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Ästhetik/Interkultur/Liljana/selbst

Eine Geschmacksfrage

Posted by Sascha Preiß on

Zur Ausgestaltung des Kinderzimmers haben wir ein paar Regale gekauft. Wie fast alle Einrichtungshäuser in Irkutsk bietet auch die „Welt der Möbel“ mehrheitlich einheimisch produzierte Ware zum selbst Zusammenbauen für Kunden mit Geld und Jevro-Geschmack, was bedeutet: Es sollte europäisch wirken, stilvoll sein und dabei teuer aussehen. Wir suchten eher schlichtes Mobiliar und fanden zwischen den bunten Modell-Kinderzimmern zwei Regale mit farbigen Schalen anstelle von Schubfächern. Beim Aufbau zu Hause stellten wir fest, dass wir Ikea-Mobiliar gekauft hatten. In einer Stadt, von der die nächstgelegene Filiale 1600km entfernt liegt, ist das möglicherweise ein Glücksfall. Bislang war uns nur ein Händler bekannt, der einige wenige Möbelstücke von dort importiert und zu überhöhten Preisen anbietet.

Dass sich unser Geschmack, inmitten eines russischen Möbelgeschäftes, inmitten für russische Kunden konzipierten Möbeln, dann doch sehr zielstrebig und ohne echten Widerstand für Ikea-Möbel entschied, erstaunte mich. Ist es nun so, dass unser ästhetisches Empfinden in Deutschland am allgegenwärtigen Ikea-Design geschult wurde, so dass uns selbst in fremder Luft wenig anderes mehr akzeptabel erscheint? Wären wir überhaupt in der Lage gewesen, eine andere Geschmacksentscheidung zu treffen? Ist ein anderes Empfinden jetzt noch lernbar? Möglicherweise irritierte mich auch weniger die Tatsache, dass Emotionen erlernte Handlungen sind, als vielmehr, dass auch wir – sogar unbewusst – in der Fremde die uns bekannte Wohnwelt nachahmen, konservieren. Dass unsere Risikobereitschaft zur Aufnahme nicht-eigener Emotionalität nicht allzu hoch zu sein scheint.

Ist das aber wirklich problematisch?

Liljana/selbst

Die Salbe

Posted by Sascha Preiß on

Der junge Lehrer Alexej Michailovich stieg raschen Schrittes die Treppe hinauf, öffnete schwungvoll die Tür und hatte mit dem Einatmen des ewigen Apothekengeruchs augenblicklich den Namen der Salbe vergessen, die er besorgen wollte. Seine Frau, die ihn zu Hause mit ihrem Töchterchen erwartete, hatte ihm am Nachmittag angerufen und gesagt, er solle auf dem Heimweg noch schnell bei der Apotheke vorbei und die Salbe mitbringen, um dann ab 17 Uhr die süße Kleine am Abend ein bisschen zu betreuen. Alexej Michailovich hatte sich beeilt, rechtzeitig von der Schule loszugehen, keine allzu ausufernden Gespräche mit der dienstältesten Kollegin Vera Nikolaevna über die richtige Pflege und Erziehung von Kleinkindern zu führen (ihre als Befehle vorgebrachten Ratschläge zeugten von großem pädagogischen Wissen und lebenslanger mütterlicher Erfahrung, waren aber leider vollkommen unbrauchbar, seine Frau befolgte sowieso nur das, was sie selbst für das Richtige hielt und das war jeden Tag etwas anderes), murmelte während der gesamten Straßenbahnfahrt den Namen der Salbe vor sich hin – und stand nun in der Apotheke wie ein Schüler, der viel zu viel gelernt hat und vor Anspannung die Prüfung versaut. Er wusste immerhin noch den Anfangsbuchstaben, G oder L, oder was mit D. Ansonsten starrte er blöd in den Raum.

Drei in silberbraune Pelzmäntel gehüllte ältere Damen und doppelt so viele Apothekerinnen wandten sich dem Lehrer zu und schauten ihn an. Nach handgestoppten sieben Sekunden, in denen nichts geschah, wandten sich alle wieder ihrer vorigen Beschäftigung zu, warteten ergeben, führten langwierige Verkaufsgespräche oder machten gar nichts. Alexej Michailovich rührte sich ein wenig, setzte die Mütze ab, unter der er schwitzte, kratzte sich und wandte sich den Glasvitrinen an den Wänden zu. Womöglich war die Salbe darin ausgestellt, manchmal hat man ja Glück und das Gesuchte schiebt sich einem direkt unter die Nase. Als er alle Vitrinen durchgesehen hatte und sich sicher war, die Salbe nicht gesehen zu haben, überprüfte er alles noch einmal und kam zu dem gleichen Ergebnis. In seiner Erinnerung war die Salbe in einer blauweißen Schachtel verpackt, auf der gut lesbar der Name geschrieben stand. Glycerol. Nein. Dynvital. Nein. Laktosan. Nein, ein S kam wohl nicht vor. Die Apothekerinnen und Pelzmanteldamen schielten zu Alexej, wie er vor den Glasvitrinen auf und ab ging und fieberhaft überlegte. Aber er wollte niemanden um Rat fragen. Er hätte nur etwas Unverständliches heraus gebracht, er bräuchte so eine Salbe mit G, L oder D, vielleicht auch M, ziemlich sicher ohne S, die in einer blauweißen Verpackung stecke. Zweifellos wären die Apothekerinnen vor unterdrücktem Lachen ganz grün angelaufen, bis es eine nicht mehr hätte zurückhalten können und sich schließlich alle Anwesenden ausgiebig über ihn lustig gemacht hätten. Dass ein Schüler den Tränen nahe war, weil ein Fehler in der Mathearbeit besonders komisch weil tölpelhaft erschien, dass es die gesamten Klasse erfahren und darüber lachen musste, war das eine. Aber hier fühlte er sich doch sehr unwohl. Er schrieb seiner Frau eine SMS. Als sie nach einer halben Minute immer noch nicht geantwortet hatte, rief er sie an. Es klingelte lange, aber seine Frau antwortete nicht. Alexej spürte, wie seine Anspannung in Ärger umschlug. Er rief noch einmal an, das Rufzeichen ertönte mehr als ein Dutzend mal, aber die Stimme seiner Frau ertönte einfach nicht. Alexej zischte fluchend durch die Zähne. Er atmete ein und aus. Nahm das Telefon, wählte noch einmal ihre Nummer und hielt es sich ans Ohr. Seine Frau antwortete nicht. Er rannte aus der Apotheke, ob die da drin über ihn lachten oder nicht, war ihm egal. Wichtiger war, warum zum Teufel seine Frau nicht antwortete. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten. Sie hatte sich mit der Kleinen hingelegt und schlief. Aber war das jetzt ihre Schlafzeit oder was? Das Klingeln des Telefons hätte sie trotzdem hören müssen. Oder sie hatte es leise gestellt und hörte es nicht. Verfluchte Scheiße, sie soll doch ihr Telefon nicht leise stellen, es könnte etwas Wichtiges sein und dies war jetzt wichtig. Oder sie war auf dem Klo, oder unter der Dusche. Und das Kind, wo war das dann, auch auf dem Klo? Warum musste sie ausgerechnet jetzt duschen, wo er den Namen der Salbe brauchte? War sie gar nicht zu Hause? Sie musste zu Hause sein, sie hatte gesagt, sie sei zu Hause. Alexej spuckte aus. Er hätte einfach nach Hause gehen und nachsehen können, dann hätte er auch den Namen der Salbe gewusst. Die Apotheke lag keine 5 Minuten von der Wohnung entfernt. Aber wozu hat man denn Telefone?? Außerdem kann er doch nicht mit leeren Händen nach Hause kommen und er hätte noch einmal losgehen müssen. Und dazu hatte er eben einfach keine Lust.

Also setzte er sich verärgert in die Sakusochnaja um die Ecke und wartete. Es war 5 nach 17 Uhr, er hätte längst zu Hause sein sollen, aber wenn seine Frau nicht antwortete, wartete Alexej eben so lange, bis sie sich bequemte, ihm den Namen der beschissenen Salbe zu sagen. Er verspürte einen ganz und gar unanständigen Appetit nach Bier.

Keine 10 Minuten waren vergangen, dass er die Apotheke verlassen, das erste Bier genusslos hintergestürzt und die dritte Zigarette angezündet hatte und vor dem zweiten Bier saß, da erhielt er eine SMS. Von seiner Frau. Die Salbe heiße Bepanthen, sie habe die Kleine gestillt, das Telefon habe im Nebenzimmer gelegen, wann er nach Hause komme, Küsschen. Alexej drückte die SMS weg. Küsschen, ja ja. Das hätte sie auch ruhig früher schreiben können. Bepanthen, ein bescheuerter, unmerkbarer Name. Jetzt saß er hier, trank und rauchte erst einmal. Und überlegte, gemächlich. In seinem Zustand konnte er nicht einfach so heimgehen und mit der süßen Tochter spielen, nach Alkohol und Zigarette stinkend, als guter Vater, der er war, verbot sich das von selbst. Da musste seine Frau jetzt durch, er würde eben später kommen und eine Ausrede erfinden. Hätte sie rechtzeitig geantwortet, würde er hier nicht sitzen müssen. Außerdem kritisierte sie ihn sowieso die ganze Zeit und wollte eigentlich alles alleine machen, na das konnte sie jetzt.

Alexej überlegte noch, als das drittes Bier gebracht wurde und sein Telefon klingelte. Seine Frau. Etwas panisch schaute er auf das klingelnde Ding. Er konnte auf keinen Fall rangehen. Eine Ausrede war ihm immer noch nicht eingefallen. Er wusste, dass er nur miserable, leicht durchschaubare Lügen zustande kriegte. Also ignorierte er das Klingeln eben. Nach 5 Minuten hörte es endlich auf. Er beschloss, in der Sakusochnaja auszuharren, bis seine Frau mit der Kleinen schlafen gegangen war, noch mindestens 4 Stunden, eher traute er sich nicht zu ihnen.

Als Larissa Vitaljevna, die Alexej an fröhlichen Tagen zärtlich Clara, Chiara oder Jasna nannte, gegen 1 Uhr in der Nacht aufstand, um nach ihrer Tochter Rosalia genannt das Röschen im Kinderzimmer zu sehen, erkannte sie sofort, warum die Kleine laut weinte und nicht mehr einschlafen konnte: Auf der bunten Wolldecke am Boden, umgeben von allerlei Spielzeug für das Kind, lag Alexej Michailovich, die Salbe in den Händen, schnarchte enorm und lächelte im Schlaf.

Interkultur/Liljana/Russland

Vater Mutter Kind

Posted by Sascha Preiß on

Seit knapp drei Wochen hilft uns Anna mit der Betreuung von Lili. Anna ist die Tochter einer Arbeitskollegin von Jenny, 25 Jahre alt und ihre Tochter Polina ist im September in die Schule gekommen. Anna ist selbst ausgebildete Lehrerin, kann Englisch und Spanisch unterrichten. Aber sie ist momentan arbeitslos. Nicht weil es wirklich so schwer wäre, eine Stelle als Lehrerin zu finden. Es werden zwar sehr wenige junge Lehrer eingestellt und die Zahl der Neueinschulungen in Russland sinkt nach wie vor. Lehrerin zu sein ist vor allem wegen des schlechten Gehalts nicht attraktiv. Etwa 8000 Rubel würde sie verdienen, keine 200 Euro. Als Njanja bekommt sie deutlich mehr. Kinderbetreuung macht ihr auch viel mehr Spaß als Englisch-Unterricht. Und Lili fühlt sich ganz wunderbar wohl bei ihr. Anna hat sich in den ersten beiden Wochen an unsere, für russische Verhältnisse sehr ruhige Wohnung (kein Fernsehgerät!) gewöhnen müssen. Wenn Lili im Tragetuch tief und weich auf ihrer kissengroßen Brust schläft, sitzt sie selbst auf dem Sofa und langweilt sich ein bisschen. Dann schaut sie auf ihr Handy oder telefoniert leise.

Einmal hat sie beim telefonieren geweint. Der Vater ihrer Tochter hat sie vor einiger Zeit verlassen, sie weiß nicht genau, wo er wohnt, aber sie hat über Bekannte so etwas Ähnliches wie Kontakt. Anna selbst ist das unwichtig, sie vermisst ihn nicht. Aber Polina ist namentlich ihr Leben lang an diesen Mann gebunden, sie trägt den Familiennamen ihrer Mutter, jedoch den Vatersnamen, den ihr ein Vater eingebracht hat, den sie nur wenig kennt. Ein Leben ohne Otchestvo ist für Russen schlechterdings unmöglich. Sollte ein Kind geboren werden ohne bekannten leiblichen Vater, wird für die offizielle Namensfestlegung des Kindes auf der Geburtsurkunde kurzerhand ein Vater erfunden, irgendein Michail Alexandrowitsch ist immer möglich. Die Mutter ist für amtliche Belange beinahe unwichtig.

Anna würde sich dafür eigentlich nicht interessieren, wenn nicht vom Vater abhinge, was die Tochter in der Schule tun und lassen darf. Ohne seine schriftliche Einwilligung kann sie z.B. nicht mit zur Klassenfahrt. Und dieses und andere Dokumente bekommt sie nicht von ihm, von Unterhaltszahlungen ganz zu schweigen. Wenn es ihn nicht interessiert, was mit seiner Tochter passiert, hat er alle Möglichkeiten, ihr das Leben zu erschweren. Sie als Mutter muss ihm hinterherrennen und stets aufs Neue um etwas bitten. Die Behörden verlangen die Einwilligung beider Elternteile, ungeachtet der Familiensituation. Normalerweise ließe sich so etwas per Gericht klären, aber das raubt Zeit, Geld und Kraft und verspricht wenig Hoffnung. Viele russische Väter kümmern sich nicht um ihre Töchter, sagte Anna. Aber sie beeinflussen ihr Leben so sehr, dass ihr manchmal die Tränen kommen.

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Liljana/selbst

Sowjetische Kopeken

Posted by Sascha Preiß on

10 Tage dauerte die Baby-Massage, die eine erfahrene und redselige Kinderärztin mit unserem Töchterchen durchführte. Das war uns von einer Freundin empfohlen worden und gehört offensichtlich zum Standard in einer guten russischen Kinderstube, um die Muskulatur der Neugeborenen aufzubauen. Lili mochte das ganz gern, auch wenn sie dabei sehr hungrig wurde und das unüberhörbar deutlich machte. Am letzten Tag drückte uns die etwa 60jährige Masseuse ein sowjetisches 5-Kopeken-Stück in die Hand, das sollen wir mit Pflaster auf Lilis etwas hervorstechenden Bauchnabel kleben, dann bilde er sich schnell zurück. Mit der gleich großen russischen 5-Rubel-Münze funktioniere das nicht, nur mit den sowjetischen Kopeken. Die Ärztin nickte bestätigend gegen unsere Skepsis an und streifte ihre Jacke über. Und wenn wir wieder zur Untersuchung in die Kinderklinik gehen, müssen wir es unbedingt abmachen, die Ärzte dort mögen das nicht so, es ist halt alter Aberglaube. Zwinkernd ging sie zur nächsten Massage.

Liljana/selbst/Taxi

Im Taxi 1

Posted by Sascha Preiß on

Der Fahrer ist unerwartet behutsam. Wir müssen zur Geburtsklinik. Jenny im Fond versucht die Schmerzen der Wehen sich so wenig wie möglich ansehen zu lassen. Sie glaubt nicht, dass es schon Wehen sind, so früh. Wir beide wissen nicht, dass wir in weniger als 5 Stunden bereits Eltern sein werden. Der Fahrer, etwa Mitte 20, fährt so langsam wie möglich und so schnell wie nötig. Selbst auf der breiten und leeren Baikalskaja oder auf dem jetzt wenig befahrenen Staudamm ändert er seine Fahrweise nicht. Jeder Autofahrer in der Stadt, zumal die jüngeren, nutzen solche Gelegenheiten, den Motor auf volle Touren zu bringen. Wo die Stadt üblicherweise im Stau steht, im „Korken“, wie es auf russisch genannt wird. Dieser fährt schwangerengerecht, geräuscharm. Wir sind ihm dafür sehr dankbar.

Irkutsk/Liljana/selbst

The Queen of Sibiria

Posted by Sascha Preiß on

Vor genau einem Monat hats hier geschneit.
Heute ist der King of Pop verstummt.

Mir doch egal.

Und Liljana erst recht.
Die zukünftige Queen of Sibiria?
Gestern abend hat ihre Mama fast noch getanzt, heute Morgen setzten unerwartet die Wehen ein – seit 12.40Uhr ist unser Töchterchen nun in der sibirischen Welt. 7 Wochen zu früh. Aber top fit. Sie will halt auch mal den Baikal sehen.