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Interkultur/minimal stories/Russland

minimal story 16

Posted by Sascha Preiß on

Auf dem Rückflug von einer Dienstreise. Neben mir ein redseliger Patriot, der dem Fremden von Russland erzählt: Es gibt Geschichten über freudenvolle Wodkaexzesse, die Frage, ob man in Deutschland auch in Dollar bezahlt, und die unwiderlegbare Behauptung, dass russische Mädchen mit Abstand die Schönsten sind. Der Mann ist älter und unverheiratet, er schwärmt für die junge Stewardess und die Schönheit in der Komsomolskaja Prawda. Zwei Reihen hinter uns steht der Pilot aus einem Gespräch mit einem Fluggast auf, er müsse jetzt doch mal die Landung einleiten, das sei überfällig. Mein monologischer Gesprächspartner begeistert sich und brüllt aus vollster patriotischer Kehle mir ins Ohr: „Das ist Russland, nur keine Panik! Wenn du zurückkommst nach Deutschland, musst du unbedingt erzählen, dass hier das Land der Wunder ist: Man asphaltiert zuerst die Straße, und dann legt man die Rohre.“

Ästhetik/Interkultur/Russland

Ein typisch deutsches Tor

Posted by Sascha Preiß on

Sportliche Wettbewerbe zwischen Nationen haben ihren ganz besonderen Reiz. Es ist die Zeit des folkloristischen Patriotismus, nationale Klischees und Stereotypen sollen und dürfen hemmungslos ausgelebt werden. Für Fußballspiele internationaler Wettbewerbe kleiden sich Tausende in Trachten gemäß Angebot der regionalen Sportartikelhersteller und schminken sich ihre Landesflaggen auf alle möglichen Körperteile. Und weil die Fußballspieler auf dem Rasen als Nationalmannschaft auflaufen, ist ihr Spiel selbstverständlich stets Ausdruck eines (sportlichen) Nationalcharakters: die Kultur eines Landes offenbart sich immer und überall.

Das jedenfalls muss sich der russische Kommentator für die Live-Übertragung des Qualifikationsspiels Türkei – Deutschland am 7.Oktober 2011 in Istanbul gedacht haben. Seine Beschreibung und Analyse des von Thomas Müller erzielten 2:0 ist eine wunderschöne Definition dessen, wie Deutschland von Russland aus gesehen wird: Mit Bewunderung, aber ohne Begeisterung, weil Deutschland eine Aura klinischer Strenge umgibt. Während der Angriff, der zum zweiten deutschen Tor führt, vorgetragen wird, philosophiert der Kommentator darüber, was Joachim Löw am heutigen Spiel seiner Mannschaft alles nicht gefallen könnte. Doch als es plötzlich 0:2 steht, folgt die Analyse, gleichsam eine Epiphanie deutschen Nationalcharakters.

Der Wortlaut des Kommentars ab Sekunde 16 im Video: „Ein typisch (reines) deutsches Tor, wieder einmal. Wobei das in erster Linie nicht nur auf die Ausführung des gesamten Angriffs zutrifft, den haben die Deutschen wieder einmal ziemlich frisch vorgetragen, so wie die deutsche Auswahl derzeit spielt. Aber dann der letzte Schuss von Müller – das ist ein typisch deutsches Tor. Ohne irgendwelche Effekte, ohne besondere zusätzliche…. wie kann man das sagen… Schönheiten, oder so. Einfach Müller, ganz exakt, und mit dieser chirurgischen Genauigkeit rollt der Ball ins lange Eck.“

Ich finde das einen nachahmenswerten Ansatz für die Entwicklung der Sportreportage. Keine Analyse nach sportlichen Gesichtspunkten, sondern ein Hohelied auf nationale Charakteristika. Sollte sich die russische „Sbornaja“ für die EM 2012 in Polen und der Ukraine qualifizieren, wonach es derzeit aussieht, werde ich mich also bereits jetzt auf Reportagen freuen wie: „Ein Tor wie im Wodkarausch! Eine klassisch russische Ballstafette, matroschkahaft und balalaikaleicht dargeboten, ein wütend tänzelnder und kaum mehr nachvollziehbarer Weg durch die russischen Instanzen. Und der Abschluss von (Arschawin z.B.) gelang herrlich besoffen und voll des Glanzes orthodoxer Zwiebeltürme…..“

Russland

Staatsbürgerkunde in 13 Sekunden

Posted by Sascha Preiß on

Die Reaktionen auf die Präsidentschaftsrochade Putin-Medwedjew sind national und international alles andere als begeisternd. Auch im näheren Freundeskreis ist wenig Euphorie und Aufbruchstimmung zu spüren. Der Hersteller dieser seit 2008 in Russland recht populären Kühlschrankmagneten wird sich hingegen seines Geschäftes weiterhin erfreuen können. Prägnanter als auf diesem kleinen Stück Plaste ist das seit vier Jahren existierende und weitere sechs (vermutlich zwölf) Jahre geltende politische System Russlands kaum je zusammengefasst worden.

Ulica

An der Haltestelle

Posted by Sascha Preiß on

In der Griboedov-Straße wurde nun endlich der staubige Sandweg geteert. Die Straßenbahn hielt an der Haltestelle Zhukovskovo, direkt vor dem Holzhaus Nr. 38. Die mittlere Wagentür öffnete sich, eine schlanke Frau mit zwei Plastebeuteln vom Markt stieg aus, stolperte und fiel von der zweiten Stufe ungebremst und volles Rohr auf die Fresse, direkt mit ihrem von Schreck geöffnetem Mund auf den noch dampfenden schwarzen Asphalt. Ein paar Minuten blieb sie reglos so liegen, dann rappelte sie sich auf und ging fort, im Asphalt steckte ein abgebrochener fauliger Schneidezahn. Die nächste Straßenbahn hielt und erneut stolperte beim Ausstieg aus der Mitteltür eine hochgewachsene schlanke Frau mit zwei Beuteln voll Gemüse vom Markt und krachte volles Rohr mit der Fresse auf den dampfenden frischen Asphalt. Nach einigen Minuten hatte sie sich aufgerappelt und ging ohne den größten Teil ihres linken oberen, kariösen Schneidezahns, der im Asphalt steckte, von dannen. Als sich bei der nächsten Bahn die Türen öffneten, stiegt niemand aus. Wohingegen bei der übernächsten Bahn aus der vorderen und der hinteren Wagentür je eine junge Frau fielen und mit der Fresse voran volle Kanne auf den Asphalt knallten, neben ihren Einkaufstüten minutenlang liegen blieben und dann mit abgebrochenen, angefaulten Zähnen weitergingen. Aus der nächsten Bahn fielen eine ältere Frau und zwei junge dürre Männer heraus, die Frau eine modische Pirouette drehend, da sich eine ihrer Einkaufstüten an einer herrausstehenden Schraube verfangen hatte. Alle drei krachten sie richtig heftig auf die Fresse, dass man ihre modrigen Kiefer brechen hörte, und blieben eine Weile so liegen. Aus der nächsten Bahn stolperten aus allen drei Türen insgesamt sieben Personen und donnerten mit ihren Fressen volles Rohr auf den Asphalt, so dass dann schon mehr Zähne im Asphalt steckten, als die Straßenbahnschaffnerin selbst noch hatte, als sie ebenfalls ausstieg und sich die Zigarette ins Maul steckte, dann aber – krach! – mit der Fresse voran auf den Asphalt bretterte. Sie verlor zwei Goldkronen. Aus der Bahn auf der Gegenrichtung knallte ebenfalls ein Mann ganz exakt auf die Fresse, obwohl er gar keine Vorderzähne mehr hatte und dort gar nicht asphaltiert worden war, sondern nur einige Müllkübel überquollen, zwischen denen der Mann aber nicht weiter auffiel. Die nächste anrollende Bahn war mir inzwischen völlig egal, daher rief ich Kolja an und schlug vor, am Markt ein paar Bengels ein paar Rubel abzunehmen, die wir dann gehörig auf den Kopf hauen wollten.

Wildbahn

Ein Gast im Hausflur

Posted by Sascha Preiß on

Vorhin bin ich wieder einmal nach Hause gekommen. Auf dem ersten Treppenabsatz saß ein junges Kätzchen, sah mich an, ob es von mir irgendetwas zu erwarten hätte. Sah mir nach. Auf dem Treppenabsatz vor unserer Wohnungstür eine kleine Schale mit Milch und etwas Futter. Daran kann ich mich zukünftig beteiligen, ansonsten bin ich meiner Katzenhaarallergie ausgeliefert und werde das Tierchen leider nicht adoptieren können.

Dies ist ein Déja-vu. Damals in Kasachstan traf ich schon einmal ein Kätzchen in meinem Treppenhaus an. Womöglich sind herrenlose Katzenjungen nichts Ungewöhnliches in russischen Treppenhäusern, auf jeden Fall werden Tiere gut versorgt. Das Kätzchen und die Gesänge der Nacht hielten mich damals wach. Die folgende Geschichte ist das Resultat dieser Heimkehr von vor sechs Jahren. Ich gehe davon aus, diese Nacht ruhiger verlaufen wird.

Nachtgedanken bei gleißendem Sonnenlicht

Ich bin nach Hause gekommen. Im Hausflur fand ich eine weiße Plastikschale umgekippt vor, ein paar Möhren, Grünzeug, Wasser. Für wen denn das, hier im unwohnlichen Hausflur. Ich erinnerte mich, vor kurzem hatte ein obdachloses Paar vor meiner Tür übernachtet. Aber das war doch zu abwegig, ihnen eine Plastikschale mit Gemüse hinzustellen. Ich ging weiter, die Treppe hinauf. Aus einer dunklen Ecke blickte mich mit enormen Augen ein ganz kleines Kätzchen an, wenige Wochen oder nur Tage alt. Es rührte sich nicht, saß ganz klein in seiner Ecke und schaute nach mir. Ich zwinkerte ihm zu, als erwartete ich, dass es dadurch zu einem Lächeln verführt würde. Natürlich keinerlei Regung. Wir sahen uns noch eine Weile an, dann ging ich weiter. Ich hatte keine Lust auf eine streichelnde Annäherung. Mag es noch lange in seiner dunklen Ecke sitzen und meinen Schritten ängstlich lauschen, bevor es zum Futternapf zurückkehrte. Ich schloss die Wohnung auf, hinter mir wieder ab. Setzte mich. Schaltete den Laptop ein. Tat dieses und jenes. Musik, 5’nizza novyj djen, immer und immer wieder. Schrieb Emails. Versuchte einen Film aus einer anderen Wirklichkeit, einer sorgfältig verborgenen und beinah heilen Welt. Keinerlei Müdigkeit. Schlafen konnte ich nicht, so spät es auch immer war. Ich war nach Hause gekommen und fand ein Kätzchen in einer vorborgenen Ecke. Dann ging ich doch schlafen, den Film sah ich nicht zu ende. Ich legte mich in die Dunkelheit, wälzte mich unter der warmen Decke. Presste das Kissen an mich. Drehte mich hin und her. Aus purer Gewohnheit wohl muss ich eingeschlafen sein. Ich erwachte, es war noch immer dunkel. Ich hatte erwartet, dass ich in der Nacht erwachen würde, wenn ich mich schlafen legte. Ich warf mich hin und her. Presste das Kissen an mich. Ich kam nach Hause und konnte nicht schlafen. Wie spät es auch immer sein mochte. Ein Vogel rief sein lautes, monotones Lied. Eine große Terz aufwärts, immer und immer wieder. Bis auf diesen Vogel schien die Nacht ruhig zu sein. Ich drehte mich auf die andere Seite, das Kissen an mich gepresst, die Decke mit den Beinen immer wieder zurechtschiebend. Ohne Decke war es zu kalt, mit zu warm. Der Vogel rief. Ein Auto fuhr. Ich hörte deutliche Lustschreie einer Frau. Der Hinterhof war groß und bot nachts viel Platz für intensive Geräusche. Der Vogel rief unbeeindruckt weiter. Die Frau schrie. Ich hörte beiden eine Weile zu. Ich überlegte, aus welcher Wohnung die Lustschreie kommen könnten und wo der Vogel sitzt. Irgendwo entfernt hob ein Hund zu bellen an. Ein seltsames Terzett aus Rufen. Die Tiere kontinuierlich, die Frau immer mal wieder, mal lauter, mal leiser, mal länger, mal kürzer. Plötzlich eine Männerstimme, mahnte die Frau in ihrer Lust zur Nachtruhe. Danach eine relative Stille, nur Vogel und Hund. Dann ein neuer Ton, ein Schnarchen drang durch ein Fenster, leise, aber deutlich. Bald setzte auch die Frau wieder ein. Ein zweiter Vogel variierte das Lied des ersten, der daraufhin aufgab. Ich warf mich hin und her. Arbeitete mich an der Decke und meiner richtigen Liegeposition ab. Presste das Kissen an mich. Ich war nach Hause gekommen, sie hatte mir gegenüber gesessen. Ihre Gedanken waren so intensiv wie traurig. Ich war erstaunt, dass ich ihre fremde Sprache verstand, sie aber überhaupt nicht. Ich war nach Hause gekommen und hörte den Nachtgeräuschen zu. Frau, Vogel, Hund. Der Schnarcher war verstummt. Derb setzte mein Kühlschrank ein, brachte den spärlichen Inhalt wieder auf Kühlmaß Stufe 4. Im Hausflur konnte man Schritte vernehmen. Der Vogel rief unaufhörlich, der Hund bellte immer weiter. Die Frau schrie ihre Lust in die Nacht. Im Hinterhof gab es bald darauf einen energischen Wortwechsel, die Frau ließ ihre Lust leiser werden. Ich drehte mich zur Seite. Der Kühlschrank beendete seine Kühlungsrunde. Ich war nach Hause gekommen und dachte an die Augen der Nacht. An das schneeblasse Gesicht ihrer Gedanken. Ich hörte in die hinterhöfliche Nacht. Ich war nach Hause gekommen und fand eine weiße Schale und ein Kätzchen. Ich schloss die Wohnung auf und hinter mir zu. Ich war nach Hause gekommen und setzte mich. Machte dies und jenes. Ich war nach Hause gekommen und wie erwartet wieder erwacht. Ich war nach Hause gekommen und begann immer wieder von vorn, alles aufzuzählen. Ich presste das Kissen an mich. Der Vogel rief, ein anderer antortete endlich, ein anderes Lied. Ich lauschte in die Nacht. Ich drehte mich zur Seite. Ich träumte, wie in einem Haus aus Pappe, dessen Räume ich nachts wechselte, mich plötzlich eine alte Bekannte küsste, obwohl ich das nicht wollte. Dann bin ich mit einem Freund durch die Stadt gegangen. Soldaten versperrten den Weg, es geht hier nicht lang, Richtung Magdeburger Allee hat die Rebellion begonnen. In der ganzen Stadt hat die Rebellion begonnen, es geht nur noch die Johannesstraße hinauf. Meine Geburtsstadt lag in seltsamen dunklen Licht. Soldaten spritzten Kinder mit Schläuchen weiß an, damit sie sich in der weißen Fassade dieses Hauses verstecken konnten. Die ganze Häuserfront bestand aus weißgefärbten Kindern, die sich kaum bewegten. Ich überlegte, ob das eine so gute Tarnung war. Wir gingen in ein italienisches Restaurant. Eine Maschine produzierte unaufhörlich grüne Nudeln, die sie in eine Lostrommel warf. Der Mann hinter dem Thresen sagte, wenn die erste blaue Nudel produziert ist, wird das Restaurant geschlossen. In einer Glasvitrine lag ein halber toter Mann, der langsam in einen Zerkleinerungsapparat gezogen wurde, wo er zu Teig für Pizza und Nudeln verarbeitet wurde. Der Mann hinter dem Thresen schöpfte aus der Lostrommel eine Handvoll blauer Nudeln. Es ist vorbei, wir nehmen keine Bestellungen mehr entgegen. Wir gingen einen Bergpfad entlang. Zwei Punks stritten sich um eine Jacke. Mein Freund versuchte zu schlichten. Ich wusste, dass das keine gute Idee war. Ich kannte diesen Moment. Es war der Moment, den ich nicht sehen wollte. Die Punks, in ihrer eigenen, verborgenen, meinem Freund unverständlichen Konversation gestört, wandten sich feindselig an ihn. Ich wusste, sie würden ihm auf brutalste Weise das Gesicht zerschlagen. Diese Szene war berühmt für ihre unerwartet heftige, brutale Härte. Ich drehte mich weg. Ich konnte nicht mitansehen, wie mein Freund zerdroschen wurde. Ich erwachte erneut. Die Vögel riefen, nun schon sehr zahlreich. Wie spät es auch immer sein mochte. Die Frau war nicht mehr zu hören. Auch der Hund hatte aufgehört zu bellen. Ich schwitzte im Nacken, mir war kalt. Ich drehte mich um und grub mich in die Decke. Drehte mich auf den Bauch, das Kissen an mich gepresst. Ich hörte in die Nacht. Ich dachte an meinen Freund und die berühmte brutale Szene. Ich stand auf und schaute auf die Uhr. Die Zeiger waren schlecht in der Dunkelheit zu erkennen. Halb sechs. Ich legte mich wieder hin, warf mich hin und her. Deutlich konnte ich den Lautsprechermuezzin der großen Moschee hören, er rief zum Morgengebet. Ein Auto fuhr eilig, vielleicht zum Gebet. Ich war nach Hause gekommen und fand ein Kätzchen ängstlich in der Ecke. Ich erzählte mir auf dem Bauch liegend alles noch einmal. Ich war nach Hause gekommen und ich schloss die Wohnung ab. Ich müsste das alles jetzt aufschreiben. Ich sollte jetzt aufstehen, das Licht einschalten und die ganze Geschichte von vorne aufschreiben. Ich war wach genug dafür, ich könnte diese Geschichte verstehen. Wie ich ihre Gedanken verstanden, aber nicht begriffen hatte, als sie mir vor ein paar Stunden gegenüber saß. Bevor ich nach Hause gekommen war und mich hin und her wälzte. Ich begann noch einmal von vorn. Ich war nach Hause gekommen und hatte meine Wohnung vorgefunden. Ich wusste, dass ich nichts aufschreiben würde. Jetzt nicht, später nicht. Ich würde weiter nur in die Nacht hören und immer wieder bei der Haustür beginnen. Ich war nach Hause gekommen und ein Kätzchen blickte mich mit enormen Augen an. Ich war nach Hause gekommen, bis ich erneut einschlief. Und ich erneut noch vor Tagesanbruch aufwachen würde. Ich wusste, dass ich aufwachen würde, als ich mich ins Bett legte. Ich wachte immer auf, wenn ich – nach Hause gekommen war. Deshalb wollte ich nicht ins Bett. Und dann das Liegen und Nicht-Einschlafen-Können. Warum war ich nach Hause gekommen. Ich drehte mich um und verfluchte diese lauten Vögel mit ihrem monotonen Rufen. Ich war nach Hause gekommen und auch die Frau ließ wieder ihre Lustschreie vernehmen. Der Kühlschrank drehte eine neue Runde. Der Muezzin war nicht mehr zu hören. Ich wälzte mich auf die andere Seite. Auf die andere Seite. Auf die andere Seite. Ich blieb lange liegen. Nach Hause gekommen, das Kätzchen, Nacht, die enormen Augen und das weiße Gesicht ihrer Gedanken. Ob ich sie geküsste hatte oder sie mich oder ob es nur ein über die Mundwinkel verrutschter Abschied gewesen war, ich war doch nach Hause gekommen. Und hörte in die Nacht aus meiner dunklen Ecke.

(23.IV.05)

Irkutsk/Ulica

350 Jahre Irkutsk!

Posted by Sascha Preiß on

Am 14. September fanden die offiziellen Feierlichkeiten zum 350. Jubiläum der Stadtgründung Irkutsks statt. Die 1661 am Angara-Ufer gegenüber der Mündung des Flusses Irkut – daher der Name – gegründete Kosakenfestung hat im Laufe ihrer recht kurzen Geschichte doch allerhand erlebt. Hervorzuheben sind dabei die schnelle Entwicklung zum Wirtschafts- und Verwaltungszentrum Ostsibiriens innerhalb eines Jahrhunderts, die unerwartete kulturelle Blüte aufgrund der verbannten Dekabristen, und nicht zuletzt die völlige Neugestaltung der Stadt nach dem verheerenden Brand von 1879. Mit Ausnahme des für den Baikalsee und die Streckenführung der TransSib folgenreichen Baus eines Wasserkraftwerks östlich der Stadt (1950-59) und manchem Kirchenabriss hat die sowjetische Ära vergleichsweise wenige gravierende Spuren im Stadtbild hinterlassen, weshalb Irkutsk eine gewisse sibirische Ursprünglichkeit bewahren konnte. Im Rahmen der Vorbereitungen zu den Geburtstagsfeierlichkeiten wurde das 130. Stadtquartal völlig umgestaltet (zwischen Dezember 2009 und Februar 2010 brannten 9 alte, bewohnte Häuser ab) und im historischen Stil zum Stadtgeburtstag neu eröffnet. Sämtliche Fassaden der Innenstadt wurden renoviert und neu gestrichen, alle Gehwege wurden neu verlegt und werden es z.T. noch immer. Letzteres allerdings sind Arbeiten, die Jahr für Jahr stattfinden, weil der sibirische Frost den Gehwegplatten ziemlich zusetzt. Darüberhinaus sind die Festlichkeiten, mit mehr als 5000 Polizisten gesichert, erstaunlich unfallfrei über die Stadtbühnen gegangen. Das darf ruhig weitere 350 jahre so bleiben.

Hier ein paar Bilder vom Volksfest auf dem zentralen Kirow-Square, unmittelbar vor Beginn des bis in die Nacht dauernden Festtagsprogramms: http://www.flickr.com/photos/51543792@N08/sets/72157627689259602/

Das Wetter/Ulica

Ein weiteres Hochlicht

Posted by Sascha Preiß on

Vor einem Jahr, ganz unerwartet, tauchte bzw trat in Irkutsk ein gewisser Thomas Anders auf, um mal wieder etwas von sich hören zu lassen. Ziemlich genau das Gleiche wird sich dieses Jahr im Oktober wiederholen. Angekündigt auf seiner Website (Meldung 22 vom 23.August) und mit einem einnehmenden, vorfreudigen Lächeln auf dem Plakat wird das Konzert als Best-Of-Show mit den unvermeidlichen „größten Hits der letzten 25 Jahre“ – und damit sind reichlich Lieder aus den Zeiten des Zeitgenössischen Gesprächs (Современный разговор bzw Modern Talking) inklusive.

Wie zeitgenössisch dieses Gespräch in Deutschland inzwischen geworden ist, verrät uns, die wir uns jederzeit brennend dafür interessieren, Spiegel Online mit einer Rezension zu Anders‘ demnächst erscheinender Autobiografie 100 Prozent Anders. Überraschenderweise ist es ein Ex-Kollege-Beschimpfungswälzer, wie es der Ex-Kollege vor Jahren auch schon konnte. Meine Neugier hält sich nun in Grenzen zu erfahren, ob man sich nach dem Irkutsker Konzert ins Russische übersetzte Exemplare vom Meistersänger wird signieren lassen können oder ob das russische Publikum, dessen allgemeiner Musikgeschmack eher zur Nostalgie neigt, irgendetwas von den Dieter-Thomas-Quärelen erfahren möchte und nicht lieber andächtig den alten Hits in neuer Showchoreografie beiwohnen möchte. Schließlich sind die beiden Gesprächigen der berühmteste und beständigste deutsche Musikexportschlager im russischen Riesenreich. Allein die Feierlichkeiten zum gestrigen Irkutsker Stadtjubiläum wurden mit einer You’re my heart, you’re my soul-Eurodanceversion eingeläutet. Bei so viel Ehre muss der Meister dann eben auch ab und an persönlich den Glanz guter alter Zeiten versprühen. Und es ist unbedingt davon auszugehen, dass dies nicht das letzte Mal gewesen sein wird.

Auf dass auch die nächsten 350 Jahre Irkutsk Anders leuchten mögen!

Allgemein

minimal story 15

Posted by Sascha Preiß on

Die alte Dame mit dem Kopftuch schaut etwas verwirrt unter den Bäumen am Straßenrand drein. „Haben Sie zwei Kinder gesehen, in Schulkleidung?“ Gestern war Tag des Wissens, der offizielle Schulbeginn in Russland. Es scheint, als vermisst sie die Kinder sehr. „Zwei Jungs, Burjaten wohl, jedenfalls nicht russisch. Die haben mit Steinen mein Fenster eingeworfen.“ Sie droht mit einer Faust und schaut in alle Richtungen. „Haben Sie die nicht gesehen? Das waren so nicht-russische Kinder, Russen machen das nicht.“ Sie schaut noch einmal in alle Richtungen der leeren Straße, dann geht sie davon.

Architektur/Ästhetik/Irkutsk/Ulica

Stadtentwicklung

Posted by Sascha Preiß on
Ästhetik/Das Wetter/Statistik/Ulica

Da kriegst die Motten

Posted by Sascha Preiß on

Schmetterlinge sind eine feine Sache. Wenigstens solange sie das tun, was man von diesen Viechern erwartet: möglichst bunt durch sommerliche Gegenden flattern und sich von Sammlern in Styropor-Glas-Vitrinen aufnadeln lassen. Dann gibt es aber leider auch noch Schmetterlinge, die irgendwie anders drauf sind und Ärger in der urbanen Botanik verbreiten. Seit Jahren schlägt man sich z.B. in Europa mit Miniermotten herum, welche vorrangig die erhabenen Rosskastanien zu unansehnlichen Greisen zerfressen. Zur Behandlung der kranken Bäume gehen Natur und Chemieindustrie eine ganz ansehnliche Symbiose ein (Sexuallockstoffe!), dass man glauben mag, der unansehnliche Falter möge sich eines Tages doch verpisst haben.

Vor einem ähnlichen Problem steht nun auf einmal Irkutsk: zum Auftakt der Tourismus-Saison spinnen irgendwelche dämlichen Schmetterlingsinsekten in der Stadt herum, im wahrsten Wortsinn.

Inwieweit sich die Irkutsker Stadtverwaltung mit subtil-biologischer Schmetterlings-bekämpfung beschäftigen wird, lässt sich zweifelsfrei erahnen: Für die Behandlung von ca 40.000 von Gespinstmotten befallenen Bäumen (Stand: 15.06.) stehen 700.000 Rubel zur Verfügung, ca. 17.500 Euro. Da es der mit der Behandlung beauftragte Dmitri Kakunin als stellvertretender Vorsitzender der Abteilung für Straßenbau und Transportwesen der Stadtverwaltung nicht so genau nimmt mit der biologischen Klassifizierung des Übeltäters – der Artikel spricht von Läusen, wobei das Krankheitsbild der vorrangig befallenen Apfelbäume sehr augenscheinlich nicht auf Läuse hindeutet -, wird sich wohl auch die Wahl der Bekämpfung auf entsprechend gezielte Maßnahmen beschränken: Chemie ist vergleichsweise effektiv, zudem schnell und billig. Und noch billigere Gastarbeiter erledigen eifrig alles, womit sich sonst niemand die Bronchien versauen möchte. Wie genau die Behandlung der massiv befallenen Bäume aussehen wird, ist aber noch längst nicht entschieden, für Sofortmaßnahmen lässt man sich sicherheitshalber 2-3 Wochen Zeit. Täglich sind damit mehr Bäume eingesponnen und die knapp bemessene Summe – bei 40.000 Bäumen kostete die Behandlung eines Baumes 2,30 € bzw 92 Rubel – schrumpft weiter. Bleibt zu hoffen, dass Irkutsk ähnliche Bilder wie aus dem kroatischen Osijek erspart bleiben, als man dort schnell und günstig gegen zu viele Mücken vorgegangen ist:

Fragen nach Ursachen des massiven irkutsker Befalls, insbesondere in den zentrumsfernen „Schlafsilobezirken“ Novo-Lenino und Irkutsk-2, sind im übrigen noch nirgendwo angesprochen worden. Aber muss ja auch nicht. So ein paar olle Schmetterlinge bekommt man schon irgendwie klein, wetten?