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Begraben/Transsib

Der Tote im Zug

Posted by Sascha Preiß on

Da fuhr einmal ein Zug von Wladiwostok nach Pensa und als er zwischendurch in Irkutsk ankam, wurde ein Reisender tot aufgefunden. Das ist leider alles.

Und damit dürfen Sie Ihren Assoziationen freien Lauf lassen: Stellen Sie sich vor, wir befinden uns im tiefsten Russland, unternehmen eine mythische Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Und im Nachbarabteil, unbemerkt von allen Mitreisenden, stirbt ein Mensch. Da kräuselt sich doch alles durch den Kopf: Von Höhepunkten des Kriminalfilms im 20. Jahrhundert zu Tiefpunkten des zeitgenössischen Russlandfilms aus westlicher Sicht. Alles, was mit unbekannten Toten in fahrenden Zügen zu tun hat, soll erlaubt sein. Daraus knüpfen wir uns schon eine mehr oder weniger stringente Geschichte zusammen, keine Angst. Oder vielleicht doch: Womöglich halten Sie es eher mit Horror oder aufregenden übersinnlichen Phänomenen, zudem jeder Menge unfreiwilliger Komik? Oder aber Ihnen steht der Sinn nach Realismus, ein bisschen was mit Psychologie und Sozialdrama, möglicherweise geht es um einen Handlungsreisenden (ein suizidgefährdeter Mann mit tragischer Familiengeschichte) oder Sie mögen es ganz und gar fantastisch: starb der Mann handlungsreisend durch verschiedene Roman/Theater/Filmhandlungen?. Oder aber Sie sehen das Ganze mehr so prosaisch und der Tote ist einfach nur einer von denen, die sich in Russland ja sowieso immer und überall zu Tode saufen. Wie wäre Ihnen die Geschichte am liebsten? Aber auf Fragen zu erfahren, wie die Geschichte wirklich war, darf nur mit Ja oder Nein geantwortet werden.

Poetisch-wundersamer Abspann.

Interkultur/minimal stories/Russland

minimal story 16

Posted by Sascha Preiß on

Auf dem Rückflug von einer Dienstreise. Neben mir ein redseliger Patriot, der dem Fremden von Russland erzählt: Es gibt Geschichten über freudenvolle Wodkaexzesse, die Frage, ob man in Deutschland auch in Dollar bezahlt, und die unwiderlegbare Behauptung, dass russische Mädchen mit Abstand die Schönsten sind. Der Mann ist älter und unverheiratet, er schwärmt für die junge Stewardess und die Schönheit in der Komsomolskaja Prawda. Zwei Reihen hinter uns steht der Pilot aus einem Gespräch mit einem Fluggast auf, er müsse jetzt doch mal die Landung einleiten, das sei überfällig. Mein monologischer Gesprächspartner begeistert sich und brüllt aus vollster patriotischer Kehle mir ins Ohr: „Das ist Russland, nur keine Panik! Wenn du zurückkommst nach Deutschland, musst du unbedingt erzählen, dass hier das Land der Wunder ist: Man asphaltiert zuerst die Straße, und dann legt man die Rohre.“

Ästhetik/Interkultur/Russland

Ein typisch deutsches Tor

Posted by Sascha Preiß on

Sportliche Wettbewerbe zwischen Nationen haben ihren ganz besonderen Reiz. Es ist die Zeit des folkloristischen Patriotismus, nationale Klischees und Stereotypen sollen und dürfen hemmungslos ausgelebt werden. Für Fußballspiele internationaler Wettbewerbe kleiden sich Tausende in Trachten gemäß Angebot der regionalen Sportartikelhersteller und schminken sich ihre Landesflaggen auf alle möglichen Körperteile. Und weil die Fußballspieler auf dem Rasen als Nationalmannschaft auflaufen, ist ihr Spiel selbstverständlich stets Ausdruck eines (sportlichen) Nationalcharakters: die Kultur eines Landes offenbart sich immer und überall.

Das jedenfalls muss sich der russische Kommentator für die Live-Übertragung des Qualifikationsspiels Türkei – Deutschland am 7.Oktober 2011 in Istanbul gedacht haben. Seine Beschreibung und Analyse des von Thomas Müller erzielten 2:0 ist eine wunderschöne Definition dessen, wie Deutschland von Russland aus gesehen wird: Mit Bewunderung, aber ohne Begeisterung, weil Deutschland eine Aura klinischer Strenge umgibt. Während der Angriff, der zum zweiten deutschen Tor führt, vorgetragen wird, philosophiert der Kommentator darüber, was Joachim Löw am heutigen Spiel seiner Mannschaft alles nicht gefallen könnte. Doch als es plötzlich 0:2 steht, folgt die Analyse, gleichsam eine Epiphanie deutschen Nationalcharakters.

Der Wortlaut des Kommentars ab Sekunde 16 im Video: „Ein typisch (reines) deutsches Tor, wieder einmal. Wobei das in erster Linie nicht nur auf die Ausführung des gesamten Angriffs zutrifft, den haben die Deutschen wieder einmal ziemlich frisch vorgetragen, so wie die deutsche Auswahl derzeit spielt. Aber dann der letzte Schuss von Müller – das ist ein typisch deutsches Tor. Ohne irgendwelche Effekte, ohne besondere zusätzliche…. wie kann man das sagen… Schönheiten, oder so. Einfach Müller, ganz exakt, und mit dieser chirurgischen Genauigkeit rollt der Ball ins lange Eck.“

Ich finde das einen nachahmenswerten Ansatz für die Entwicklung der Sportreportage. Keine Analyse nach sportlichen Gesichtspunkten, sondern ein Hohelied auf nationale Charakteristika. Sollte sich die russische „Sbornaja“ für die EM 2012 in Polen und der Ukraine qualifizieren, wonach es derzeit aussieht, werde ich mich also bereits jetzt auf Reportagen freuen wie: „Ein Tor wie im Wodkarausch! Eine klassisch russische Ballstafette, matroschkahaft und balalaikaleicht dargeboten, ein wütend tänzelnder und kaum mehr nachvollziehbarer Weg durch die russischen Instanzen. Und der Abschluss von (Arschawin z.B.) gelang herrlich besoffen und voll des Glanzes orthodoxer Zwiebeltürme…..“