Endlich auch einmal auf Olchon, ein Trip für fünf Tage im Sommer, Temperaturen um die 25°. Bei der Anreise – vier Autostunden ab Irkutsk zur Fähre, die letzten 60km auf Sand und Schotter, auf der Insel nur noch Sand – verabschiedet sich geräuschlos ein Hinterreifen, was uns 7000 Rubel kosten wird. Die Schönheit der größten Baikalinsel wird zurecht gerühmt, ein echtes Erlebnis für Zivilisationsflüchtlinge und Backpacker auf der Suche nach möglichst viel menschenleerer Natur. Ein Ort für Kinder wie in unserem Fall ist Olchon jedoch leider nicht. Es gibt zwar eine Schule, aber keine Spielplätze. Außer Nikita, der die größte Unterkunft in Khuzhir betreibt, ist keine Herberge auf Kinder eingestellt: Zielpublikum ist der wander- und/oder trinkfreudige Mensch aus dem In- und Ausland, der in der einzigartigen Natur des Baikalsees ausspannen möchte. Eine geleitete Exkursion etwa zum Nordkap der Insel, dem „Mys Khoboy“, kostet 1800 Rubel und dauert 10 Stunden, 6 davon im robusten Kleinbus UAZ 2206, danach geht es mit dem Schiff zurück.
Der Bus ist für 10 Personen gebucht, hinzu kommen noch drei Kinder im Alter von 2, 6 und 12 Jahren – die dürfen sich irgendwo dazwischen drängen. Der Fahrer beginnt seine Ausführungen über die Insel mit einer Touristenschelte: Wie schön die Insel tatsächlich ist und wie sehr die ganzen Touristen den wundervollen Ort verdrecken, denn sie lassen ihren Müll überall liegen. Die Geschichte vom Müll der Touristen, welcher die Sauberkeit der Baikalnatur gefährde, kann man im Irkutsker Gebiet täglich hören. Es ist nicht eindeutig zu klären, wer mit „Touristen“ gemeint ist, Ausländer, Russen aus anderen Teilen der Föderation, oder einfach keine Einheimischen. Fest steht jedoch in dieser Legende vom Baikalmüll, dass das Übel von Außen in die Welt dringt. Und tatsächlich lassen Urlauber, die von der schönen Natur schwärmen, oft genug ihren Abfall, ihre Flaschen, Plastetüten und Zigarettenschachteln an Grillstellen in freier Wildbahn liegen. Aber unser schimpfender Fahrer wird wenige Stunden später, nachdem er für die Touristen über offenem Feuer eine Fischsuppe gekocht hat, seine diesbezüglichen Abfälle in der erkaltenden Glut hinterlassen, Speisereste, Servietten, Plastetüten, was dann vom Wind durch die Landschaft getragen wird. Und was er eine Tour später wieder ausgiebig wird schelten können.
Touristen sind allgemein das Lieblingsthema des Fahrers. Gerade nähert er sich einer Gruppe von drei jugendlichen Wanderern. Was wir denn nun annehmen würden, woher diese Touristen kommen, ob das Russen oder Ausländer seien, will er wissen. Woher wir das wissen sollen, ohne zu fragen. Er aber lächelt und verspricht eine sichere Methode es herauszufinden: und als er sie überholt, hupt er kurz. Die Wanderer sehen das Auto mit den Touristen an und die Touristen sehen die Wanderer auf ihrem Weg an. Sehen Sie, freut sich der Fahrer, das sind zweifelsfrei hundertprozentige Russen. Russen nämlich unterscheiden sich von Ausländern dadurch, dass sie hupende Autos nur anschauen und einfach weiterlaufen würden. Ausländer aber hätten in jedem Fall sofort angefangen zu lachen und dem Auto zuzuwinken, vielleicht noch ein Foto gemacht.
So ist das nämlich mit den Russen und den Ausländern, mit der unterschiedlichen Natur der Menschen in der Natur. Ausländer könnten mit freier Natur nichts anfangen, sagt er. Fällt ein Löffel beim Mittag vom Tisch, frage der Ausländer nach Wasser und Lappen zum Reinigen. Ein richtiger Russe wischt das Besteck kurz an der Hose ab, die kann man dann zu Hause waschen. Ausländer haben immer Angst vor Schmutz, aber in der Natur gäbe es keinen Schmutz, ein Russe wisse das. Ob ich übrigens Brot schneiden könne. In Deutschland, wisse er, würde das Brot ja immer schon geschnitten verkauft. Damit ich meine Brotschneidefähigkeiten üben könne, erhalte ich zwei Laibe und ein Taschenmesser. Ich mache meine Sache offenbar gut, auf das Thema kommt er nicht mehr zurück. Aber ich solle mich doch beim Tee eingießen nicht so anstellen und den heißen Kessel richtig anfassen. Außerdem empfiehlt er mir, mal ein halbes Jahr mindestens in der russischen Armee zu dienen, dort würde mir dann das richtige Verhalten in Russland beigebracht.
Apropos Armee. Der 6jährige Junge, der im Bus vorn bei seinem Vater sitzt, Sportanzug und ein Tuch im Camouflage-Look trägt (während das ca. 12jährige Mädchen geschminkt ist und helle Sonntagskleidung mit Sandalen angezogen hat), lernt in der Schule deutsch, weil seine Eltern das so wollen. Ein paar Sätze kann er schon. Auf dem Schiff spielt er mit Lili. Doch plötzlich steht er vor mir und sagt, er habe gehört, dass sich Deutsche noch immer in Russland für den Krieg entschuldigen würden, ob das wahr sei. Nun ja, antworte ich, der Krieg Nazideutschlands gegen die Sowjetunion war außerordentlich brutal und grausam, das kann man nicht einfach so ignorieren. Kurz darauf hat er seine große Spielzeugpistole herausgeholt und wird den Rest der Schiffsfahrt auf mich schießen.
In der kleinen Kombüse des für Tourismuszwecke umgebauten Fischkutters wird Tee gereicht. Die einzige echte Möglichkeit, sich von der kalten Seeluft zu erholen und zu wärmen. Lili wagt sich kaum an Deck, spielt die meiste Zeit in einer kleinen engen Kajüte auf dem Bett. Erst spät entdecke ich ein Buch, das dort von irgendjemandem vergessen wurde. Ein ehemaliger Tschetschenien-Soldat hat einen Armee-Roman geschrieben: „Und zuletzt lacht Spezialeinheit“. Das abgegriffene Taschenbuch ist mein Souvenir von der Exkursion durch die Insel Olchon. Ansonsten hab ich natürlich noch jede Menge Fotos und einen ordentlichen Sonnenbrand auf der Nase mitgebracht. Schließlich wars doch auch ein Urlaub.