacht, oder wenigstens eine Topfpflanze, etwas Lebendiges, Hoffnungsfrohes, aber mich doch anders entschieden. Das Buch hatte ich schon eine ganze Weile für sie ausgesucht, etwas über Schokolade. Weihnachten ist grundsätzlich kein schlechter Anlass für dieses Thema. Also saßen wir zu dritt im Auto, sie, ihr Mann und ich, überreichten unsere ungleichen Geschenktüten und ich schämte mich. Wir sprachen über meinen Urlaub, meine Familie, ob ich deutsche Weihnachten vermissen würde. Ich wollte nicht von mir erzählen, ich wollte von ihr ein Dementi aller meiner Befürchtungen hören. Als wir auf die Wetterverhältnisse und die Gesundheit zu sprechen kamen – blieb es aus. Sie erzählte nicht viel vom Krankenhaus, sprach vom Vorfall in der 7. Woche. Und legte ihr Lächeln nicht ab. Ich hatte auf eine irgendwie weihnachtliche Wende gehofft, ein Happy End. Der Arzt, sagte sie, habe versichert, dass alles wieder in Ordnung sei, nach der Operation. Sie würden es eben wieder probieren, nächstes Jahr. Es sei eine starke Erkältung gewesen. Die Kisten, wies sie auf das ganze Obst im Auto, haben sie von ihrer beider Eltern, sie feiern Neujahr in Irkutsk und bereiten jetzt alles zu Hause vor, ob sie mich wohin mitnehmen können. Ich wohnte jedoch in entgegengesetzter Richtung. Wir verabschiedeten uns, ich stieg aus und sie fuhren los. Ich stand im Schnee mit meiner großen Tüte, auf der golden Frohes Neues Jahr funkelte, und vermisste etwas, einen Schlusssatz oder etwas ähnlich Nützliches, dass mich nicht so hilflos auf der Straße rumstehen ließ.

Da dort so etwas nicht vorhanden war, ging ich los, nach Hause, ins Warme.

Irkutsk/Russland

Tag der Einheit

Posted by Sascha Preiß on

 Der „Tag der Einheit des Volkes“ ist einer der jüngsten Feiertage in Russland, und um ihn zu popularisieren wird dazu ein umfangreiches nationales Volksfest zelebriert. Das schließt auch aufklärend positive Berichterstattung zu den Feierlichkeiten ein:

День народного единства отметили в Иркутске | Новости Irk.ru

Während das Bild im Artikel von Tanz und Heiterkeit und der Gouverneur des Irkutsker Oblasts von der Einheit der sibirischen Nationalitäten in Zeiten der Krise künden, denn in Krisenzeiten ist nichts so wichtig wie Folklore und nationale Erbauung, so spechen die letzten beiden Absätze die eigentliche nationalistische Kernidee des Feiertags aus: Neben Tanz und Gesang ist der traditionelle „Russische Marsch“ auch wieder veranstaltet worden (Plakate dazu waren in der Stadt angeklebt), auf dem so heitere Rufe wie „Ruhm und Ehre Russlands“, „Ruhm und Ehre dem russischen Imperium“ und „Ruhm und Ehre der Armee“ erklangen. Tief in der russischen Historie liege der Anlass für den modernen Feiertag, der einen verschütteten zaristischen Tag für die heutige Zeit wiederbelebt: Die Befreiung von der polnischen Besatzung 1612 wird gefeiert.

Die Kommentare lesen sich allerdings weniger begeistert, ein „dummer Feiertag“ sei es, Putin könne dem Land mehr oder weniger alles verordnen. Fragt man Studenten und Kollegen, ist häufig lautes Lachen über den 4. November zu hören. Dass sich in Russland die Feiertage jederzeit ändern könnten, sei die eigentliche Tradition.

Eine Datumssuche auf wikipedia.org zeigt für den 4.November u.a. folgenden Eintrag an: „1794: In der Schlacht von Warschau im Warschauer Vorort Praga schlagen russische Truppen den Kościuszko-Aufstand in Polen endgültig nieder. Nach der Schlacht kommt es zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Der Aufstand bietet den Anlass zur endgültigen Liquidierung Polens 1795.“ Zwar handelt es sich um den 4.November des Gregorianischen Kalenders, der in Russland erst 1918 Einzug hielt, doch spricht dies dennoch von einem nicht zu übersehenden Zynismus des russischen Feiertags, der das russisch-polnische Verhältnis vollständig auf den Kopf stellt und national umwertet zugunsten eines Opfer-Helden-Mythos der russischen Seite.

Man kann sich nun überlegen, was dies über die politische russische Landschaft aussagt, auch im Zusammenhang mit der Aussage einer Kollegin, die interkulturelle Kommunikation unterrichtet, die sehr bestimmt sagte, dass die Russen ein besonders tolerantes Volk sind.

Universität

Die Erfindung der Tradition

Posted by Sascha Preiß on

Als Kulturmittler im Ausland ist es manchmal gar nicht einfach, unter Zeitdruck auf Kultur zurückzugreifen, die man zum gegebenen Anlass vermitteln könnte. Die Klassiker sind schnell getan: Nach wenigen Semestern wissen die Studenten quasi alles zum Mauerauf- und -abbau, können original bayrische Lederhosen selber schneidern, zählen alle norddeutschen Biersorten perfekt im holsteiner Dialekt auf und bereiten gerade rheinischen Karneval in der Stadt vor. Lediglich Thomas Mann und Heinrich Heine haben sich in die kleine Veröffentlichung zur deutschen Lyrik des 20. Jahrhundert eingeschlichen, aber das kriegen wir noch hin. So in etwa.

Und dann wird man plötzlich zum Geburtstag eingeladen. Von der Lehrstuhlleiterin. 50. Geburtstag. Alle Kollegen feiern mit. Als ausländischer Gast bei einem russischen Geburtstag. Unbedingt. In der Uni natürlich. Auf der Arbeit kennen sich alle und zu hause ist es für 30 Leute einfach zu eng. Arbeit und Privatleben haben hier fließende Grenzen. Der Raum, in dem man sonst unterrichtet, ist festlich mit Luftballons geschmückt, ein enomer Tisch mit Salaten, Fleisch, Käse, Obst steht bereit, naja und Getränke sowieso, das ist immerhin Russland. Heimlich mit anderen Kollegen vom Lehrstuhl hat man ein kleines Szenenspiel vorbereitet: Ein Text aus dem Internet, griechische Gottheiten erweisen der Jubilantin scherzhaft die Ehre, die eigene Rolle ist nachvollziehbarer Gründe wegen von „Hermes“ zu „Gott mit deutschem Akzent“ umgetauft worden. Die Feier, mit ein bisschen Verzögerung, beginnt. Eine Reihe von Reden mit einer Reihe von Trinkanlässen, dazwischen Essen, als Geschenke werden Lieder gesungen und ausufernd blumig das Geburtstagskind gewürdigt. Und weil sich die Reihe der Gratulanten stetig lichtet und man durchaus auch mit Wodka auf Wohl und Gesundheit anstößt, überlegt man also, seinen Teil recht bald über die Bühne zu bringen. Nach dem Vortrag des Szenenspiels. Man hat sich vorbereitet, irgendwie jedenfalls. Man hat sich angesichts eines so schönen, runden Geburtstags seine Geschenkgedanken gemacht. Und hat festgestellt, man hat nichts, was der Situation angemessen wäre. Die Lehrstuhlleiterin kennt man noch nicht so gut. Bücher schenken sich die russischen Kollegen untereinander so gut wie nie, und ein passables deutsches Buch – etwa einen unterhaltsamen zeitgenössischen Roman oder ein hübscher Bildband – ist 7000 km weit weg sowieso nicht greifbar. Geschenke im materiellen Sinn macht man in Russland offenbar überhaupt nicht sehr oft, viel beliebter und persönlicher sind selbstgemachte Sachen, Lieder, das vorbereitete Szenenspiel, eine humorvolle Bildergeschichte über das Leben der Jubilantin von einer Kollegin präsentiert. Einfach etwas kaufen? Ungeschickt, vielleicht unhöflich. Blumen wären auf jeden Fall in Ordnung, aber allein nicht ausreichend, der klassische Pralinenkasten wirkt immer einfallslos. Was tun? Man sieht das Dilemma und sucht einen Weg, zwischen deutscher und russischer Kultur zu vermitteln: etwas Selbstgemachtes soll es sein, das von Deutschland kündet. Einen Fotoband mit eigenen Fotos selbst herstellen. Zu materiell, zu buchlastig. Ein spaßhaftes Gedicht schreiben und vor allen rezitieren. Sensationell peinlich. Einen Kuchen backen. Zu gewöhnlich. – Doch, das geht. Kuchen ist auf russischen Feiern unverzichtbar. Und ein deutsch-russischer Zupfkuchen klingt nach was. Angesichts des limitierten Haushalts wird schließlich aus dem schönen großen Kuchen, der einem vorschwebt, nur ein kleiner Gugelhupf, dem auch noch seine Schokoglasur misslingt. Doch man entschließt sich, die Arbeit sei nicht umsonst getan, nimmt Blumen und Kuchen und fühlt sich nicht mit leeren Händen. Und in einem passenden Augenblick, in einer unbeobachteten Minute der Geburtstagsfeier, überreicht man unauffällig das kleine Präsent. Und weil man ja der Gast aus Deutschland ist, schauen alle zu und wollen wissen, was es ist. Und weil einem das trockene kleine Stück Geburtstagskuchen, das als Verzierung ein paar Smarties bekommen hat, selbst etwas fremd vorkommt, besinnt man sich auf seine Eigenschaft als Kulturmittler. Bloß nichts entschuldigen, selbstbewusst schenken. Also erfindet man kurzerhand eine uralte deutsche Tradition: Den kahlen Geburtstagsgugelhupf. Den schenkt man so in Deutschland, sagt man, und: Herzlichen Glückwunsch. Die Lehrstuhlleiterin schaut sehr dankbar und überaus höflich. Dieser Blick ist verschwörerisch und lautet: Diese Tradition kenne ich ja gar nicht. Aber weil Skepsis auf Geburtstagsfeiern nichts verloren hat, sind nach wenigen bekräftigenden Worten alle Anwesenden, die Lehrstuhlleiterin, die Kollegen und man selbst, mit dieser deutschen Tradition einverstanden. Das kostet einen Wodka und später singt man sogar noch ein deutschsprachiges Lied und damit ist die frisch erfundene, uralte deutsche Geburtstagstradition fürs erste glücklich vergessen. Jetzt darf nur niemand vom Lehrstuhl in nächster Zeit 50 werden. Ich hab nämlich auf dem Heimweg das Kuchenrezept vergessen.