Yearly Archives

12 Articles

Anti-Terror/Unter Deutschen

Einfach den Finger draufhalten

Posted by Sascha Preiß on

Heute erhielt ich aus Nowosibirsk die Information, die an alle potentiellen Stipendiaten weitergegeben werden soll, dass sich in Kürze die Visabeantragung nach Deutschland für Bürger der Russischen Föderation grundlegend ändern wird. Die zwei wichtigsten Punkte sind:

1. Vor allem für Personen, die aus entfernteren Regionen nach Deutschland reisen möchten, wird die Antragstellung [durch die Ausgliederung der Annahme von Visaanträgen] einfacher, weil im Bereich der kurzen Aufenthalte bis 3 Monate die persönliche Vorsprache in Nowosibirsk wegfällt. […]

2. Ab dem 1. Februar werden […] für nationale Visa, also Aufenthalte über 3 Monate, die Fingerabdrücke der Antragsteller erfasst. Da diese Erfassung ausnahmslos erfolgen muss, kann das Generalkonsulat die bisher eingeräumten Erleichterungen für Stipendiaten leider nicht mehr gewähren. Sie müssen in Zukunft persönlich im Generalkonsulat erscheinen. Die Bearbeitungszeit für Anträge wird sich dadurch jedoch nicht verlängern.

Bedeutet: Für ein Visum bis maximal 3 Monaten Aufenthalt in Deutschland („Schengen-Visum“) kann man den Antrag per Post in Nowosibirsk einreichen. (Und es steht zu hoffen, dass man das Visum dann auch auf dem Postweg zurück erhält.) Alle längerfristigen nationalen Visa sind nur mit umfangreichen biometrischen Daten gültig. Ausnahmen von dieser Regel wird es nur in sehr wenigen Fällen geben, wie etwa auf der Webseite der Deutschen Botschaft in Tripolis / Libyen zu lesen ist (wobei die konkreten Ausnahmeregelungen für Russland noch nicht bekannt sind, aber allzu stark werden sie nicht abweichen).

Im Klartext: Jetzt darf jeder Russe, der mehr als 3 Monate nach Europa fährt und sonst noch nicht im Knast war, endlich auch das Verbrecherstempelkissen anfassen. Einfach den Finger draufhalten, und Europa öffnet sich.

Hintergrund dieser Neuregelung sind das in der europäischen Öffentlichkeit eher unbekannte Visa-Informationssystem VIS, und das Schengen-Informationssystem SIS. Beides sind Regelungen der Europäischen Union zur Vereinheitlichung der europäischen Visapolitik, die bereits seit 26. März 1995 (SIS) bzw 11. Oktober 2011 (VIS) in Kraft sind. Während das VIS die Visa-Vergabe in die EU und den Schengen-Raum vereinfachen soll, sind doch beide Systeme miteinander verknüpft: Denn das SIS ist ein Schengen-weites polizeiliches Fahndungssystem, und das VIS setzt auf das SIS auf, denn es soll vor Visa-Missbrauch schützen, „illegale Migration“ entdecken und „Bedrohungen der inneren Sicherheit der Mitgliedsstaaten“ verhindern. Damit sind SIS und VIS inhaltlich nicht nur verwandt – tatsächlich ist es ein einziges System zur Beobachtung und Kontrolle der EU-Außen- und Binnengrenzen.

Bei SIS und VIS handelt es sich um mehrere aufeinander bezogene Datenbanken, wobei die zentralen Datenbanken in Straßburg / Frankreich angelegt sind. Da das VIS vorrangig an den biometrischen Daten und Fingerabdrücke der in den Schengenraum Einreisenden interessiert ist, gibt es für die Fingerabdrücke eine eigene Datenbank: EURODAC. In ihr werden sämtliche Fingerabdrücke und weitere Daten aller Asylbewerber und sog. Drittausländer, die mind. 14 Jahre alt sind, aufgenommen. Beide Systemen, das ältere SIS und das jüngere VIS, sind immer wieder und sehr deutlich kritisiert worden. Insbesondere der mangelnde Datenschutz und die wenig aussagekräftigen Formulierungen zum Schutz von Persönlichkeitsrechten der erfassten Personen sind hierbei zu nennen. Denn erstens haben sehr viele Behörden und damit Personen Zugriff auf diese Datenbanken (Visumsbehörden, Asylbehörden, Einwanderungsbehörden, Europol, nationale Sicherheitsbehörden), zweitens ist die Abfragebegründung außerordentlich schwammig gehalten (Zugriffe werden gestattet bei Erwartung eines „wesentlichen Beitrags“ zur Arbeit der Sicherheitsbehörden), und drittens gibt es keinerlei rechtliche Grundlage, auf der „sich ein Visa-Reisender über die Abfrage seiner Daten und deren Weiterverarbeitung informieren kann“. Der Europäische Datenschutzbeauftrage Peter Hustinx nennt in seiner ausführlichen Kritik am VIS dieses „die größte grenzüberschreitende Datenbank Europas“ – erhoben werden pro Jahr bis zu 20 Mio Datensätze. Die unabhängige Plattform von Medienorganisationen und Journalisten indymedia.org nennt SIS und VIS und weitere Datenerfassungen durch die Europäische Union das „panoptische Gedächtnis der Festung Europa“ – wobei sich die „Festung Europa“ als Politik- und Wirtschaftsraum nicht nur an der Grenzgestaltung USA-Mexico orientiert.

Mit der nun angekündigten nächsten Stufe des VIS (begonnen im Oktober 2011 für Nordafrika, nachfolgend Naher Osten und Golf-Region, zudem Ostasien) und der Ausweitung der Datensammlung auf Russland, geraten damit also vorerst alle längerfristig nach Deutschland Einreisenden der Russischen Föderation in den Blick der Sicherheitsbehörden und werden polizeilich relevant erfasst. Und weil das natürlich nicht ausreicht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Erfassung in einigen Jahren auf sämtliche Visaanträge ausgedehnt.

Soviel also zur albernen Hoffnung eines visafreien Reiseverkehrs zwischen Russland und der EU.

Falls sich nun aber irgendwelche rundum abgesicherten EU-Bürger zurücklehnen sollten, weil sie das ja alles nicht betrifft und nur der Sicherheit dient: Laden Sie mal ein paar Freunde aus dem visapflichtigen Ausland ein – und schon sind sie in einer „Visa-Warndatei“ drin. Sicher ist sicher: so einfach handelt man sich den Friedensnobelpreis ein.

Und ganz ehrlich: Verglichen mit Europa stellt sich Russland bei seinen Migrationserfassungsmethoden und Grenzsicherungen (Migrationskarte, Registrierung, FSB) wirklich dilettantisch an.

Kulinarisches/Russland

Nüchtern soll das Jahr beginnen

Posted by Sascha Preiß on

Während die Supermärkte sich vor dem Jahreswechsel noch kistenweise Sekt, Wodka und Bier in die Verkaufsräume stellten, beginnt 2013 in Russland mit dem durchaus ernst zu nehmenden Versuch, die Dinge etwas nüchterner zu betrachten. Nicht allein, dass die Preise für Wodka deutlich angehoben wurden. Auch sind in den vielen kleinen Kiosken der Innenstädte seit 1. Januar der Verkauf alkoholischer Getränke verboten.

bier-u-buecher

Diesen Pavillion, in dem sich gern die Intellktuellen des Mikroraions trafen, wird man seit Neujahr vermissen.

Grund für diesen Angriff auf das Russland-Stereotyp schlechthin ist der enorme Alkoholismus, an dem jährlich etwa eine halbe Million Menschen in Russland sterben. Im abgelaufenen Jahr traten mehrere Regelungen in Kraft mit dem Ziel, den Alkoholkonsum einzuschränken. So wurde Werbung für Hochprozentiges und Bier in beinah allen Medien untersagt. Dazu gibt es gesetzliche Versuche, den Alkoholkonsum in Flugzeugen vollständig zu verbieten. Bereits verboten ist der Verkauf von hochprozentigem Alkohol nach 22 Uhr. Und die bereits seit 2010 regional geltende Ausgangssperre für Jugendliche soll insbesondere den Alkoholkonsum Minderjähriger begrenzen. Wobei stark bezweifelt wird, ob diese Maßnahmen tatsächlich greifen.

nuechtern

„Nur ein nüchternes Russland wird groß!“ Beworben wird ein Seminar für neue medizinische Ausnüchterungstechnologien.

Immerhin aber gibt es inzwischen auch Versuche, Nüchternheit jenseits von Alkoholverboten attraktiv zu machen. Insbesondere nationalistische Gruppen betrachten die russische Alkoholsucht als größtes Hemmnis gegen staatliche Prosperität. Auf vkontakte.ru, dem russischen Facebook, gibt es jährlich verschiedene Aktionen, den Jahreswechsel russisch zu feiern, also nüchtern und am Neujahrstag mit einem ordentlichen Skilanglauf. Und Gennadi Onishchenko, der Vorsitzende der russischen Verbraucherschutzbehörde, der nicht nur am geplanten und sehr weitreichenden Rauchverbot in Russland beteiligt ist, warb vor dem Jahreswechsel für ein alkoholfreies Fest im Kreis der Familie.

Wobei das neue Jahr wenig hoffnungsvoll begann: am Abend des 1.1.2013 wurde ein junger Mann auf dem zugefrorenen Irkutsker Stausee von einem betrunkenen Autofahrer überfahren und starb.