Tag Archives

4 Articles

Kulinarisches/minimal stories

Der Nuckel

Posted by Sascha Preiß on

Die Kellnerin des Restaurants „Pivovarnya“ im 130. Quartal öffnet die Tür. Sie trägt eine strenge, antiquiert wirkende Bedienstetenkleidung, schwarzer Rock, weiße Schürze. In Brusthöhe ist ein Schild angebracht, das ihren (vermutlich realen) Vornamen angibt. An diesem Namensschild trägt sie, wie alle ihre Kolleginnen, vollkommen unpassend, einen großen bunten Nuckel. Die Gäste, drei junge Männer, treten ein, schauen sich im eher leeren Gastraum um, bewundern die hinter der Bar stehenden Braukessel. Einer der Gäste schielt wiederholt, irritiert, auf den lieblos, mit einer aufgebogenen Büroklammer am hellen Schürzenstoff befestigten Nuckel. Den Namen der jungen Frau liest er nicht. Während sie die Kleidung der Gäste in die Garderobe hängt, bittet er um Erlaubnis, ihr eine Frage stellen zu dürfen. Die Kellnerin hat bislang kein unnötiges Wort verloren, nun wendet sie sich ihm aufmerksam zu. Wieso sie denn diesen Nuckel trage, was das denn mit Bier brauen zu tun habe? Ihr Interesse ist augenblicklich verschwunden, sie lächelt gequält und sagt, das Restaurant sei jetzt ein Jahr alt, der Nuckel symbolisiere das. Es ist unverkennbar, dass das humoristisch gemeinte Accessoire niemand witzig findet, es aber für eine Weile zur Arbeitskleidung gehört. Die jungen Männer setzen sich, die Kellnerin bedient. Als sie irgendwann gehen, gibt eine andere Kellnerin die Jacken aus, sie trägt keinen Nuckel. Wo sei ihrer denn geblieben, fragt der Gast. Ach irgendwo da an der Theke, antwortet sie gemütlich, ihr sei das Ding allzu blöd. Es gäbe doch nichts Schöneres, meint er später zu seinen Kumpeln, die sich über vegetarische Lebensweise unterhalten, als ein gesundes Selbstbewusstsein.

Das Wetter/minimal stories

minimal story 21

Posted by Sascha Preiß on

Die beiden jungen Apothekerinnen haben bei dieser sibirischen Sommerhitze wenig zu tun. Schon mehrere Tage wurde es über 30° warm und auch durch diesem Sonntag Nachmittag weht kein Lüftchen. Die übliche Arznei-Kundschaft, 40-70jährige, die sich über handgeschriebene Einkaufslisten mit Schmerz- und Heilmittelchen versorgen, bleibt fern. So ist der junge Mann, der eine Großpackung Windeln kauft, beinah schon ein Ereignis, den die beiden Frauen neugierig und argwöhnisch zugleich betrachten. Als er nach weiteren Einkäufen erneut an der Apotheke vorbeikommt, stehen die beiden gelangweilten Frauen vor dem Laden. Eine verdrückt sich in die Ecke des kleinen Vorbaus und versucht unübersehbar, die Bierflasche unter verschränkten Armen zu verstecken. Als ihr selbst klar wird, dass dies nur unzureichend gelingt, wendet sie sich verschämt der Wand zu. Das Bild einer sich am Nachmittag während der Arbeit betrinkenden Apothekerin ist ihr offenkundig peinlich. Der Mine ihrer Kollegin ist dazu keinerlei Kommentar zu entnehmen.

Irkutsk/Kulinarisches/Ulica

Bierkutsk

Posted by Sascha Preiß on

Dass in Russland viel und gern Alkohol getrunken wird, ist in der Tat kein Gerücht. Legendär sind die z.T. uferlosen Trinksprüche und ihre Regeln (jeder 3. Wodka sollte auf die Liebe getrunken werden) und die Tatsache, dass Feierlichkeiten ohne Alkohol unvorstellbar sind. Etwas trockener betrachtet die Statistik das Phänomen. Nach neuesten Erkenntnissen und Untersuchungen des russischen Kaufverhaltens werden pro russischem Einwohner und Jahr ca. 18 Liter reinen Alkohols konsumiert. In Wodka umgerechnet sind das jährlich 50 Flaschen. Statistisch trinkt also eine 4köpfige Familie alle 1,75 Tage bzw alle 42 Stunden einmal 0,5l 40%igen Kartoffelschnaps.

Tatsächlich ist der Wodkakonsum russlandweit, wie anders kaum zu erwarten, regional sehr unterschiedlich. Das Irkutsker Gebiet hat allerdings großen Anteil am hohen gesamtrussischen Durst: Die Zahl der schwer Alkoholabhängigen im Irkutsker Oblast liegt 62% über dem russischen Durchschnitt. Laut hiesigem Kaufverhalten des Jahres 2008 entfielen auf jeden Einwohner des Irkutsker Gebietes statistisch 101 Liter alkoholische Getränke.

Begründet wird diese starke Affinitiät zur Abhängigkeit u.a. mit historischen Wurzeln und dem kalten Klima, gegen welches starke Alkoholika helfen. Hinzukommen für den Irkutsker Raum auch noch eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und Armut. Die Maßnahmen zur Affinitiätssenkung reichen von Strafzahlungen für illegale Alkoholproduktion (im Irkutsker Gebiet im ersten Halbjahr 2009: 306.000 Rubel, etwa 7000 Euro) bis hin zu Vorschlägen zur Hebung der allgemeinen Lebensqualität, etwa durch „normale Einkommen“.

Wodka allerdings hat in Russland seit einiger Zeit eine Identitätskrise, der Verkauf sinkt trotz farbenfroher Bemühungen der Industrie. Der deutlich teurere Kognak gilt als stilvoller. Und konsumiert wird inzwischen hauptsächlich – Bier. Vorzugsweise europäische Braukonzerne (Heineken und Tuborg aber auch Holsten) haben sich  ausgebreitet und eigene russische Marken entwickelt, die sich bestens verkaufen. Sehr beliebt sind auch russische Dosen-Starkbiere mit 8 bis 10 „Umdrehungen“, wie es auch im Russischen genannt wird. „Ochota – Die Jagd“ heißt ein in Irkutsk populäres Kopfschmerz-Getränk, von dem niemand genau weiß, was wirklich drin ist. Ein Reinheitsgebot gibt es nicht.

In Irkutsk gab es lange Zeit mehrere deutsche Brauereien, die jedoch spätestens bis 1940 alle verschwunden sind. Exildeutsche oder einfach deutsche Kaufmänner und Händler hatten in Irkutsk und ganz Russland im 18. und 19. Jahrhundert Brauereien gegründet und nach Pilsener und anderer Brauart Getränke hergestellt. Heute gibt es in Irkutsk wieder eine ganze Reihe privater Brauereien, die sehr schmackhaftes helles und dunkles Bier nach Pilsener Art herstellen. Warum auf den Etiketten der Irkutsker Brauerei Peter Christian allerdings Hakenkreuze abgebildet sind, habe ich bislang nicht in Erfahrung bringen können.

Im Alltag ist der Alkoholkonsum durchaus als Problem angekommen. Nicht nur in Flugzeugen wird nirgendwo mehr Hochprozentiges angeboten. Ach auf öffentlichen Veranstaltungen und an der gesamten Irkutsker Uferpromenade darf kein alkoholisches Getränk mehr verkauft werden. Der Genuss von Alkohol ist jedoch nur halb verboten: er darf nicht für Kinder sichtbar sein. Das hat vielen Kiosken ein einträgliches Geschäft beschert: Bier, das gelegentlich auch als quasi-alkoholfreies Getränk betrachtet wird, kann man überall im Stadtzentrum (minimaler Fußweg von der Uferpromenade) nur noch mit bunten Papiertüten kaufen, in die die Flaschen gesteckt sind. Dank dieser glänzenden Idee ist der Alkoholkonsum auf der Straße fast vollständig verschwunden – man sieht eben kaum noch jemanden Bier trinken. Und trotzdem sind die Feste nicht weniger fröhlich geworden.

mit-bier.jpg

Nachtrag, November 2010: Durch diesen Eintrag im (inzwischen eingestellten) Hitler-Blog von Daniel Erk bin ich auf eine einfache wie überzeugende Lösung gestoßen: Bis weit in die 1930er Jahre wurde das Hakenkreuz weltweit als Glücks- und Erfolgssymbol auf Etiketten und sogar frühe sowjetische Geldscheine gedruckt. Eine interessente Bilderserie dazu, in die sich das Irkutsker Bieretikett nahtlos einfügen würde, findet sich hier: http://www.sharenator.com/All_the_world_loved_Swastika_before_WWII/

Irkutsk/Kulinarisches/minimal stories

minimal story 1

Posted by Sascha Preiß on

In einer der позная am Markt sitzen sich zwei junge Männer am Tisch gegenüber und essen langsam позы. Während des Kauens unterhalten sie sich ein wenig, ebenfalls langsam. Hauptsächlich versuchen sie, Bier zu trinken. Es ist offensichtlich nicht ihr erstes heute. Schließlich schlafen sie ein und beide Köpfe liegen neben den Tellern auf der Tischplatte.  Die junge Kellnerin räumt die nicht vollständig gegessenen позы ab und bringt den bereits bestellten nächsten Gang. Die Gäste am Tisch schlafen. Nach einer Weile stellt sich die Kellnerin neben die Schläfer, rüttelt kräftig an ihnen, weckt sie mit gewaltiger Stimme auf und setzt sie mitsamt dem Essen vor die Tür. Die kaum des Gehens fähigen Männer fügen sich widerspruchslos der resoluten Frau.