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Baikal/Grenzenlos/Russland

Urlaubsplanung

Posted by Sascha Preiß on

Ein Freund war gekommen, ein lebensfroher Mann mit seiner Frau (die sitzt den ganzen Abend glücklich vor dem Fernseher und sagt kein Wort), beide nur für einen Abend am Baikal, auf der Durchreise: morgen zurück nach Irkutsk und in zwei Tagen gehts los nach Thailand, Winterurlaub am Strand. Ob er nicht mitkommen möchte, fragte er den Hausherrn schon beim Eintreten, Schnee, Wind und Frost habt ihr doch bis Ende April noch zur Genüge. Der kleine Scherz verglüht bei einem Begrüßungswodka, die Freunde gehen zur Plauderei über den Stand der Dinge in Irkutsk über, und lassen sich auch vom Abendessen nicht unterbrechen. Ein Kognak als Aperitif macht das Sprechen geschmeidig, und bei gebratenem Baikalfisch und einer halbvollen Flasche mäßigen Kartoffelschnapses fällt dem Freund sein Dzhingis-Khan-Wodka ein, das Geschenk für den Hausherrn, ein ganzer Liter in einer geprägten Metalldose. Den hat er aus der Mongolei mitgebracht, das trinkt dort niemand und wird nur für russische Touristen produziert, schmeckt auch nicht besser als deiner, sieht aber wesentlich beeindruckender aus, findest du nicht? Und also wird Dzhingis geköpft und das Gespräch geht flüssig weiter. Er, der Freund, war doch am 24.12. zur großen Demonstration in Moskau. Ihn als bekennenden Putin-Oppositionellen, der in Irkutsk ein Oppositionsbüro unterhält, ihn hat sein Unmut vor zwei Wochen in die 5300km entfernte Hauptstadt getrieben. Ja, das war schon toll, kein Vergleich zur fehlenden Unruhe hier, wenn er hier kein Internet hätte, wüsste er gar nicht, was vorginge; in Moskau dagegen seien alle ganz elektrisiert gewesen, von der Reibung mit Putins Apparat elektro-statisch hoch aufgeladen, also eigentlich gar nicht statisch, sondern höchst lebendig. Die Freunde lachen über den Scherz und stoßen auf den Erfolg an. Aber apropos Internet, die Flugtickets nach Thailand hat er vorgestern ruckzuck übers Netz gebucht, ob er die hier schnell mal ausdrucken könnte? Aber was denn für ein Erfolg, fragt plötzlich der Arbeiter aus Novosibirsk, der die ganze Zeit aufmerksam zuhörend und verhalten nippend am Tisch gesessen hat, was soll denn passieren, wenn Putin wirklich weg ist? Na was wohl, ruft der Freund aus, dann kommt ein Neuer, einer von uns, einer aus dem Volk! Ach, das Volk?, wird der Novosibirsker nachdenklich, wir sind doch alle zu dumm für sowas, nur Ameisen in diesem Land, ich will nicht von einer Ameise regiert werden. Warts nur ab, wirst sehen, alles ist besser als Putin, und jetzt muss uns erstmal jemand nachschenken – aber das Internet funktioniert bei dir?, wendet er sich an den Hausherrn, welcher nickt. Na los, dann sollst du mal sehen, wie einfach man buchen kann, du solltest das auch, wird dir gut tun! Bemüh dich nur nicht, ich hab gar kein Interesse an Thailand, aber den Computer schalt ich dir ein.

Der Arbeiter aus Novosibirsk ist dann schlafen gegangen und hat das Ende des Abends verschlafen. Am nächsten Morgen kam nämlich der Hausherr leicht verstrubbelt zu ihm und fragte, wie es ihm am Baikal gefällt und ob er noch lange hierbleiben wolle. Sie fahren nämlich nach Thailand. Na, nimmt er den ruhigen, aufhorchenden Menschen in den Arm, du weißt ja wie das ist, er, der Irkutsker Freund, ist schon auch überzeugend, erst sagt er komm doch mit, ich sage halt nein, ich will da nicht hin, hab keine Zeit und so, aber es sei wirklich nicht teuer, sagt er dann, und immer ein gieß noch mal nach – und zum Schluss…: na also das Haus gehört jetzt für zwei Wochen ganz dir, nur Hund und Katzen musst du regelmäßig füttern, dank dir sehr. Und damit macht sich der noch schwankende Hausherr ans Packen.

Das Wetter/Irkutsk/Russland

Frohe Weihnachten!

Posted by Sascha Preiß on

Heute, da die russlandweiten Anti-Wahl-Proteste einen weiteren Höhepunkt erreicht haben, fiel nun also den sechsten Tag in Folge in Irkutsk Schnee und die für den örtlichen Demonstrationsplatz am Station „Trud“ angekündigten Proteste so gut wie aus. Es kamen offenbar so wenige, dass selbst die Berichterstattung nicht mehr lohnt. Andererseits hatte ja vor einer Woche der Bürgermeister selbst sein ganzes politisches Gewicht in den Ring geworfen, als er nach Putins 4,5stündiger TV-Fragestunde (bzw moderierte Monologe) ebenfalls zu der Behauptung griff, die Proteste gegen die Wahl in Irkutsk seien von „ausländischen Sonderdiensten“ finanziert und sowieso gegenstandslos, weil ja in Irkutsk nicht wirklich etwas zu beanstanden sei: Also werde er, Viktor Kondraschow, ab sofort mit einem weißen Helm gegen die „Weißen Bänder“ (die Putin als Kondome verhöhnt hatte) vorgehen.

Wie auch immer Putin (von Medwedjew hat in den vergangenen Monaten in Russland niemand mehr gesprochen, obwohl er ja eigentlich Präsident ist, aber offenkundig derart unwichtig, dass selbst seine nett gemeinten Ansprachen unerhört vergehen) nun auf die neuerlichen Proteste reagieren wird – schaut man sich die Liste seiner Präsidentschaftsgegner an, muss man sich noch immer um seine Wiederwahl keine Sorgen machen.

Sorgen hingegen muss man sich allmählich um eine touristische Attraktion am Baikalufer machen: Der Betrieb der Baikalrundbahn könnte im kommenden Jahr mangels Geldes eingestellt werden. Noch wird die Strecke vom Südufer des Sees (Sljudjanka) zum Port Baikal regelmäßig angeboten, doch ein durchgehender Verkehr von Irkutsk und wieder zurück ist vorerst auf Eis gelegt. Bislang jedenfalls konnte man für alles, was schief zu gehen drohte, nach Putin rufen, und wenn er kam, wurde alles irgendwie gut. Ob das auch im kommenden Jahr so bleibt, ist ungewiss.

Und apropos: Es ist, wie eingangs erwähnt, Winter und ein ganz wunderbarer dazu, vielleicht auch deshalb, weil die winterliche Idylle so gar nicht zur politischen Situation passen will.

Allen LeserInnen des Irkutskblogs wünsche ich ein fröhliches Weihnachtsfest, с рождеством!

Irkutsk/Russland/Ulica

Zwischen den Wahlen

Posted by Sascha Preiß on

Die Wahlen zur russischen Duma liegen zehn Tage zurück, an den massenhaften Protesten in Russland gegen Wahlfälschungen und Einflussnahme bei der Stimmabgabe hat sich am Samstag auch die Irkutsker Bevölkerung beteiligt, vorerst nur mit etwa 1000 Menschen. In drei Tagen ist aber eine größere Protestdemonstration angekündigt. Die Proteste verliefen absolut friedlich, obwohl ursprünglich nur 300 Menschen für den Kirow-Platz zugelassen waren und die Demonstration kurzerhand vor den Zirkus verlegt werden musste, aus Sichtweite der Gebietsverwaltung. Allerdings gibt es dennoch reichlich Unterstützer des Protests und beinah alles wird im Internet dokumentiert. Dieses bislang als unzensiert geltende Medium hat in der Tat stark an Bedeutung in Russland gewonnen und damit auch die Aufmerksamkeit der politischen Führung – Prognosen sehen eine zunehmende Überwachung voraus. Auch in Irkutsk wurden am 4.Dezember die Server der freien Wahlbeobachter von „Golos“ blockiert (Meldung um 17:15), inzwischen machen Meldungen über behördliche Beobachtung aller mit Irkutsk verknüpften Profile bei vkontakte und facebook die Runde.

Die Duma-Wahlen sind im Irkutsker Gebiet nicht besonders berauschend für „Einiges Russland“ ausgegangen, im gesamten Oblast erreichte ER gerade einmal knapp 35%, relativ dicht gefolgt von den Kommunisten (27,79%) und mit großem Abstand zu Schirinowskis LDPR (17,34%) und „Gerechtes Russland“ (13,36%). In Irkutsk und Angarsk lagen die Kommunisten sogar deutlich vor ER, auch wenn die gesamte Familie des ehemals kommunistischen Bürgermeisters V. Kondraschow, der nach den Bürgermeisterwahlen im März 2010 recht bald zu „Einiges Russland“ überlief, für „Stabilität“, einem Schlüsselwort im Wahlkampf von ER, stimmte. Offenkundig ist seine Popularität nicht wahlbedeutend. Ebensowenig wie die im Irkutsker Gebiet gemeldeten Verletzungen des Wahlrechts, wie „Golos“ zur Liste anmerkt.

Dennoch sind die Ängste oder Hoffnungen auf ein Abflauen des Protestes wohl unbegründet – solange Identitätsfiguren wie Alexei Navalnyj noch in Haft sitzen, wird es weiterhin Guerilla-Aktion wie die der russischen feministischen Punk-Band „Pussy Riot“ geben, die kurzerhand eine Art Konzert für die Inhaftierten an den Gefängnismauern veranstalteten. (Wobei insbesondere bei Navalnyj nicht klar ist, wo Aufklärung und nationale Verklärung beginnt: Immerhin ist er einer der Mitunterstützer des diesjährigen „Russki Marsch“ in Moskau, einer ultranationalistischen Veranstaltung. Und für den Moskauer Protest am 24.12. haben sich bereits reichlich Nationalisten angekündigt.)

Wahlplakat der Kommunisten: Zur Wahl mit (einer) Kalaschnikow

Unabhängig von der weiteren Entwicklung der Proteste und dem gegen sie gerichteten Vorgehen der Behörden – wenn es nun ganz schlecht für V.V. Putin bei den im März 2012 anstehenden Präsidentschaftswahlen läuft, könnte tatsächlich ein gegenwärtiger Irkutsker die Russische Föderation anführen: Der Gouverneur des Irkutsker Gebietes, Parteimitglied von ER und gebürtige Leningrader Dmitrij Mesentsev ist einverstanden, sich als Kandidat für das Präsidentenamt aufzustellen. Auf die Frage von Journalisten, dass er damit auch Putin selbst direkte Konkurrenz macht, antwortete er: „Für mich bleibt Vladimir Vladimirowitsch erst einmal Regierungsvorsitzender.“ Außerdem sei er kein Parteimitglied von ER – eine Haltung, die Putin und dessen Distanzierung von seiner eigenen Partei bekräftigt. Nun, wir dürfen davon ausgehen, dass man sich außerhalb des Irkutsker Gebietes und jenseits der russischen Grenzen nicht wirklich an den Namen Mesentsev wird gewöhnen müssen. Auch wenn in diesem heißen russischen Winter viel möglich scheint. (Ob der Weihnachtsmann in Russland die Kommunisten wählt?)

Auch zum Neujahrsfest sind Kalaschnikows der Knaller: Weihnachtsmann und Snegurotschka gut gerüstet in Camouflage-Mänteln

Im Übrigen: Während sich in Moskau die meisten Kinos vor der Dumawahl schlicht nicht wagten, den kontroversen Film „Chodorkovskij“ auszustrahlen, wird der Film ab Freitag für zwei Wochen im „Dom Kino“ gezeigt. Dies als Ankündigung für alle Interessenten, die noch keine Gelegenheit hatten, den Film zu sehen, mich inbegriffen.

minimal stories/Russland/Universität

Der Feiertag

Posted by Sascha Preiß on

Montag am Englisch-Lehrstuhl. Dort verfügt man über ganz ansprechende PC-Kabinette, die wollte ich mir für ein paar Tage unter den Nagel reißen. Vergeblich: Die Kabinette sind seit ein paar Tagen ohne Internet und werden wohl auch für den Rest des Monats abgeschaltet bleiben. Nur weil man an einer Technischen Universität arbeitet, bedeutet das nicht, dass die Technik auch funktioniert. Dafür ist im Büro des Lehrstuhls eine Tafel festlich gedeckt. Wem darf man denn heute zum Feiertag gratulieren, frage ich. Na uns allen, antwortet die Lehrstuhl-Älteste, heute ist doch der große Festtag! Offensichtlich scheine ich ungläubig auszusehen. Mit dem Stolz der Tradition ruft sie: Es ist Tag der Revolution, der 7. November! Und gekränkt sinkt sie in ihren Stuhl: Und nicht dieser falsche Tag da. Die anderen Mitarbeiterinnen im Raum nicken verhalten. Dieser beharrende Trotz, Feste zu feiern, die schon längst staatlich überarbeitet wurden, ist auf seine Weise beeindruckend und erweckt in mir Lust auf einen Essay zur ewigen Allgegenwart Lenins und die Werbeplakate der Russischen Kommunisten mit Stalins Konterfei. Aber für solche Kommentare habe ich keine Zeit, ich brauche dringend ein Computer-Kabinett mit benutzbarem Internet-Zugang. Ich habe nicht einmal Zeit, mich zu fragen, was Lenin zu Facebook sagen würde.

Interkultur/minimal stories/Russland

minimal story 16

Posted by Sascha Preiß on

Auf dem Rückflug von einer Dienstreise. Neben mir ein redseliger Patriot, der dem Fremden von Russland erzählt: Es gibt Geschichten über freudenvolle Wodkaexzesse, die Frage, ob man in Deutschland auch in Dollar bezahlt, und die unwiderlegbare Behauptung, dass russische Mädchen mit Abstand die Schönsten sind. Der Mann ist älter und unverheiratet, er schwärmt für die junge Stewardess und die Schönheit in der Komsomolskaja Prawda. Zwei Reihen hinter uns steht der Pilot aus einem Gespräch mit einem Fluggast auf, er müsse jetzt doch mal die Landung einleiten, das sei überfällig. Mein monologischer Gesprächspartner begeistert sich und brüllt aus vollster patriotischer Kehle mir ins Ohr: „Das ist Russland, nur keine Panik! Wenn du zurückkommst nach Deutschland, musst du unbedingt erzählen, dass hier das Land der Wunder ist: Man asphaltiert zuerst die Straße, und dann legt man die Rohre.“

Ästhetik/Interkultur/Russland

Ein typisch deutsches Tor

Posted by Sascha Preiß on

Sportliche Wettbewerbe zwischen Nationen haben ihren ganz besonderen Reiz. Es ist die Zeit des folkloristischen Patriotismus, nationale Klischees und Stereotypen sollen und dürfen hemmungslos ausgelebt werden. Für Fußballspiele internationaler Wettbewerbe kleiden sich Tausende in Trachten gemäß Angebot der regionalen Sportartikelhersteller und schminken sich ihre Landesflaggen auf alle möglichen Körperteile. Und weil die Fußballspieler auf dem Rasen als Nationalmannschaft auflaufen, ist ihr Spiel selbstverständlich stets Ausdruck eines (sportlichen) Nationalcharakters: die Kultur eines Landes offenbart sich immer und überall.

Das jedenfalls muss sich der russische Kommentator für die Live-Übertragung des Qualifikationsspiels Türkei – Deutschland am 7.Oktober 2011 in Istanbul gedacht haben. Seine Beschreibung und Analyse des von Thomas Müller erzielten 2:0 ist eine wunderschöne Definition dessen, wie Deutschland von Russland aus gesehen wird: Mit Bewunderung, aber ohne Begeisterung, weil Deutschland eine Aura klinischer Strenge umgibt. Während der Angriff, der zum zweiten deutschen Tor führt, vorgetragen wird, philosophiert der Kommentator darüber, was Joachim Löw am heutigen Spiel seiner Mannschaft alles nicht gefallen könnte. Doch als es plötzlich 0:2 steht, folgt die Analyse, gleichsam eine Epiphanie deutschen Nationalcharakters.

Der Wortlaut des Kommentars ab Sekunde 16 im Video: „Ein typisch (reines) deutsches Tor, wieder einmal. Wobei das in erster Linie nicht nur auf die Ausführung des gesamten Angriffs zutrifft, den haben die Deutschen wieder einmal ziemlich frisch vorgetragen, so wie die deutsche Auswahl derzeit spielt. Aber dann der letzte Schuss von Müller – das ist ein typisch deutsches Tor. Ohne irgendwelche Effekte, ohne besondere zusätzliche…. wie kann man das sagen… Schönheiten, oder so. Einfach Müller, ganz exakt, und mit dieser chirurgischen Genauigkeit rollt der Ball ins lange Eck.“

Ich finde das einen nachahmenswerten Ansatz für die Entwicklung der Sportreportage. Keine Analyse nach sportlichen Gesichtspunkten, sondern ein Hohelied auf nationale Charakteristika. Sollte sich die russische „Sbornaja“ für die EM 2012 in Polen und der Ukraine qualifizieren, wonach es derzeit aussieht, werde ich mich also bereits jetzt auf Reportagen freuen wie: „Ein Tor wie im Wodkarausch! Eine klassisch russische Ballstafette, matroschkahaft und balalaikaleicht dargeboten, ein wütend tänzelnder und kaum mehr nachvollziehbarer Weg durch die russischen Instanzen. Und der Abschluss von (Arschawin z.B.) gelang herrlich besoffen und voll des Glanzes orthodoxer Zwiebeltürme…..“

Russland

Staatsbürgerkunde in 13 Sekunden

Posted by Sascha Preiß on

Die Reaktionen auf die Präsidentschaftsrochade Putin-Medwedjew sind national und international alles andere als begeisternd. Auch im näheren Freundeskreis ist wenig Euphorie und Aufbruchstimmung zu spüren. Der Hersteller dieser seit 2008 in Russland recht populären Kühlschrankmagneten wird sich hingegen seines Geschäftes weiterhin erfreuen können. Prägnanter als auf diesem kleinen Stück Plaste ist das seit vier Jahren existierende und weitere sechs (vermutlich zwölf) Jahre geltende politische System Russlands kaum je zusammengefasst worden.

Irkutsk/Russland/Sprache/Statistik

Schöner unsere Städte und Gemeinden

Posted by Sascha Preiß on

Unlängst saß eine Studentin in meinem Büro, sie suchte eine Möglichkeit, sich endlich mal wieder auf deutsch zu unterhalten, also plauderten wir. Unter anderem über unsere Reiseerfahrungen in Russland. Ob ich schon in Moskau gewesen sei und was mein Eindruck der Stadt wäre. Ihr gefalle Moskau nämlich nicht so gut wie früher. Damals (wann genau, sagte sie nicht) wäre Moskau noch schön gewesen, aber heute sei die Stadt voll mit Tadjiken und Tschetschenen, die machten die Stadt ganz schmutzig, würden überall hinspucken, Frauen belästigen und sich überhaupt schrecklich benehmen. Das könne sie auch in ihrer Straße beobachten, wo Tschetschenen auf Baustellen arbeiteten, ganz und gar unangenehm.

Dass sich rassistische Einstellungen in Russland nicht auf Hooligans und Nationalbolschewiken beschränkt, ist keine Neuigkeit. Dass er sich nun so unverblümt  in einer netten Plauderei offenbarte, machte mir einigermaßen zu schaffen. Nicht allein dir Frage, wie darauf angemessen zu reagieren sei – als Ausländer ist man in einer Situation, die wenig Spielraum lässt, man kann wenig mehr als zu konstatieren, dass man selbst grundverschiedene Ansichten hat, womit sich das Thema (und das Gespräch insgesamt) erledigt hat. Aufschlussreicher ist wohl die Frage, wie junge Leute zu derart selbstbewusst vorgetragener, xenophober Weltsicht gelangen und wodurch ein solches Weltbild Bestätigung findet. Einen nicht unerheblichen Anteil hat die russische mediale Berichterstattung, in der „das Wort Tschetschene beinah schon den Status eines Markenzeichens“ hat.

Eine andere Begründung lieferte vorgestern Konstantin Poltoranin, der Pressesekretär des Föderalen Migrationsdienstes Russlands. In einem Interview mit der BBC Russland gab er an, dass „die Zukunft der weißen Rasse gefährdet“ sei bzw.: „Auf dem Spiel steht im Prinzip das Überleben der weißen Rasse, in Russland kann man das spüren.“ Er schlägt deshalb vor, „die Blutvermischung zu regulieren“. Diese „Ideen“ wiederholte er noch einmal auf Nachfragen der Internetzeitung gazeta.ru – selbstredend mit dem Zusatz: „Glauben Sie mir, ich bin weder Nationalist noch Rassist.“ Und das Ganze, weils so schön ist, führt der Pressesekretär noch einmal für den Radiosender „Stimme Russlands“ aus, mit Vorschlägen zu gesteuerter Zuwanderung: Man brauche vor allem hochqualifizierte ausländische Spezialisten…… Ob das für mich auch gilt? Nachdem nun die offiziellen Zahlen zum Zuzug von Ausländern ins Irkutsker Gebiet bekannt gegeben wurden und Poltoranin das Vokabular im Bereich Migration und Zuwanderung ganz offiziell um urrassistische Rhethorik erweitert hat, sollte sich meine Verwunderung über Plaudereien zu Moskau gelegt haben. Ein Kommentator zur Situation in Irkutsk merkt an: „Man kann wegen des ganzen Zustroms hier kaum noch atmen.“Der „Zustrom“ besteht aus 20.500 mehrheitlich befristeten Aufenthaltserlaubnissen im ersten Quartal 2011, bei einer Bevölkerung von 2,5 Millionen im gesamten Gebiet sind das etwa 0,8 Prozent. Aber Rassismus hat ja nichts mit Logik zu tun.

Anti-Terror/Irkutsk/Russland/Wildbahn

In den Fängen des „Krokodils“

Posted by Sascha Preiß on

Anlässlich des Besuches von Präsident Medwedjew in Irkutsk und der begonnenen Suche nach Lösungen für das Drogenproblem Russlands, veröffentlicht der Irkutskblog eine gekürzte Fassung eines Artikels aus der unabhängigen Zeitung Vostochnaja Sibirskaja Prawda. Die Reportage des Autors Bert Kork beschreibt einen Polizeieinsatz und vorangegangene Untersuchungen gegen eine Gruppe von Drogenabhängigen in der Kleinstadt Schelechow. Die Perspektive von Seiten der Beobachtungs- und Kontrollorgane verlässt der Autor dabei nie. Weitergehende Überlegungen zur Größenordnung des Konsums der Droge Desomorphin bzw. „Krokodil“ speziell oder des gesamten Drogenkonsums in Schelechow (und ganz Ostsibirien) stellt der Artikel leider ebensowenig an, wie Betrachtungen zu möglichen Auswirkungen von Drogenabhängigkeit auf die Demographie Russlands oder eine Analyse des Drogenkonsums als soziales und innergesellschaftliches Problem, wie es im Interview mit Evgenij Rojsmann anklingt. Die Reportage gibt allerdings Aufschluss über die öffentliche Wahrnehmung von und den Umgang mit Abhängigen (Tendenz zur Personalisierung, Verengung auf kriminelle Klein- und Problemgruppen, fehlende Persönlichkeitsrechte in der Berichterstattung, Strafvollzug als Lösungsansatz) und ist damit neben der Information über das gravierende Drogenproblem hinaus auch als Quelle zur Berichterstattung über Drogenkonsum im sibirischen Raum interessant.

Der russische Originaltext ist am 12.03.2011 erschienen und hier abrufbar. Die Fotos entstammen ebenfalls dem Artikel und sind als Slideshow hier zu sehen.

In den Fängen des „Krokodils“

Von Bert Kork

Die Paradoxie der Situation von Rauschgiftsucht und Drogenhandel im Irkutsker Gebiet besteht darin, dass, trotzdem Irkutsk in der russischen Statistik zur Drogenabhängigkeit einen vorderen Platz belegt, die Liste der verbotenen Präparate hier erfreulich stabil bleibt. Seit die Drogenwelle im letzten Jahrzehnt unser Land erreicht hat, ist der Genuss von Hydrochlorid-Diazetylmorphin, allgemein bekannt als Heroin, umgangssprachlich auch „Poroshok“ (Pulver), „Bjelyj“ (Das Weiße), „Hexogen“ oder einfach „Gex“ und „Geroi“ (Held) genannt, bei russischen Drogenkonsumenten nach wie vor am beliebtesten. Das ist deshalb erfreulich, da sowohl Ärzte als auch Rechtschutzorgane den Kampf gegen die Drogen angenommen haben – sie kennen die hiesigen Verbreitungswege der Drogenhändler und die Wirkung des Stoffes auf den Organismus gut.

Nach dem ersten Stich wird die Haut schuppig und der Körper fängt an zu faulen. (Das Foto wurde von "Gorod bez Narkotikov" zur Verfügung gestellt.)

Rauchmischungen wie „Dzhiwash“ und „Solej“ sind an Sibirien vorübergegangen (oder erst gar nicht bis zu uns gelangt) – geben Sie zu, Sie haben davon noch nie gehört. Aber im europäischen Russland richten Menschen damit ihren Verstand zu Grunde und sterben daran. Pilze und Halluzinogene sind für uns zu exotisch. Doch die Keime des ‚Neuen Bösen‘ treiben tief in den Osten aus. Meist wird in Berichten auf „synthetische Drogen“ verwiesen – Amphetamine und Ecstasy, die „Drogen der goldenen Jugend“. Vor Kurzem erschien jedoch ein neues Übel: Desomorphin, auch „Krokodil“ genannt. Krokodil kann von jedermann zu Hause aus codeinhaltigen Tabletten in Verbindung mit toxischen Substanzen hergestellt werden. Desomorphin macht die Haut zunächst schuppig, dann „verfault“ der Körper. Krokodil tauchte plötzlich von irgendwoher auf, als niemand es erwartet hatte.

Anti-Terror/Ästhetik/Irkutsk/Russland/Statistik/Ulica

Eine saubere Stadt für den Gesandten Gottes

Posted by Sascha Preiß on

So sauber hat man die Stadt lange nicht gesehen. Gefegte Wege und Straßen, leere Mülleimer, keine parkenden Autos in der Innenstadt. Da wird deutlich, wie eng die meisten Gehwege für Fußgänger sind und dass die Bäume noch immer nicht grünen, trotz seit Tagen frühlingshaften Temperaturen. Aber die Sonne scheint. Und überall stehen Polizisten, alle 100m. Unter der uniformierten Beobachtung läuft der Verkehr heute entschleunigter, weniger gehetzt. Und weil die Wege frei sind (mit Ausnahme der unbeobachteten Seitenstraßen) und alles ruhig rollt, wird die Stadt einen ihrer ganz seltenen unfallfreien Tage erleben. Wenigstens solange der russische Präsident noch in Irkutsk weilt.

Für den Staatsoberhauptsbesuch wirft sich die Stadt in ihren seriösen, zivilisierten Anzug. Ein bisschen aufgehübscht hat man sich, ein paar Straßen werden ausgebessert, Geländer gestrichen, Brücken gereinigt. Obwohl Medwedjew nicht eigentlich die Stadt oder gar deren Bewohner besucht, sondern die örtlichen Institutionen. Ein nächtlicher Ausflug ans Angara-Ufer, begleitet vom Gouverneur des Gebietes, ist der einzige realte Ortskontakt. Kein Menschenbad, kein Händeschütteln oder Winken, kein Fabrik- oder Schulbesuch. Statt dessen in der langen schwarzen Limousine durch die Leninstraße zum Administrationsgebäude, von diesem oder jenem Ausflugsziel am Baikal kommend.

Eher zufällig gerate ich in die Zeit, als die Innenstadt vollständig abgesperrt wird für die Durchfahrt der Präsidentenkolonne. Für etwa eine Stunde kommt im Zentrum nahezu alles zum Erliegen. Die meisten können auf die Behinderungen und Wartezeiten in ihrem Tagesrhythmus liebend gern verzichten. Wenn sie könnten, würden sie alle aufs Land fliehen. Der Busfahrer, dessen Fahrzeug wie alle anderen in den völlig verstopften Nebenstraßen stecken bleibt, verabschiedet mich beim Ausstieg: „Richten Sie Ihre Danksagungen an Präsident Medwedjew!“ Popularität sieht anders aus. Die ist wohl kaum das Ziel der Reise. Das Staatsoberhaupt hat den Innenminister, den Justizminister, die Gesundheits- und Sozialministerin, den Minister für Sport, Tourismus und Jugend, den Bildungsminister und den Minister für Kommunikation und Medien nicht für ein Bad in der Menge mitgebracht. Medwedjew will arbeiten. Unter anderem gilt es, mit vereinten Kräften den Kampf gegen die Drogenabhängigkeit der russischen Jugend aufzunehmen. Ein Thema, das nicht zufällig in Irkutsk auf die Agenda Russlands kommt. Das Irkutsker Gebiet gilt als eine der Hochburgen in Russland mit zweimal mehr Abhängigen als im gesamtrussischen Durchschnitt. In Russland werden nach offiziellen Zahlen mindestens 2,5 Millionen Drogenabhängige vermutet, von denen 70% unter 30 Jahre als sind – mit entsprechend hoher Sterberate. Russland bekommt auf diese Weise ein gewaltiges demographisches Problem. Medwedjew sucht nun, die Kräfte gegen die Abhängigkeit zu vereinen, sieht es als gesamtrussische Aufgabe und fordert zunächst einmal Tests von Schülern, das Sperren von Webseiten mit Anleitungen zur eigenen Drogenproduktion, und denkt über die Einführung einer Zwangsbehandlung anstelle von Gefängnisstrafen für Abhängige und Drogenkonsumenten nach.

Eine Studentin sagt, Medwedjew sei ihr zu kompliziert, sie mag Putin mehr, der ist einfach, volksnah, verständlich. Aber sie nehme auch diesen, denn alle russischen Präsidenten, hieße es ja, wären von Gott gesandt. An der Leninstraße sind einige hundert Menschen versammelt, die meisten einfach Passanten mit irgendeinem Ziel, dass sie nun zu Fuß erreichen müssen. Die einzigen sichtbaren Fahnen sind in den Händen von Mitgliedern der kommunistischen Partei, manch einer schwenkt die Fahne der Sowjetunion. Ansonsten spannungslose Ruhe, Verkehrspolizisten und stetig weiterschaltende Ampeln, rot, grün, rot, in den Seitenstraßen unendlich viele Fahrzeuge. Der perfekte Moment für einen Häuserbrand, die Feuerwehr hat keine Chance. Über der Stadt liegen dunkle Nebel, die Sonne ist auch verschwunden, kalter Wind kommt auf.

Und dann fährt ein Polizeiauto mit Blaulicht entlang, ermahnt die Fußgänger, die Straße nicht mehr zu betreten. Es ist das Zeichen, woraufhin alle ihre Mobiltelefone ziehen und die anrollenden Fahrzeuge filmen. Aus der Ferne nähern sie sich, rund 20 Autos fahren rasch vorbei. Und als sie vorüber sind, gehen die Menschen weiter, dann strömen aus allen Nebenarmen die Verkehrsfluten hervor und donnern durch die Straßen, solange bis wieder abgesperrt wird, wenn des Gesandten Arbeit getan ist und er weiterfährt.