Kabinettstückchen

Jenny war heute, wie auch schon die vergangenen und die kommenden Tage, beim Gynäkologen, eine Untersuchungsreihe im Nachvollzug von Toljas Geburt. Die Ärzte des Geburtshauses, wo er zur Welt kam, hatten nämlich u.a. übersehen, dass die Nachgeburt mehrheitlich in ihrem Körper verblieben war, trotz heftiger Schmerzen und starken Blutungen. Das wurde beim Stillen weniger, setzte aber nach 6 Wochen wieder ein, weshalb Jenny am Freitag mit Blaulicht zur Gebärmutteroperation gefahren wurde und nach drei Tagen wieder nach Hause durfte. Soweit so humorlos.

Die Nachuntersuchungen empfindet sie inzwischen als durchaus unterhaltsam, weil es sie an eine 90er-Jahre-TV-Serie erinnert. Zunächst einmal gibt es für alles ein eigenes Zimmer mit eigenem Arzt: Die Spritzen mit den Antibiotika werden z.B. im prozedurnij kabinet verabreicht. Das ist ein kleiner, gräulich gestrichener Raum ohne überflüssige Einrichtung, da erwartet sie der Arzt vor der Tür, ein kleiner Mann mit schütterem Haar, in rosa Sandalen und glitzernder Krawatte unter dem Kittel. Sie geht hinein, der Arzt leicht gekrümmt und mit den Händen in den Manteltaschen hinterher, sie zieht die Hose runter, er macht die Tür nicht zu, und dann beugt sie sich eben nach vorn und erwartet Spritze Nr.1 in den Hintern, in den ihr alle im Gang Vorbeikommenden anerkennend hineinblicken können. In 15 Minuten die zweite, sagt der Arzt, und nachdem Jenny sich angezogen hat, meint er: Ach kommen Sie, machen wir gleich die zweite. Und was ist mit den 15min Pause, fragt Jenny. Ach, winkt er ab, kakaja rasniza, das macht doch keinen Unterschied.

Anschließend geht sie ins smotrennij kabinet, das eigentliche Untersuchungszimmer mit der eigentlichen Gynäkologin. Die empfängt sie im Vorraum mit einem glockenhellen Singsang: Gehen Sie doch schon hinein, legen Sie sich doch schon auf den Stuhl, und lassen Sie sich von den anderen einfach nicht stören. Denn das smotrennij kabinet wird praktischerweise nicht nur von einem Arzt genutzt, so viel Platz ist selbst in den modernen Kliniken einfach nicht vorhanden bzw auch gar nicht notwendig. Der andere Arzt, streng gekämmt, in geblümten Hemd und grauer Anzughose, führt gerade ein ernstes Gespräch mit einer jungen Frau um die 20 Jahre, von der er wissen möchte, warum sie sicher ist, dass sie das sich in ihr entwickelnde Kind nicht haben möchte. Sie antwortet: Weil ich nicht will. Da nickt der Arzt, notiert sich was in ein Heftchen und sagt noch etwas über die Schwere des Eingriffs und dass es möglich ist, dass sie nach der Operation keine Kinder mehr bekommen kann. Aber die junge Frau in silbernen Ballerinas, knallenger Jeans und tief ausgeschnittener graugoldener Bluse zuckt nur kurz die Schultern, das würde schon nicht passieren. Dann unterschreibt er etwas, macht ein Handzeichen, die junge Frau steht entschlossen auf und schreitet hinaus. Jenny hat sich derweil auf den Behandlungsstuhl gelegt, Hose runter, Beine breit, die Tür hat sie zugemacht. Da fliegt auch die Ärztin herein und fragt ihren Kollegen munter wie nach dem Genuss eines riesigen Stücks Pfirsich-Creme-Torte: Na, wieviele Abtreibungen haben wir denn heute schon? Drei, trällert der Arzt und begibt sich auf den Weg zu seinem Stück Kuchen oder der Zigarette zwischendurch.

Und wenn die Untersuchung der Gebärmutter fertig ist, muss Jenny noch ins fisio-kabinet. Dort bekommt sie eine kurze Elektroschockbehandlung des Unterleibs, damit die Durchblutung der Gebärmutter angeregt wird, auf dass diese sich nach der Entfernung der Plazenta-Reste selbst reinige. Dieses Kabinett ist ein großer trüber Saal, in dem sich Frauen und Männer zugleich aufhalten, alle in Unterwäsche, denn Gynäkologie und Urologie sind in direkter Nachbarschaft, und erwarten ihre Elektroschocks, die Frauen meist in der Bauchregion, die Männer meist an den Hoden, wozu auch immer alle diese Behandlungen dienen. Jenny immerhin darf auf eine Liege hinter einem Vorhang, dann bekommt sie von einer stummen, aber ihr nett zuzwinkernden Ärztin zwei Metallplatten angelegt und kurz darauf kribbelt ihr gesamter Bauch, und das hält dann bis nach Hause an. Die zwinkernde Ärztin macht noch ein kleines Häkchen in ihr Behandlungsheft und sagt, freudig erregt: Bis morgen!, als verabredete sie sich mit ihrer Lieblingskundin zu Friseur und Kuchen.

Dann setzt sich Jenny kurz in einen Gang, in weißes Leuchstofflicht genebelt, an den Wänden Zeichnungen von Kindern zum Thema „Arzt“, und sammelt sich und ihre Sachen. Und nach einem kurzen Seufzer und einem freundlichen Nicker des an ihr vorüberfliegenden Arztes aus dem smotrennij kabinet, ist diese Folge der TV-Serie schon wieder vorbei. Doch Fortsetzung folgt bereits morgen, da darf sie schon wieder im Real-Life-TV mitspielen, die gut gelaunten Ärzte erleben und Abtreibungen zählen, auch wenn sie viel lieber drauf verzichtet und zu Hause den kleinen Tolja gestillt hätte. Aber ist ja nicht mehr lange, nur noch ein paar Tage, hoffentlich.


Sascha Preiß

http://www.pselbst.de

siehe http://www.pselbst.de/irkutsk/uber-mich/

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  1. Irkutskblog » Blog Archiv » Der 800€-Pass oder Wie man ein mit Formularen und Anträgen erfülltes Leben führen kann
    [...] könnte, wurde großzügig ignoriert. Die Sache verkomplizierte sich im Mai, als Jenny in die Notaufnahme musste, da Hebammen, Chefärztinnen und sonstige Würdenträger unserer Geburtsklinik irgendwie die [...]
  2. Der 800€-Pass oder Wie man ein mit Formularen und Anträgen erfülltes Leben führen kann – Irkutskblog
    […] könnte, wurde großzügig ignoriert. Die Sache verkomplizierte sich im Mai, als Jenny in die Notaufnahme musste, da Hebammen, Chefärztinnen und sonstige Würdenträger unserer Geburtsklinik irgendwie die […]

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