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Irkutsk/Taxi/Ulica

Im Taxi 2

Posted by Sascha Preiß on

Die Fahrer haben die Stadt unter sich aufgeteilt. Zum Jagdgebiet des Oberst gehört der Bahnhof. Dort wartet er bereits das zweite Mal auf uns, und wir gehen ihm ins Netz. Mitten in der Nacht, wenn keine Busse und Marschrutki mehr fahren, hat man wenig andere Möglichkeiten. Er erkennt uns wieder, natürlich, sagt er nuschelnd fröhlich. Deutsche Gäste aus Thüringen fährt er gern. Vor 30 Jahren absolvierte er seinen Wehrdienst bei Nohra zwischen Erfurt und Weimar. Ein paar deutsche Brocken kann er noch, guten Tag, Achtung Achtung, freut er sich. 1976 kam er zurück nach Russland, lebt seither in Irkutsk. Die Armee hat er nach 1991 verlassen, er war Oberst. Warum er sie verlassen hat, sagt er nicht. Aber schön war es in Deutschland, er ist seither nicht mehr dort gewesen. Dafür fährt er Nacht für Nacht Reisende vom Bahnhof durch Irkutsk.

Irkutsk/Taxi/Ulica

Im Taxi

Posted by Sascha Preiß on

Taxis gibt es in Irkutsk für jede erdenkliche Gelegenheit. Die Gelben Seiten der Stadt verzeichnen 105 Taxiunternehmen, darunter Taxis für Frauen, Luxustaxis, Sozialtaxis, Expresstaxis, alternative Taxis, galaktische Taxis, vorsichtige Taxis, Rendevous-Taxis, Taxis in Putins Namen oder Taxis im Namen der russischen Trikolore. Hinzu kommen noch die auf Touristen lauernden Taxifahrer am Bahnhof oder Flughafen. Die einzelnen Firmen verfügen über überschaubare Fuhrparks und Fahrer, so kann es vorkommen, dass die Mitarbeiterin am Telefon lange Wartezeiten ankündigt oder sagt, dass augenblicklich kein Fahrer frei wäre und grußlos auflegt.

In Osijek, wie in jeder kroatischen Stadt, gab es nur ein einziges Taxiunternehmen, deren Fahrer zu völlig überteuerten Preisen (vom Bahnhof zum Flughafen 250kn = 35€) eher widerwillig Leute am Bahnhof erwartete, nirgends sonst in der Stadt. Andere Unternehmen hatten gegen dieses offizielle Stadttaxi keine Chance.

Die russische Taximafia geht preispolitisch etwas subtiler vor: Am Flughafen Irkutsk frage ich einen Fahrer, was die Fahrt kosten solle. Er zeigt wortlos zwei fleischige Finger, 200Rub, ich akzeptiere, er geht wortlos zum Auto, fährt mich wortlos zu meinem Ziel. Ich gebe ihm das Geld, worauf er zu reden anfängt. 300Rub wären ausgemacht. Wieso, er hatte 2 Finger gezeigt. Nein, drei, zeigt er seine große Hand noch einmal, den dritten hätte ich bloß nicht gesehen. Also: den Preis stets vor der Fahrt abSPRECHEN.

Über Taxis ist viel geschrieben und gefilmt worden. Taxifahrer leben auf der Straße und erzählen dabei seltsame Geschichten. In loser Folge werden hier einige dieser Geschichten aus Irkutsk gesammelt.

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Fernost/Grenzenlos/Ulica

Komsomolsk-na-Amure: Anton

Posted by Sascha Preiß on

An diesem Abend wird er Vater, zum zweiten Mal. Das Kind dieses Abends wird er erst in ein paar Tagen zu Gesicht bekommen. Er fährt mit dem Auto durch die dunkler werdende Stadt, besucht Freunde, trinkt nicht. Es sei in Ordnung, das Kind nicht sofort sehen zu können, sagt er. Es ist ja ein Mädchen und es ist in den guten Händen seiner Frau, ihrer Mutter, der Oma und der Tante. Er hat schon einen Sohn, sein erstgeborenes Kind, das war ihm viel wichtiger, das hat er damals sofort sehen wollen. Jetzt fährt er halt ein bisschen durch die Stadt.

Er kommt nicht aus Komsomolsk, die Arbeit hat ihn hierher verschlagen, die Frau natürlich auch. Vor sieben Jahren. Das sei schon in Ordnung, er kann ganz gut leben von seinem Verdienst. Offiziell aber arbeitet im Grunde niemand mehr hier. Komsomolsk am Amur, eine ursowjetische Gründung der 30er Jahre, großzügig ans Ufer des breiten Flusses gebaut, ist Wohnort für 350.000 Einwohner, damals wie heute, Stalin- und Chrushchow-Platten und enorm breite, lange Straßen prägen das Bild, großzügig mit Bäumen bepflanzt, die im April noch immer kahl und leblos aussehen. Schmutziger Schnee und riesige Pfützen auf den Wegen. Straßenbahnen drehen wackelige Runden. Wenig Geschäfte, ein rauchender Schornstein am Horizont. Eine arbeitende Stadt sieht anders aus. Es gibt 3 Großbetriebe hier, ein Flugzeugwerk, das kleine Passagiermaschinen, Hubschrauber und Militärmaschinen herstellt, ein Schiffswerk für Atom-U-Boote und ein großes Stahlwerk, Amur-Stahl. Sowjetische Betriebe, wegen denen die Stadt jahrzehntelang für Ausländer gesperrt war, Spionage-Abwehr. Auch heute noch interessieren sich die Behörden stärker als anderswo für nichtrussische Besucher. Obwohl in den Betrieben deutlich weniger produziert wird als früher. Anton kennt keinen, der dort arbeitet. Man bekomme ja sowieso alles, was dort hergestellt wird, 10x billiger in China, dort kaufe im Grunde jeder ein. Qualität ist eh die selbe. Er arbeitet seit langem in einer Autowerkstatt, kleines Grundgehalt, der Chef gibt Prozente. Mit einem Freund hat er vor Jahren etwas Geld zusammengelegt, ist nach China, hat ein Auto gekauft und hier wieder verkauft. Das haben sie ein paar Mal gemacht, Import-Export, nach 4 Jahren konnte er sich eine eigene Wohnung kaufen. Vom Lohn im Stahlwerk wäre das unmöglich gewesen. Sein eigenes Auto, japanisches Modell, bekäme er nirgends so günstig. Jetzt sind die Gesetze geändert worden, die Einfuhrzölle enorm erhöht, um die heimische Produktion anzukurbeln. Der gesamte russische Ferne Osten hat vom Handel mit China, Korea und Japan gelebt. Das gleiche Auto in Russland hergestellt sei 10x teurer und deutlich schlechter in der Qualität, so einen Motor könne niemand in Russland herstellen, den kaufe eh keiner. Wegen der Zollerhöhungen gab es massiv Proteste, vergeblich, jetzt legt sich niemand mehr neue Autos zu und bringt sie in die Werkstatt. Sein Chef hat ihn entlassen müssen, er sucht Arbeit, wie viele hier. Freunde ziehen weg. Er hat eine Eigentumswohnung. Er finde ganz sicher wieder Arbeit, keine Frage, nur nicht den Optimismus verlieren. Alles wird gut. Diese Krise sei die schlimmste, die Russland je erlebt habe. Mit Russland meint er sich, seine Generation, die Jugend. Die Älteren haben sich spätestens seit den 80er Jahren an ein Leben in Krisenzeiten gewöhnen können, die Jüngeren kennen vor allem den rasanten (privat-)wirtschaftlichen Aufschwung nach Jelzin. Der ist nun vorbei, abrupt, ohne Vorwarnung.

China, im übrigen, sei toll. Schmutziger als hier, aber toll. Billig. Ich müsse da unbedingt hinfahren, empfiehlt er mit Begeisterung. Dort kann man wochenlang in Hotels wohnen, die man in Russland nur von außen sieht. Er zeigt mir einen knittrigen Katalog aus dem Handschuhfach, sein Stammhotel. Pool, Sauna, Bar, opulente Räume, alles inclusive für 39 Yuan pro Nacht und Nase. Das sind gerade einmal 200 Rubel, 5 Euro. In Russland wäre das unbezahlbar. Alle fahren nach China, wenn es hier zu kalt wird. Oder zu teuer. Oder zu einsam.

Es ist Nacht geworden, er setzt mich ab, fährt weiter, vielleicht nach hause, vielleicht zu Freunden. Das Auto wackelt, wenn es durch Pfützen und Löcher fährt. Die Straßenbeleuchtung ist ausgeschaltet.

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Irkutsk/Ulica

Dead End

Posted by Sascha Preiß on

Plötzlich stand eine junge, maximal 25jährige Frau im Bus, verlangte Aufmerksamkeit, erklärte zornig ihre Lage und bat verbittert um Geld. Das war sicherlich keine besondere Situation in Städten wie Berlin oder Paris. Auch in der russischen Provinz ist der Anblick von Armut alltäglich, aber keinesfalls in dieser offensiven Form im engen Bus, wo man nicht weitergehen kann, man aktiv wegschauen muss, um sich nicht betroffen zu fühlen. Seit 4 Monaten fuhr ich mit dem Bus zur Arbeit, saß wie alle anderen leicht beengt auf einem etwas abgewetzten Sitz, meine Musik in die Ohren gestöpselt, um während der Fahrt dem anstrengenden russischen Popradio zu entkommen, meinen Kopf in Richtung Fenster gewendet, obwohl ich wegen der vereisten Scheiben draußen nichts sehen konnte (ein pawlowscher Reflex des öffentlichen Nahverkehrs). Trat beim Einstieg einer Mitfahrerin auf den schwarzen Velourlederschuh, sie spendierte mir aus geschminkten Augen einen tiefempfundenen zornigen Blick. So bedeutungslos hätte das gerne eine halbe Stunde Fahrt weitergehen können. Die junge Frau aber schob sich mitten in den Bus und rief Vnimanje, Achtung. Für gewöhnlich schweigen die Leute in öffentlichen Transportmitteln, reden maximal mit ihren Telefonen. Es gibt in Irkutsk keine Fahrscheine zu kontrollieren, daher auch keine Kontrolleure, man zahlt beim Aussteigen, lediglich in der Straßenbahn holt man beim Einsteigen einen Fahrschein. Betteln im Bus – sie musste wenigstens das Fahrgeld beim Busfahrer zahlen zu können, bei Misserfolg war das Fahrzeug ein dead end, es gab nur eine Tür. Ihre Klage war bekannt, arbeits- und obdachlos, kein Geld für Essen, wie kommt eine 25jährige Frau zu so einem Leben? Eine etwa 50jährige Frau spuckte eine abfällige Bemerkung hin, 5 Fahrgäste incl mir kramten Geldscheine heraus, andere quetschten sich an ihr vorbei Richtung Ausstieg, an der nächsten Station war sie wieder weg. Seit 4 Monaten fuhr ich mit dem Bus quer durch die Stadt, die die drittgrößte Armutsrate in Russland aufweist, unter den ersten fünf in der Statistik der Alkohol-/Drogenabhängigen zu finden ist und ebenfalls einen vorderen Platz bei den Arbeitslosenzahlen erreicht. Das Aussehen von Armut unterscheidet sich weltweit nicht, die Leute leben in Parks, in unvollendeten Gebäuden, im Winter in Hauseingängen. Oder in Familien, die mit sich selbst überfordert sind wie die meines Nachbarn, der ebenfalls höchstens 25, arbeitslos ist und sich regelmäßig betrinkt, was immer wieder zu endlosen Streits mit seinen Eltern führt, die das ganze Haus miterlebt. Bisher ist er nie aggressiv geworden, nur laut, aber heute drohte er, jemanden umzubringen. Die Polizei, ja die war schon hier, die hämmert an die Wohnungstür, bis es dahinter ruhig ist. In allen Bussen gibt es Werbung für Drogenberatung. Es gibt aber sonst keine sozialen Dienste oder Hilfseinrichtungen. Arbeitslosengeld? Rentenversicherung? Ein Sozialamt? Familienhelfer? Charity? Der Moskauer Bürgermeister wollte vor kurzem ein Zentrum für Obdachlose gründen und bat große russische Unternehmen mit Sitz in Moskau um Spenden, die weigerten sich, weil sie kein Geld zum Fenster rauswerfen wollten. Die Überzeugungsarbeit des Bürgermeisters bestand darin, den Unternehmen kurzerhand den Strom abzuschalten, bis das gewünschte Geld da war. Gemeinnützigkeit wird in Russland nicht verstanden, sagte meine Freundin, die für eine ausländische Kinderhilfsorganisation arbeitet. Man hüte sich vor Mentalisierung und Rückschlüssen auf die russische Kultur. Das Land hatte in den vergangenen 18 Jahren mehrfach Krisen erlebt, die mit der gegenwärtigen nur den Namen gemein haben. Der Zerfall der Sowjetunion war alles andere als friedlich abgelaufen, man führte teure Kriege im Namen der nationalen Sicherheit, die unfähige Wirtschaft wurde so radikal privatisiert und umgeformt, dass der Rubel zwei Mal sturzflugartig an Wert verlor, monatelang blieben Lohnzahlungen aus, Ersparnisse lösten sich auf, staatliche Invesitionen in Infrastruktur oder Bildung existierten kaum mehr, man ernährte sich aus dem Vorgarten oder der nahen Datsche, von der Hand in den Mund. Das hat sich grundsätzlich nicht geändert. Wer etwas anbieten kann zum Verkauf, bietet es an, ein Glas Pilze, selbstgemachte Sahne, Socken. Privates Sparen existiert nicht, Vorsorge für später auch nicht. Die staatlichen Apparate sollen die Wirtschaft beflügeln, sagte Putin, aber nicht die Partizipierung der Bevölkerung daran. Wie bedürftigen Leuten helfen, wenn man sich selbst nicht zu helfen weiß, das Kapital des reichen Landes an der Öffentlichkeit vorbeigeht? Und eigentlich: Warum? Die junge Frau im Bus hatte sich mit Zorn in den Bus gestellt, um Geld gebeten, war mit etwa 100 Rubeln, 2,50 Euro, wieder ausgestiegen. Heute konnte sie die Fahrt bezahlen, ihr Zorn galt der Zukunft, wenn sie irgendwann wie Kafkas Maus in der Fabel festsitzt, im dead end.