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Russland/Sprache

Ostap und der russische Humor

Posted by Sascha Preiß on

Das russische Verhältnis zum Sport ist, nicht anders als woanders auch, immer auch von einem gewissen Humor geprägt. Umso schöner, wenn der Name eines Sportlers dankbarer Anlass für den einen oder anderen Scherz ist, um der ganzen Sache den heiligen Ernst auszutreiben. Beim gestrigen Sieg der deutschen Mannschaft über die dänische schoss bekanntlich Lars Bender den entscheidenden Treffer. Der von der Zeit als EM-Tweet des Spiels gekürte Twitter-Post ist diesbezüglich ein netter, einfach zu erfassender Kalauer und ansonsten nicht weiter interessant. Russischer Humor hingegen ist meist ein für Außenstehende nicht ohne Weiteres zu durchdringendes Geflecht aus Selbstreferenzen, vorrangig Bezüge zu russischer und sowjetischer Hoch- und Populärkultur herstellend.

Der Sportreporter Igor Timashev des russischen Fernsehens hatte gestern den Auftrag, das Parallelspiel der EM-Gruppe B, Portugal-Niederlande, zu beobachten und zu kommentieren, weshalb er vom deutschen Einzug ins Viertelfinale unmittelbar nicht viel mitbekam. Dennoch hat er einen minimalen Spielbericht verfasst, in dem er gleich zu Beginn mitteilt, das Spiel aus benannten Gründen gar nicht gesehen zu haben. Der Rest des Absatzes ist eine sehr russische Anekdote: Der für das Deutschland-Spiel eingeteilte Reporter weile nämlich derzeit in der Ukraine, genauer: in Odessa. Und als Igor erfuhr, dass den deutschen Siegtreffer ein Lars Bender erzielt habe, fragte er seinen Kollegen sofort, ob er sicher sei, ihn nicht mit Ostap verwechselt zu haben; möglicherweise sei er von den Wellen des Schwarzen Meeres angespült worden.

Wenn man jetzt keine Ahnung hat, wer oder was mit „Ostap“ gemeint sein könnte, dann kennt man sich einfach in der russischen Literatur nicht aus. Ostap Bender ist die Hauptfigur der beiden Romane „12 Stühle“ und „Das goldene Kalb“ von Ilja Ilf und Jewgenij Petrow, die in der Sowjetunion mehrfach verfilmt wurden und kulturelles Allgemeingut geworden sind. Der zweite Roman spielt hauptsächlich in „Tschernomorsk“ (eine ironische Version von Odessa). Ostap Bender ist der Typ des frühsowjetischen Hochstaplers und Kleinkriminellen und versucht in beiden Romanen mit allerlei Gaunereien an viel Geld zu gelangen, was selbstverständlich scheitert. Die Romane sind eine Parodie auf die Zeit der 1920er Jahre, sowohl Bücher als auch Verfilmungen sind außerordentlich populär und ein Fundus für groteske Zitate. In Russland auf Ostap anzuspielen ist in etwa vergleichbar, wie in Deutschland einen Loriot-Sketch zu zitieren. In diesem Kontext bedeutet die Anekdote von Igor Timashev also etwas wie: Mein Kollege hat sich übers Ohr hauen lassen.

Nun, wir wissen es besser. Was das Ausscheiden der Sbornaja bei der EM betrifft, so wird das (noch) nicht zum Anlass für so leichtfüßige Späße genommen. Ein Bekannter gestand mir heute morgen etwas zu laut, dass er sehr froh über das Aus der russischen Mannschaft ist, denn jetzt könne er endlich wieder ruhig schlafen, weil die Kneipe unter ihm nun keine Live-Übertragungen mehr anbiete und also auch keine zu laut jubelden Fans ab nachts halb 4 mehr anlocken könne. Wobei ich den Eindruck hatte, dass er, wenn die Spiele für sibirisch annehmbare Zeiten ausgetragen worden wären, ebenfalls liebend gern in der Kneipe gesessen und gejubelt hätte. Wenn ich etwas wacher gewesen wäre, hätte ich ihm wohl vorschlagen können, dass man sich jederzeit zum Hausmeister umqualifizieren lassen und z.B. in der Kneipe unter ihm auch mal aufräumen könne. Aber so ein Ostap-Bender-Zitat fällt einem der russischen Populärkultur Außenstehenden nicht mal so eben ein – und wer weiß, ob er es dann auch tatsächlich so verstanden hätte, wie ich mir das gewünscht hätte haben können. Also sage ich besser gar nichts. Russischer Humor ist nach wie vor ein nicht ohne Weiteres zu durchdringendes Geflecht …

Das Wetter/minimal stories

minimal story 21

Posted by Sascha Preiß on

Die beiden jungen Apothekerinnen haben bei dieser sibirischen Sommerhitze wenig zu tun. Schon mehrere Tage wurde es über 30° warm und auch durch diesem Sonntag Nachmittag weht kein Lüftchen. Die übliche Arznei-Kundschaft, 40-70jährige, die sich über handgeschriebene Einkaufslisten mit Schmerz- und Heilmittelchen versorgen, bleibt fern. So ist der junge Mann, der eine Großpackung Windeln kauft, beinah schon ein Ereignis, den die beiden Frauen neugierig und argwöhnisch zugleich betrachten. Als er nach weiteren Einkäufen erneut an der Apotheke vorbeikommt, stehen die beiden gelangweilten Frauen vor dem Laden. Eine verdrückt sich in die Ecke des kleinen Vorbaus und versucht unübersehbar, die Bierflasche unter verschränkten Armen zu verstecken. Als ihr selbst klar wird, dass dies nur unzureichend gelingt, wendet sie sich verschämt der Wand zu. Das Bild einer sich am Nachmittag während der Arbeit betrinkenden Apothekerin ist ihr offenkundig peinlich. Der Mine ihrer Kollegin ist dazu keinerlei Kommentar zu entnehmen.

Irkutsk/Russland/Ulica

Mit dem Bus durch die Stadt

Posted by Sascha Preiß on

Nach dem hochverdienten Sieg der Sbornaja gegen die Auswahl Tschechiens gestern Nacht sah man sehr vereinzelt Autos begeistert hupend und fahnenschwenkend durch die Stadt fahren. Die EM 2012 wird, wie auch alle vorherigen Europameisterschaften und die meisten Weltmeisterschaften, in Irkutsk zwar wahrgenommen – es gibt tatsächlich Cafés und Kneipen, die wenigstens die russischen Spiele live ab 03.45 Uhr zeigen -, aber Fußball ist in Sibirien kein Sport, der die Leute von den Sitzen bzw aus den Betten reißt, selbst wenn es um die Nationalmannschaft geht. Zumal die ja zu einem Drittel aus Spielern von Zenit St. Petersburg besteht (was die tageszeitung in eine sehr hübsche Titelzeile umsetzte).

Statt also patriotische Trikolores an den irkutsker Autos kann man seit inzwischen einem Monat ein ganz anderes Gefährt patriotischer Prägung durch die Stadt fahren sehen: den Stalinobus.

Busaufschrift: "Ich möchte das Glas erheben auf die Gesundheit des sowjetischen Volkes, vor allem auf die des russischen Volkes." Marschall J. Stalin beim Empfang im Kreml am 24. Mai 1945

Der Bus in all seiner Pracht bezieht sich selbstverständlich auf den Großen vaterländischen Krieg und den Tag des Sieges der Sowjetarmee über das nationalsozialistische Deutschland. Die Würdigung für diesen außerordentlich verlustreich erarbeiteten Sieg erfährt ausschließlich der verkitschte Oberbefehlshaber der Roten Armee, während die offiziellen Feierlichkeiten allgemein das russische Volk und die Verdienste der Rote Armee (Veteranen) ehren. Irgendwelche „Verfehlungen“ des Diktators (brutale Kollektivierung der Landwirtschaft, rücksichtslose Industrialisierung, Massenterror und GULag) bleiben ausgeblendet für den Glanz des Sieges. Stalin als „problematische Figur“ der russischen Geschichte spielt im offiziellen Gedenken (und bislang auch im öffentlichen Raum) keine Rolle. Indes: Er wird offenkundig wieder salonfähig.

Der Bus bzw das käufliche Busdesign fährt seit 2010 durch Russland. Initiiert von einigen Enthusiasten aus St. Petersburg – hoffentlich nicht aus dem Umkreis von Zenit -, kann man für jede beliebige Stadt und beinah jeden beliebigen Bustyp die Plakatierung erwerben. Der „Bus des Sieges“ ist recht modern im Internet breit aufgestellt: via Facebook, Twitter, vKontakte und diverse Blogs wird die Existenz des Busses russlandweit dokumentiert. Allerdings ist die Beliebtheit dieses Werbeprojekts in Sachen russischer Geschichtsrevanchismus derzeit nicht überzubewerten: Gerade einmal 65 Twitter-Follower, 104 „Gefällt-mir“-Bekenntnisse bei Facebook und 651 vKontakte-Mitglieder (dem innerrussischen Facebook-Klon) lassen momentan keine Massenbewegung vermuten. Und durchaus gibt es neben erwartbaren Verherrlichungen des „Generalissimus“ (Frau Afanassjewa etwa meint, dass „mit diesem Namen die ruhmreichste Epoche unserer Geschichte“ verbunden sei) auch Kritik an der Aktion (Herr Stomachin nennt die Initiatoren „stalinischen, rotfaschistischen Abschaum“). Dennoch ist gegenwärtig eine zunehmende Positivdeutung Stalins zu beobachten. Auch die Kommunistische Partei wirbt seit den Präsidentschaftswahlen ganz offen mit ihm, auf der Startseite des Webauftritts ist das nach Stalin benannte „Antikorruptionskomittee“ verlinkt. Mit entsprechender Härte sollen dort die Verfehlungen der gegenwärtigen politischen Elite Russlands aufgedeckt und, vielleicht, verfolgt werden: Ziel kann nur ein (stalinistisch) sauberes Russland sein.

Auch hier gibt es von keiner Seite hörbaren Protest. Wie auch: Gefragt, wer Stalin denn so war und was er so gemacht hat, wird man z.B. von Schülern und Studierenden nicht allzu viel in Erfahrung bringen. Weshalb es da auch nicht weiter ins Gewicht fällt, dass etwa zu Beginn einer russlandweiten Schüler-Olympiade für Fremdsprachen die russische Hymne gespielt wird und diese mit einem Film zur russischen Geschichte bebildert ist, in dem von Lenin bis Putin/Medwedjew sämtliche Staatschefs bzw Präsidenten der Sowjetunion und Russlands in einer völlig selbstverständlichen Ahnengalerie zu sehen sind. Kontinuität und Fortschritt, oder auch Stabilität und Entwicklung (Wahlslogan von Einiges Russland) – eine Programmatik, die mit einem positiv-patriotischen, kritiklosen Bezug zur Sowjetunion ihre eigene Bedeutung erhält.

Für den Busfahrer ist es nichts weiter als ein Arbeitsplatz. Wohin die Reise geht und wie lange er noch das jahrelang aus der Öffentlichkeit verschwundene, aber liebevoll geheiligte Potentatenabbild durch die Stadt fahren muss, ist ihm unbekannt. Meine Befürchtung: Weit über die Dauer der EM hinaus, mag die (St. Petersburger) Sbornaja noch so eindrucksvoll auftreten – der (St. Petersburger, aber auch Moskauer) Umgang mit Stalin wird sich wohl als deutlich zählebiger erweisen. Perspektivisch die Einschätzung von Stefan Creuzberger: „Stalin symbolisiert den Aufstieg der UdSSR zur Welt- und Supermacht – ein Status, den […] die gegenwärtige Führung in Moskau wieder zurückerlangen möchte.“ (Sehr anregend der Aufsatz „Stalinismus und Erinnerungskultur“. In: APuZ 49-50/2011, S. 42-47, ebenso die Bücher „Stalin. Machtpolitiker und Ideologe“ (Creuzberger), „Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus“ (Jörg Baberowski) und „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ (Baberowski).)